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# taz.de -- Ein Monat nach dem Handelsvertrag: Jede Gitarre kostet extra
> Die Folgen bekommen britische Unternehmer zu spüren, die in der EU
> Geschäfte machen. Auch die Musikbranche leidet.
Bild: Auch Elton John wirbt für eine Visaregelung für Kulturschaffende
London taz | Eigentlich singt Justin Lieder, die beruhigend wirken. Seit
2004 tourt der Singer-Songwriter, der seinen richtigen Namen nicht genannt
sehen will, international. Corona brachte seine Arbeit zum Stillstand. Aber
auch nach der Pandemie, wird nichts mehr so sein wie früher.
[1][Zum Jahreswechsel hat Großbritannien den EU-Binnenmarkt verlassen],
Freizügigkeit für Brit*innen in der EU gibt es nicht mehr. Wenn Justin
wieder in die EU auf Tournee geht, wird er für jedes Land ein eigenes
Arbeitsvisum brauchen und ein Zollcarnet für seine Instrumente. Alles
zusammen kostet mehr als 500 Euro, teurer als seine Gage für einen
Auftritt. „Das bedeutet das Ende kleiner spontaner privater Konzerte, für
die ich mich in ein Billigflugzeug setzte oder in den Zug“, klagt er.
Viele Bühnenkünstler*innen fühlten sich verunsichert, erzählt Keith
Ames [2][von der britischen Musiker*innengewerkschaft (MU).] Seit
vier Jahren versuchte die Organisation, das Schlimmste zu vermeiden, etwa
mit einem EU-weiten Künstler*innenpass, doch daraus wurde nichts. Ames
erläutert, dass für Orchester die Kosten noch mehr steigen, denn die
Gebühren gelten pro Person und pro Instrument. Wenn sich keine Lösung
anbahnt, prophezeit Ames eine Katastrophe.
## Spediteure klagen über Leerfahrten
Ein gemeinsamer Brief der Crème de la Crème der britischen Musik, von Elton
John bis Johnny Rotten, scheint das Thema auf die Agenda in Brüssel und
London gesetzt zu haben. Ames rechnet mit bilateralen Übereinkommen
zwischen einzelnen EU-Staaten und dem Vereinigten Königreich. Doch Justin
fährt derweilen einen Kleinlaster, um sich finanziell über Wasser zu
halten.
Für Lkw-Fahrer*innen zwischen der EU und Großbritannien hat der Vollzug des
Brexits zum Jahreswechsel so manche Überraschungen gebracht. Fast 30 Jahre
hat Lorenzo Zaccheo zusammen mit seinem Sohn seine Spedition Alcaline UK
aufgebaut. Mit 200 Angestellten, Hunderten Lastwagen und Anhängern,
Zweigstellen in den Niederlanden und in Italien, ja sogar zwei
Hubschraubern, glaubte er bisher alles richtig gemacht zu haben. Doch nun
steckt er in einer beispiellosen Krise, sagt Zaccheo und fühlt sich
alleingelassen. „Wegen der neuen Probleme an der Grenze verlieren wir
täglich umgerechnet 23.000 Euro, und Unterhausführer Jacob Rees-Mogg
erzählt uns, dass britische Fische nun glücklich seien.“ Das sei doch das
Letzte, keift Zaccheo.
