# taz.de -- Lkw-Verkehr nach dem Brexit: Der Frust fährt mit | |
> Erst Corona, dann Brexit – jetzt ist die britische Grenze dicht. Unser | |
> fünftägiger Roadtrip mit einem Mann, dem die EU nichts gebracht hat. | |
Bild: Tagelang ist Fischer mit seinem Jumbo-LKW unterwegs | |
Samstag, 9 Uhr, Dagenham, Ostlondon | |
Für Axel Fischer bedeutet der Brexit erst mal Warten. An diesem Samstag ist | |
es 16 Tage her, dass Großbritannien die EU verlassen hat, jetzt kriegt | |
Fischer die Folgen zu spüren. Seit sechs Tagen ist er unterwegs. Eigentlich | |
wollte er in Dagenham nur kurz halten, um seine Zollpapiere abzuholen. Doch | |
Wayne, der Zollagent, der seine Zollpapiere fertig machen sollte und ihn | |
jetzt im zweiten Stock des Speditionsgebäudes hinter einer Plexiglasscheibe | |
empfängt, muss ihn enttäuschen. Die Papiere für die Mikrowellen, die | |
Fischer von Nordwales nach Gütersloh bringen soll, liegen bei den | |
Behörden. Wann sie von dort zurückkommen, könne er nicht sagen. | |
In der Fahrerkabine seines Lkws lehnt sich Fischer auf seinem Schwingsitz | |
zurück. Er verschränkt die Hände hinter dem Kopf. Er trägt seine | |
Arbeitskleidung, graue Jeans, dunkelblauen Pullover, neongelbe Warnweste. | |
Sein grauer Kinnbart hat sich seit Beginn der Tour auf die Wangen | |
ausgebreitet, seine Brille sitzt etwas schief, die Kappe hat er tief ins | |
Gesicht gezogen. Resigniert schaut er über den mit Lkw-Anhängern | |
zugeparkten Speditionsparkplatz. | |
Morgen feiert Fischers Frau ihren 59. Geburtstag, es soll einen Brunch | |
geben. Fischer will deshalb eigentlich heute Abend in Hiddenhausen, Kreis | |
Herford, zurück sein. Wenn Wayne nicht in den nächsten Stunden mit fertigen | |
Papieren an die Fahrerkabine klopft, wird daraus nichts. „Das Stehen macht | |
mir nichts, wenn ich genau weiß, wie lange – wenn ich weiß, dann und dann | |
geht’s weiter“, sagt Fischer. „Aber diese Ungewissheit, die zermürbt.“ | |
## Er wartet mal wieder | |
Am 1. Januar 2021 ist mit dem [1][endgültigen EU-Austritt Großbritanniens] | |
eine neue Grenze in Europa entstanden. Lkw-Fahrer Axel Fischer gehört zu | |
denen, die die Folgen dieser historischen Entscheidung direkt zu spüren | |
bekommen. Aber auch zu denen, die die Entscheidung der Briten verstehen | |
können. Die EU habe ihm persönlich nichts gebracht, sagt er. | |
Einen Tag zuvor, 6 Uhr, Crewe, Nordengland | |
Fischer, 60, steht vor den Toren einer Lagerhalle und wartet auf Stan. Der | |
ist heute spät dran. Eigentlich sollten die sechs Luxusautokarosserien aus | |
Leipzig, die Fischer hierhergefahren hat, jetzt ausgeladen werden. Um zwei | |
Uhr morgens ist Fischer in London losgefahren, um den Termin zu schaffen. | |
Jetzt wartet er erst einmal wieder. | |
Zehn Minuten später taucht Stan auf. Fischer und er kennen sich seit | |
Jahren. Zuletzt gesehen haben sie sich vor Weihnachten, da hat Fischer auch | |
hier angeliefert. „Wann warst du dann zu Hause?“, fragt Stan. „Am Sonntag | |
nach Weihnachten“, sagt Fischer. „Schlimm“, sagt Stan. | |
Ursprünglich sollte Fischer damals am 23. Dezember zu Hause sein, pünktlich | |
zum Fest. Aber die Nachricht von der neuen Coronavirusmutation in | |
Großbritannien und die anschließende Grenzschließung erwischten ihn auf dem | |
Heimweg. Weihnachten verbrachte er auf der Autobahn, in einer endlosen | |
Lkw-Schlange die auf dem Randstreifen stand. „Aber die Anwohner haben uns | |
gutes Essen gebracht, Suppe und Pizza von Tesco“, erzählt er Stan. | |
