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# taz.de -- Ein Jahr nach Tod von George Floyd: Zeit für Forderungen
> Seit Floyds Tod geht Black Lives Matter verstärkt auf die Straße. Doch
> systematische Unterdrückung von BIPoC wird nicht allein mit Demos
> beendet.
Bild: Am 25. Mai 2020 wurde George Floyd von dem weißen Polizisten Derek Chauv…
Boulder taz | Wir knien auf dem Vorplatz des Gerichtsgebäudes in Boulder,
Colorado. Wir, das sind mein weißer deutscher Lebensgefährte, eine weiße
amerikanische Bekannte und ich – die Tochter einer Afroamerikanerin und
eines weißen Deutschen. Wir sind von vielen anderen Menschen umgeben, die
an einem Juniwochenende im letzten Jahr dem Aufruf zu einer Demonstration
für schwarze Leben gefolgt sind.
Vor dem Strafprozess gegen den [1][weißen Ex-Polizisten Derek Chauvin] ging
man noch davon aus, dass dieser heute vor genau einem Jahr in Minneapolis,
Minnesota 8 Minuten und 46 Sekunden auf George Floyds Hals kniete und ihn
damit tötete. Zu Beginn der Demo sollen die Teilnehmenden daher genauso
lange kniend schweigen. Tatsächlich waren es 9 Minuten und 29 Sekunden,
aber das wusste man damals noch nicht. Irgendwann laufen mir Tränen über
das Gesicht, als ich mir vorstelle, dass das, was wir hier gerade tun –
knien –, für George Floyd mit dem Tod endete.
Als wir uns erheben, schaut meine Bekannte mich an und fragt, weshalb ich
geweint habe. „Weil George Floyd getötet wurde“, sage ich halb fragend mit
unterdrückter Verärgerung. Was für eine dämliche Frage. Die Kundgebung
beginnt, alle Redner:innen sind schwarz. Eine gibt zu bedenken, dass die
Tötung George Floyds durch die Polizei kein Einzelfall und sie als schwarze
Mutter jeden Tag um das Leben ihrer beiden Söhne besorgt sei. Sie lebe
deswegen in ständiger Angst, und das im Gegensatz zu weißen Eltern. Dies
sei auch Teil des white privilege. Der Demonstrationszug durch die
Innenstadt beginnt.
## „Ihr Weißen seid das Problem“
Am darauffolgenden Tag findet eine weitere Demo statt, die offizielle
Black-Lives-Matter-Demo, organisiert von örtlichen Mitgliedern der
Bewegung. Ort und Ablauf sind identisch, aber doch unterscheidet sich diese
Demo sehr von der am Tag zuvor. Dies heute sei die richtige Demo, denn im
Vergleich zur gestrigen wurde sie von Black Lives Matter und nicht von
weißen Leuten organisiert, sagt der Moderator gleich zu Beginn. „Ihr Weißen
seid das Problem – ihr alle“, herrscht er wenig später die Menge an.
So und mit noch drastischerer Wortwahl gehen die anschließenden Reden
weiter und es vergehen ganze drei Stunden, bis wir loslaufen. Wir, das sind
an diesem Tag nur noch mein Freund und ich. Ich schaue mich in der Menge um
und blicke in durch Dauerbeschimpfung beschämte, maskierte weiße Gesichter.
Um Scham zu erkennen, reicht es aus, nur die Augen zu sehen. Wann immer die
anwesenden Weißen, die deutlich in der Überzahl sind, von den verschiedenen
schwarzen Redner:innen angegangen werden, klatschen sie Beifall – white
guilt, weiße Schuld in Echtzeit. Ich klatsche nicht und sehe meinen Freund
an, der verunsichert scheint. Nie zuvor wurde ihm pauschal sein Weißsein
vorgeworfen. „Du musst nicht klatschen“, sage ich.
Vor dem Loslaufen gibt der Moderator letzte Anweisungen, welche Parolen die
Weißen nicht rufen dürfen, unter anderem „I can’t breathe“ – diese se…
nur den BIPoC vorbehalten. Außerdem werden alle BIPoC dazu angehalten, den
Demonstrationszug anzuführen: „Wir laufen vorneweg und ihr Weißen lauft
hinter uns her!“ „Willst du vorne mitlaufen?“, fragt mein Freund. „Nein,
wir laufen zusammen“, ist meine Antwort. Ich hätte es nicht für möglich
gehalten, dass ausgerechnet auf einer Black-Lives-Matter-Demo BIPoC und
Weiße, die diese unterstützen, voneinander getrennt werden.
Es wird oft gesagt, dass die Frage nach dem Richtig oder Falsch nicht
leicht zu beantworten sei. Aber im Fall der zuletzt genannten
Black-Lives-Matter-Demo ist der Sachverhalt klar: Es war falsch, die
anwesenden Weißen pauschal anzupöbeln und für den Rassismus im Land
mitverantwortlich zu machen. Nicht die Weißen, die zu
Black-Lives-Matter-Demos gehen, sind das Problem, sondern die, die in
dieser Zeit zu Hause sitzen, Fox News schauen und sich von dessen
haarsträubenden Lügen verblöden und radikalisieren lassen.