Zwar gibt es keine Zölle – aber Kontrollen und Papierkram, und darauf
wurden die Speditionen nicht vorbereitet. „Selbst wenn sie glauben, die
richtigen Papiere zu haben, können sie nicht damit rechnen, ohne
Hindernisse über die Grenze zu kommen“, erzählt Zaccheo über die
Erfahrungen seiner Fahrer*innen. Manche warteten stundenlang in Calais,
nur um nach Schichtwechsel gesagt zu bekommen, die Papiere seien in
Ordnung. „Bis Dezember konnten wir in 20 Stunden in Italien sein, jetzt
schaffen wir manchmal nicht mal ein paar Dutzend Kilometer in der gleichen
Zeit.“ Waren stünden manchmal 12 Tage herum. Und 25 Prozent der Fahrten auf
den Kontinent seien nun Leerfahrten – vor Januar waren es 6 Prozent. „Das
kostet uns nicht nur extra. So werden auch sinnlos Emissionen ausgestoßen.“
Eine Umfrage des britischen Chartered Institute of Procurement & Supply
(CIPS) unter 185 Unternehmen bestätigt: 60 Prozent der Befragten erfuhren
im Januar Verzögerungen ihrer Exporte in die EU, 37 Prozent für mehrere
Tage. Was Lösungen angeht, schimpft Zaccheo, die Internetseiten der
Regierung zu den neuen Regeln seien „völliger Schrott“, ans Telefon ginge
sowieso niemand und wenn doch, werde man nur auf das Internet verwiesen.
Simon Spurrell, Direktor der Cheshire Cheese Company in Macclesfield,
wusste zwei Wochen lang nicht, was los war, als plötzlich Pakete, die die
Firma in die EU geschickt hatte, wieder zurückkamen – bis der Zusteller DHL
auf neue Regelungen verwies. „Wir haben gerade ein riesiges Lager in
Cheshire aufgemacht, weil wir 2019 ein Wachstum von 400 Prozent verbucht
hatten. Da wir nicht nur in 15 EU-Länder liefern, sondern auch in die USA
und nach Kanada und Japan, dachten wir, dass wir mit unsere Erfahrung wenig
Probleme haben würden“, berichtet Spurrell der taz.
## Auch die Regeln zu kennen bringt wenig
Nun aber stellte sich heraus, dass er ein Ausfuhrdokument benötigt, das
umgerechnet etwa 200 Euro koste, egal wie klein die Versandmenge ist. Nun
muss sich Spurrell entscheiden: Lässt er von den Neuinvestitionen in
Cheshire ab und baut ein Zwischenlager in der EU, oder bläst er den
EU-Handel ab und konzentriert sich auf die USA, wo es für kleine
Bestellungen keine vergleichbar große Bürokratie gibt?
So manche britische Unternehmen denken über Zweigstellen in der EU nach.
Spediteur Zaccheo erwägt einen Abgang in die Niederlande, was jedoch
Fahrten von und nach Großbritannien auch nicht vereinfacht.
Die Frage, ob die Probleme sich verringern, wenn nach und nach alle mit den
Regeln vertraut werden, verneint Zaccheo: Der Verkehr nehme jetzt erst zu.
Im Januar arbeiteten viele Firmen noch mit den Vorräten, die sie Ende 2020
für den Fall eines No-Deal-Brexit angelegt hatten. Andere verzögerten
Bestellungen. Doch allmählich erreicht der Handel Normalniveau.
Die EU kontrolliert britische Waren seit dem 1. Januar. Großbritannien
hingegen winkt Waren aus der EU noch bis Ende Juni durch, ohne Kontrollen.
Der Verband der britischen Schweinezüchter (NPA) klagt, dass dies den Markt
verzerre. 30 Prozent aller exportierten Schweineprodukte würden jetzt von
der EU geprüft – gleichzeitig kommen billige Schweineprodukte aus der EU
ohne Kontrollen nach Großbritannien. Der Preis für britisches Schwein liege
nun 12 Prozent unter dem vom letzten Jahr.
## In Schottland blieb ein riesiger Fischmarkt nahezu leer
NPA-Berater Charlie Dewhirst zitiert einen Artikel aus dem Handelsabkommen,
wonach „Einfuhrüberprüfungen nur so weit ausgeführt werden sollen, wie sie
zum Schutz von Leben und Gesundheit von Menschen, Tier und Pflanzen
notwendig sind, ohne unnötige Verzögerungen und mit minimalen Auswirkungen
auf den Handel zwischen den beiden Seiten“. Er meint, dass dies nicht von
beiden Seiten gleichmäßig eingehalten werde.