Eine Stunde dauert das Abladen. Es ist eiskalt. Fischer trägt nur einen | |
Pullover, er schwitzt. Haken lösen, Gurte lockern, Plane öffnen, Planken | |
abnehmen, auf die Leiter klettern, Dach anheben. Stan bewegt den | |
Gabelstapler, holt die Karosserien vom Truck und setzt sie in ordentlichen | |
Reihen ab. | |
Axel Fischer sieht bei seiner Arbeit jeden Tag den Warenstrom, der sich | |
durch Europa zieht. Er ist Teil dieses Stroms, er bewegt ihn mit. Wenn er | |
von seinem Werdegang erzählt, gehört dazu immer auch die Geschichte der | |
europäischen Integration – als ein Prozess, der das Leben vieler Menschen | |
verändert hat, der vielen Vorteile gebracht hat, Menschen wie Axel Fischer | |
aber auch Nachteile. | |
Fischer arbeitet, seit er 15 ist. 1984 wird er Lkw-Fahrer, der dritte in | |
der Familie, nach Vater und Großvater. Es sind die goldenen Zeiten des | |
Fernverkehrs. Ohne Navi, ohne elektronische Kontrolle der erlaubten | |
Fahrzeiten, ohne GPS-Tracking aus der Zentrale, ohne Handy und eng | |
getaktete Liefertermine, nur mit Karte und Lieferadresse werden die Fahrer | |
auf die Straße geschickt. Trucker sein, das bedeutet damals Freiheit. | |
Fischer fängt bei einem Möbelhersteller an. Es ist harte Arbeit. | |
Heute schmerzen ihm die Knie vom jahrelangen Küchenschleppen. Aber er | |
verdient damals gutes Geld. Er arbeitet 260 Stunden im Monat, wird pro | |
Arbeitsstunde bezahlt. Er sorgt für seine vier Kinder, baut ein Haus. In | |
dem schläft er zwar nur selten, aber daran hat er sich gewöhnt. Im | |
Vorabendprogramm läuft damals die Serie [2][„Auf Achse“ mit Manfred Krug]. | |
Das Truckerleben darin ist eine Aneinanderreihung von Abenteuern, Partys | |
und krummen Dingern. Fischer schaut die Serie oft zum Einschlafen in der | |
Fahrerkabine. Die DVDs liegen noch heute bei ihm zu Hause. | |
Es gibt ein Ritual aus dieser Zeit, das Fischer wichtig ist. Wird Fischer | |
von einem anderen Lkw überholt, signalisiert er dem überholenden Fahrer per | |
Lichthupe, wann dieser sich einordnen kann. Das Heck der oft über 17 Meter | |
langen Fahrzeuge sieht man durch die Seitenspiegel kaum, bei zu frühem | |
Spurwechsel kommen Unfälle vor. Im dichten Verkehr des Londoner Rings ist | |
das Ritual eine echte Hilfe. Zum Dank blinkt der überholende Lkw beim | |
Einordnen. Einmal links, einmal rechts, einmal links. Eine kleine Lichtshow | |
gegen die Einsamkeit der Straße. | |
Montag, 15 Uhr, Thurrock, Ostengland | |
Wayne, der Zollagent, hat am Samstag nicht mehr an Fischers Fenster | |
geklopft. Am Sonntag auch nicht. Fischer muss weiter in England bleiben. Er | |
steht mit seinem blauen Jumbo-Lkw, 18,75 Meter lang, auf einer Raststätte | |
in Thurrock, östlich von London. Die Raststätte ist so voll, dass einige | |
Lkws auf Bus- und Pkw-Parkplätzen stehen. Heute wird Fischer die vierte | |
Nacht hier verbringen. Sein grauer Kinnbart ist mittlerweile zu einem | |
Vollbart geworden. | |
Langsam werden die Vorräte knapp. Unter seinem Bett in der Fahrerkabine hat | |
er ein Kühlfach, aus dem er sich unterwegs ernährt. Mettwurst, Schinken, | |
Margarine, Streichkäse, Gouda, saure Gurken, Tomaten, Fertigsuppe und | |
Mehrkornbrot liegen darin. | |
Aber heute gibt es warmes Essen. Zahlt Fischer statt 35 Pfund 37 Pfund fürs | |
Parken, kriegt er einen 10-Pfund-Essengutschein für die | |
Fast-Food-Restaurants auf der Raststätte. Fischer geht zu Burger King. Er | |
will ein Chicken-Royale-Bacon-Menü ordern, aber dabei bleibt immer ein | |
