# taz.de -- Viola Priesemann zu Coronamutationen: Eine Warnung trotz besserer Z… | |
> Vor dem Coronagipfel werden Forderungen nach lockereren Regeln lauter. | |
> Physikerin Viola Priesemann mahnt zur Geduld. | |
Bild: Noch ein bisschen länger: Die Infektionszahlen müssen weiter runter, sa… | |
Berlin taz | 50 gemeldete Infektionen mit dem [1][Coronavirus] auf 100.000 | |
Menschen innerhalb einer Woche – diese Sieben-Tage-Inzidenz hatte die | |
Politik selbst als Faustformel genannt, um über Lockerungen nachzudenken. | |
Nun nähert sich Deutschland diesem Wert: Lag er vor Weihnachten noch bei | |
knapp 200, waren es am Dienstag nur noch 73. Wenn am Mittwoch sich | |
Kanzlerin und Ministerpräsident*innen der Länder erneut zum | |
Bund-Länder-Gipfel treffen, um über die weiteren Maßnahmen zu entscheiden, | |
sind die Erwartungen entsprechend hoch, dass Schulen und Geschäfte nach | |
fast zwei Monaten der Schließung rasch wieder öffnen können. | |
Doch für die Entscheidungsträger ist ein weiteres Problem dazugekommen. | |
Denn inzwischen hat sich herausgestellt, dass eine noch sehr viel | |
ansteckendere Variante [2][sich auch in Deutschland ausbreitet]. Ende | |
Januar machte sie laut RKI rund 7 Prozent aller Infektionen aus, in | |
Süddeutschland wurde letzte Woche schon sehr viel höhere Zahlen gemessen. | |
Die Zahlen auf 50 zu drücken, um lockern zu können, reiche darum | |
keinesfalls, warnen daher Wissenschaftler*innen, darunter die Physikerin | |
Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation | |
in Göttingen. | |
Sie wirbt wie Kollegen an anderen Forschungsinstituten um Geduld. „Es wäre | |
besser, sehr vorsichtig zu sein. Die Fallzahlen der neuen Variante steigen | |
und sind inzwischen in manchen Regionen bei 30 Prozent.“ Bald werde man | |
diesen Anstieg dann auch in der Gesamtzahl der Fälle sehen, warnt | |
Priesemann im Gespräch mit der taz. „Lockert man zu früh und zu schnell, | |
ist der Erfolg bald wieder verspielt.“ | |
Dabei kann die Wissenschaftlerin die Ungeduld vieler Bürger*innen | |
durchaus nachvollziehen. Tatsächlich hat sich ihren Berechnungen zufolge | |
nur ein kleiner Teil der Bevölkerung in Deutschland infiziert. „Von 100 | |
Bekannten aus dem eigenen Umfeld waren statistisch gesehen nur etwa 3 | |
positiv“, rechnet Priesemann vor. Und von den nachgewiesenen Infizierten | |
wiederum sterben weniger als 3 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit für jede*n | |
Bundesbürger*in, in seinem unmittelbaren Umfeld jemanden zu kennen, der an | |
Covid-19 verstorben ist, sei daher gering. | |
„Und dafür machen wir die Wirtschaft kaputt?“, lautet eine Frage, die auch | |
Priesemann häufig gestellt wird. Ihre Antwort: „Das heißt trotzdem nicht, | |
dass nicht viele Menschen daran leiden und versterben, wenn wir das Virus | |
einfach durchlaufen lassen würden.“ | |
Ohne Gegenmaßnahmen würde sich ein großer Teil der Bevölkerung mit dem | |
Coronavirus infizieren, sagt die Physikerin. Denn bei den 50- bis | |
75-Jährigen bräuchten ohne Impfung 1 bis 4 Prozent der Patient*innen, also | |
250.000 bis 1 Million Menschen, irgendwann ein Bett auf den | |
Intensivstationen. „Das würde kein Gesundheitssystem aushalten“, sagt | |
Priesemann. „Deswegen müssen wir weiter eindämmen.“ | |
Doch ab wann wären aus ihrer Sicht Lockerungen möglich? In den vergangenen | |
Wochen haben Ministerpräsident*innen und auch Teile der | |
Bundesregierung den Eindruck erweckt, sobald die Inzidenz unter die | |
Schwelle von 50 sinke, könne man die Dinge entspannt betrachten. | |
Die 50er-Marke wurde im Sommer jedoch als Warnwert definiert, oberhalb | |
dessen unbedingt Gegenmaßnahmen ergriffen werden müssten. Dieser Wert war | |
das Ergebnis eines Kuhhandels. Einige Bundesländer hatten deshalb einen | |
Wert von 35 bereits als Wert festgelegt, ab dem dringend gehandelt werden | |
müsse. | |
Wo die Obergrenze der Kontaktnachverfolgung liegt, hängt Priesemann zufolge | |
davon ab, wie viel Kontakte die Menschen hatten. Der Städtetag meint, | |
Kontaktverfolgung sei auch über einem Wert von 50 möglich. Priesemann ist | |
skeptisch. „Während des Lockdowns können die Gesundheitsämter das | |
vielleicht schaffen. Aber je mehr Kontaktmöglichkeiten man wieder zulässt, | |
desto aufwendiger wird entsprechend die Kontaktnachverfolgung“, so die | |
Physikerin. „Wir wissen aus dem Herbst, dass dieser Kipppunkt bei etwa 10 | |
und 20 lag. Deswegen sollte das unser Zielwert sein.“ | |
Möglichkeiten gibt es ihrer Ansicht noch. Gegenwärtig befinde sich | |
Deutschland allenfalls in einem „Dreiviertel-Lockdown“, sagt die | |
Wissenschaftlerin. Vor allem im Arbeitsleben gebe es noch Spielraum, ohne | |
die Wirtschaft auszubremsen. „Viele Nachbarländer und Landkreise zeigen, | |
dass es möglich ist, die Fallzahlen zügig zu senken und deutlich unter die | |
50 zu kommen.“ | |
Priesemann hält es für durchaus möglich, bei 50 leicht zu lockern, aber nur | |
in den Bereichen, wo eine Kontaktverfolgung eindeutig möglich ist. | |
Präsenzunterricht an Schulen in festen kleinen Gruppen etwa gehöre dazu, | |
größere Menschenansammlungen wie bei Feiern nicht. Und auch die von einigen | |
Bundesländern eingebrachten Stufenpläne hält Priesemann für einen wichtigen | |
Vorstoß. „Es sind gute Vorlagen.“ Sie bräuchten aber eine Notbremse. Soba… | |
die Fallzahlen den Grenzwert übersteigen, müssten Instrumente zur Verfügung | |
stehen, die Ausbreitung wieder konsequent einzudämmen. | |
Dafür sei es am besten, mit konsequenten Maßnahmen gleich so zügig wie | |
möglich zu reagieren und in allen Bereichen gleichzeitig, damit die | |
Fallzahlen schnell wieder sinken. Ein kurzer Lockdown von 2 oder 3 Wochen | |
kann jeder ganz gut abfangen, sagt sie. „3 Monate sind das, was ermüdend | |
ist.“ | |
9 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Felix Lee | |
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