## White Supremacy beenden
Fox News ist nicht etwa ein rechter Spartenkanal – es handelt sich hierbei
um den seit [2][Jahren quotenstärksten TV-Sender der USA]. Dort wurden im
letzten Sommer in Dauerschleife Bilder von Black-Lives-Matter-Protesten
gezeigt, auf denen es zu Ausschreitungen kam, zu Brandstiftungen und
Plünderungen. Dabei wurde natürlich nicht erwähnt, dass [3][93 Prozent der
Demos friedlich verliefen] und die Gewalt teilweise von Rechtsradikalen
verübt wurde. Stattdessen wurde die Black-Lives-Matter-Bewegung im rechten
Knallchargen-TV immer wieder als Terrororganisation diffamiert.
Die Black-Lives-Matter-Bewegung existiert nicht erst seit letztem Jahr,
sondern wurde bereits 2013 von den Afroamerikanerinnen Alicia Garza,
Patrisse Cullors und Opal Tometi gegründet. Anlass war der Freispruch eines
selbsternannten „Nachbarschaftswächters“, der 2012 in Florida den
17-jährigen Schwarzen Trayvon Martin erschoss. Inzwischen ist Black Lives
Matter die größte Antirassismusbewegung der USA seit der
Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre und mit 15 bis 26 Millionen
Menschen, die im letzten Sommer demonstrierten, wohl die größte Bewegung
der bisherigen US-Geschichte.
Rassismus und white supremacy, weiße Vorherrschaft, zu beenden, ist ihr
Ziel. Dem verleiht sie Sichtbarkeit und mediale Aufmerksamkeit. Aber es
wird nicht möglich sein, ein System der Unterdrückung von BIPoC, das seit
der Gründung der USA besteht, allein mit Demonstrationen zu beenden. Die
rassistische Gesinnung von Menschen kann man nicht ändern, Menschen können
nur selbst beschließen, sich zu ändern. Das Handeln dagegen lässt sich von
außen beeinflussen – und genau hier müsste angesetzt werden.
## Konkrete Forderungen müssen her
Frederick Douglass, Abolitionist, Schriftsteller, Aktivist, Redner, ehemals
versklavt und einer der einflussreichsten Afroamerikaner:innen des
19. Jahrhunderts, sagte 1857: „Macht gesteht nichts zu ohne eine Forderung.
Das hat sie nie und das wird sie nie.“ Er hat recht und dieses Zitat ist
heute genauso aktuell wie damals. Zu verlangen, dass der Rassismus, der,
wie für George Floyd, schlimmstenfalls tödlich enden kann, aufhören soll,
ist ein Wunsch und keine Forderung.
Es müssen endlich konkrete Forderungen her, die über das unbeholfene
„Defund the Police“, also der Polizei die Gelder streichen, hinausgehen.
Unbeholfen deshalb, weil mit der radikal klingenden Forderung eigentlich
nur die Umverteilung von Mitteln gemeint ist – mehr für Sozialprogramme,
weniger für die Polizei. Auch verfügt die heutige Bewegung, im Gegensatz
zur Bürgerrechtsbewegung, über keine feste Führungsstruktur. Das
Führungsteam der Bürgerrechtsbewegung, dessen bekanntester Vertreter Martin
Luther King Jr. war, trat auch im Namen der Bewegung auf und initiierte
Boykotte.
Doch durch die Kraft der Bilder führte George Floyds Tod nicht nur in den
USA, sondern weltweit zu Demonstrationen gegen Rassismus und Polizeigewalt
– [4][auch in Deutschland]. Den Bildern nach zu urteilen, liefen die Demos
so ab wie die erste Demo in Boulder: Menschen unterschiedlicher ethnischer
Herkunft demonstrierten gemeinsam, nicht getrennt gegen rassistische
Polizeigewalt.
## Es bedarf gesetzlicher Grundlagen
Und wie ist heute der Stand des öffentlichen Diskurses in Deutschland? Er
dreht sich hauptsächlich um Alltagsrassismus, die richtige Wortwahl, dass
man nichtweiße Menschen nicht fragen soll, woher sie kommen, dass die
koloniale Vergangenheit Deutschlands nie aufgearbeitet wurde. Diese
Diskurse haben ihre Berechtigung, aber was sind die konkreten umsetzbaren
Forderungen? Soll rassistisches Denken aufhören, damit demzufolge auch
rassistisches Handeln eingestellt wird?
Die Gedanken sind frei, auch die rassistischen. Also muss man sich auf
Letzteres konzentrieren: Es bedarf gesetzlicher Grundlagen, die
rassistisches Handeln verbieten und sanktionieren. Struktureller Rassismus
auf staatlicher Ebene wird nicht nur vonseiten der Polizei verübt, auch in
der Schule werden Schüler:innen mit Migrationsgeschichte diskriminiert.
Und auch der private Sektor steht dem Staat in nichts nach, und so kommt es
nachweislich zu massiver rassistischer Diskriminierung auf dem Arbeits- und
Wohnungsmarkt.
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz reicht nicht aus, denn es regelt im
Wesentlichen die Rechtsfolgen im Diskriminierungsfall. Stattdessen braucht
jeder Sektor spezielle Gesetze, die konkrete Handlungsvorgaben machen und
bei Verstößen empfindliche Bußgelder vorsehen. Es ist an der Zeit, das
rassistische Handeln in die Knie zu zwingen und ihm die Luft zum Atmen zu
nehmen.
25 May 2021
## LINKS
[1] /Urteil-im-Fall-George-Floyd/!5768124
[2] https://www.reuters.com/article/us-fox-news-ratings-idUSKBN2A2351
[3] https://time.com/5886348/report-peaceful-protests/
[4] /Black-Lives-Matter-Demo-in-Berlin/!5693097
## AUTOREN
Johanna Soll
## TAGS
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