bisschen Geld auf dem Gutschein übrig. Die Bedienung sagt ihm, dass er ohne | |
Zuzahlung auch ein Double-Chicken-Menü haben kann, damit er den Gutschein | |
voll ausnutzt. „Nett“, sagt Fischer. „Das macht heutzutage auch nicht mehr | |
jeder.“ | |
2005 enden Fischers goldene Jahre. Die Logistikbranche befindet sich im | |
Umbruch. 2004 sind im Rahmen der Osterweiterung Polen, Estland, Lettland, | |
Litauen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Zypern und Malta der | |
EU beigetreten. Viele deutsche Firmen lagern ihre Logistik an | |
osteuropäische Speditionen aus. | |
Auch Fischers Arbeitgeber will Kosten sparen. Fischer und seinen vier | |
Kollegen wird zweimal gekündigt, zweimal werden die Kündigungen vor Gericht | |
aufgehoben. Aber die Firma lässt nicht locker, nimmt Fischer seinen Lkw weg | |
und signalisiert ihm jeden Tag, dass er nicht mehr erwünscht ist. Er ist zu | |
stolz, sich an seinen Job zu klammern. Er kündigt. | |
Der Zeitpunkt ist ungünstig. Zu guten Konditionen stellt niemand mehr | |
Fahrer ein. Fischer steht vor der Wahl: Entweder nimmt er einen schlecht | |
bezahlten Job als Fernfahrer an und kann die Kreditraten für sein Haus | |
nicht mehr bezahlen. Oder er macht sich selbstständig und versucht, genug | |
Geld zu verdienen, um sein Haus zu halten. Fischer entscheidet sich für die | |
Selbstständigkeit. Von seinem Ersparten kauft er einen Kühl-Lkw. Als | |
Subunternehmer einer großen Spedition fährt er Frischfleisch von Spanien | |
nach Schottland, Speiseeis von Osnabrück nach Portugal. Zweieinhalb Jahre | |
funktioniert das. | |
Dienstag, 12 Uhr, Thurrock, Ostengland | |
Fischer steht an der Raststätte in der Schlange für den Coronatest. Zum | |
zweiten Mal innerhalb von vier Tagen. [3][Die Tests sind 72 Stunden | |
gültig], Fischers erster Test ist bereits abgelaufen. Einen weißen | |
Container und zwei blaue Pavillons hat die britische Regierung für die | |
Tests aufgestellt. Zwei große Poster hängen an dem Container: „UK’s new | |
start. Let’s get going“. So wirbt die britische Regierung bei den wartenden | |
Lkw-Fahrern für den Brexit. | |
Die meiste Zeit steht Fischer schweigend in der Schlange, gelegentlich | |
dreht er sich eine Zigarette. 47 andere Fahrer warten mit ihm. Hinter ihm | |
ein schlanker Slowene und ein breiter Bulgare in blauer Bomberjacke mit | |
Fellkragen. In gebrochenem Englisch und mit vielen Gesten unterhalten sie | |
sich. Wie lange er auf die Zollpapiere gewartet habe, fragt der eine. „Vier | |
Tage“, sagt Fischer. Am Morgen hat ihn die Spedition angerufen. Die Papiere | |
sind da, er darf endlich losfahren. Wäre da nicht Corona, könnte Fischer | |
heute Abend in Deutschland sein. | |
## Gleicher Lohn für gleiche Arbeit | |
Die drei Männer tauschen sich aus. Der Slowene erzählt, er verdiene 950 | |
Euro brutto. Dafür zahle ihm die Firma hohe Prämien und Spesen, meist komme | |
er damit auf 2.400 Euro im Monat. Bei Krankheit und Rente sehe es jedoch | |
schlecht für ihn aus, Sozialabgaben zahlt sein Arbeitgeber nur auf das | |
Bruttogehalt. | |
Mit Spesen für jeden gefahrenen Tag und Leistungsprämien für Monate ohne | |
Krankschreibung verdient Fischer etwas mehr als der slowenische Kollege. | |
Der genaue Betrag soll nicht in der Zeitung stehen. | |
Später im Truck erzählt Fischer eine Anekdote. Neulich habe sich ein Pole | |
bei ihm beschwert: „Ey, die Rumänen und Bulgaren machen uns die Preise | |
kaputt.“ Da musste Fischer lachen. „Ey, vor 15 Jahren habt ihr das bei uns | |