Eine der größten Krisen ist derweil in der Fischerei entstanden –
ausgerechnet jenem Punkt, an dem ein Abkommen zuletzt fast gescheitert
wäre. Britische Fischer*innen haben nun mehr Fischereirechte – aber
Fischexporte in die EU sind komplizierter. Bürokratie und falsche
Code-Nummern haben so manche frische Fänge verderben lassen. Manche
Unternehmen machten sich schließlich gar nicht mehr die Mühe, zu fangen
oder zu liefern.
Der größte Fischmarkt Europas im schottischen Peterhead blieb zeitweise
nahezu leer, anstatt 10.000 Boxen Fisch und Meeresfrüchte zählten Anwesende
an einem Tag nur 400. Die Engpässe führten zu Protesten der Fischer im
Londoner Regierungsviertel. Als Antwort machte Premierminister Boris
Johnson ein Finanzpaket von umgerechnet 26 Millionen Euro locker.
## Für manche könnten die Hilfen zu spät kommen
Der schottische Fischereibetrieb Jack Taylor liefert nicht in die EU, wohl
aber nach Nordirland, und dort gab es auch Probleme, berichtet ein
Angestellter der taz. Damit Nordirlands Grenze zur Republik Irland offen
bleibt, werden Warentransporte von Großbritannien nach Nordirland
kontrolliert, was zeitweise für Lieferengpässe in nordirischen
Supermärkten sorgte. „Inzwischen haben wir jedoch den Durchblick“, sagt der
Angestellte.
Jimmy Buchan, Geschäftsführer der schottischen Vereinigung für Fisch und
Meeresfrüchte (SSA), gab sich gegenüber der taz sogar zuversichtlich. „Es
ist besser geworden, jeder Tag ist ein Lerntag.“ Die Ausfuhrerklärungen
seien aber nach wie vor kompliziert. Hier könnte es durchaus Verbesserungen
geben, sagt Buchan, etwa mit Onlineformularen, bevor die Produkte überhaupt
an die Grenzen kämen.
Dafür hat die britische Regierung einen Arbeitsstab gebildet. Buchan hofft
aber vor allem auf Gespräche zwischen London und Brüssel. Er ist nicht der
Einzige, der glaubt, dass vor allem das Ende der britischen „Gnadenfrist“
für Importe aus der EU für Bewegung sorgen werde.
Für manche könnte das zu spät sein. Der 72-jährige Glasaalhändler Peter
Wood mit seiner Firma UK Glass Eels am Severn-Fluss bei Gloucester wurde
bisher von 350 lizenzierten Fischer*innen beliefert. [3][Aale sind in
der EU artengeschützt. Innerhalb der EU dürften sie gehandelt werden, aber
Importe aus Drittstaaten sind verboten] – und nun ist Großbritannien
Drittstaat.
„Dass das europäische Geschäft mit den Aalen zusammenbrechen würde,
erfuhren wir erst zwei Tage vor Weihnachten“, berichtet Wood. Seit mehr als
113 Jahren würden englische Aale auch zu Aufzuchtzwecken nach Deutschland
gebracht, sagt er. Doch nun müssten EU-Artenschützer nach anderen Aalen
suchen, obwohl Wood rechtlich bereits 60 Prozent seiner Aale an den
Artenschutz abgeben müsse. „Wenn die Aale hierbleiben, werden sie einfach
sterben, denn das Habitat ist zu klein für die Zahl der Aale, die die
Strömung hierherträgt.“
31 Jan 2021
## LINKS
[1] /Handelsabkommen-zwischen-UK-und-EU/!5740545
[2] https://musiciansunion.org.uk/
[3] /Tod-durch-Ueberfischung/!5467619
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
## TAGS
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