gemacht“, hat er geantwortet. | |
Als Fischer 1987 seine erste Tour nach England fährt, sind die Fahrer an | |
den Raststätten noch zum großen Teil Deutsche. Abends geht man in den Pub, | |
unterhält sich. Heute ist das anders: Wer im Fernverkehr mit Alkohol am | |
Steuer erwischt wird, fliegt sofort raus. „Ich kann mich auch mit kaum | |
jemandem richtig unterhalten“, sagt Fischer. „Es spricht ja niemand | |
Deutsch.“ | |
Er habe nichts gegen die ausländischen Fahrer, sagt Fischer. Das seien | |
Kollegen. Diejenigen von ihnen, die über Wochen, manchmal sogar Monate am | |
Stück unterwegs seien und dafür schlechter bezahlt würden als er, täten ihm | |
leid. | |
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, egal welche Nationalität, das würde er | |
sich wünschen. „Wenn alle Fahrer auch nur einen Tag zusammen streiken | |
würden, könnten wir das erreichen“, sagt Fischer. Supermärkte blieben leer, | |
Bänder müssten stillstehen. Aber so wie es steht, kann er mit den meisten | |
Fahrern noch nicht einmal darüber reden, was sie gestern gefrühstückt | |
haben. Um 16 Uhr, nach vier Stunden Warten bei eisigem Wind, bekommt | |
Fischer sein zweites Testergebnis. Negativ. Was bei einem positiven | |
Testergebnis passiert wäre, mag er sich nicht vorstellen. Quarantäne in | |
der Fahrerkabine hieße es dann wohl. | |
Dienstag, 17 Uhr, Autobahn M20 bei Ashford, Südostengland | |
Auf dem Weg zum Eurotunnel passiert Fischer einen Kontrollposten. Eine Frau | |
in Regenparka und Warnweste fragt nach seinem Coronatest. Derzeit dürfen | |
nur Lkw-Fahrer mit negativem Coronatest auf die letzten Autobahnkilometer | |
in Richtung Eurotunnel. | |
Wenn Fischer fährt, telefoniert er oft. Mit seiner Familie, aber auch mit | |
Sebastian. Sebastian war mal ein junger Kollege von Fischer. Drei Jahre ist | |
er die Englandtour gefahren. Dann fand er eine Freundin, und das ständige | |
Wegsein wurde ihm zu viel. Er kündigte. Jetzt hat Sebastian einen | |
Fahrerjob, bei dem er an den meisten Abenden vor 17 Uhr zu Hause ist. | |
Fischer versteht sich ein wenig als Sebastians Mentor. Wenn Sebastian ihm | |
sagt, dass er kaputt sei, rät Fischer ihm: „Wenn’s irgendwie geht, geh zur | |
Arbeit.“ Denn Fischer weiß: „Viel musst du heute nicht mehr falsch machen, | |
damit sie dich rausschmeißen. Da stehen genug andere in den Startlöchern.“ | |
Fischer hat diese Lektion auf die harte Tour gelernt, damals, in der | |
Selbstständigkeit, Zweieinhalb Jahre fährt er fast ununterbrochen, verdient | |
gerade genug Geld, um seine Kreditraten abzuzahlen und die Familie zu | |
ernähren. 82 Cent pro Kilometer bekommt er zunächst, 95 Cent pro Kilometer | |
sind es später. Dann aber drängt ihn die Spedition, für die er als | |
Subunternehmer fährt, zusätzliche Fahrzeuge anzuschaffen und mehr Fahrten | |
zu machen. Fischer fühlt sich unwohl. Er weiß, er ist Fahrer, nicht | |
Unternehmer. Aber aus Angst, seinen Auftraggeber zu verärgern, expandiert | |
er, stellt zusätzliche Fahrer an, mietet vier weitere Lkws. | |
2008, kurz nachdem er die zusätzlichen Lkws angeschafft hat, zahlt sein | |
Auftraggeber nicht mehr pünktlich. Oft kommt auch nur die Hälfte, ein | |
Drittel oder gar nur ein Viertel des vereinbarten Betrags. Es ist die Zeit | |
der Finanzkrise. Fischers Bank will ihm kein Geld leihen, um die | |
ausgefallenen Zahlungen zu kompensieren. Im April 2008 geht Fischer pleite. | |
Er verliert seine Arbeit, sein Haus, viele Freunde. Er sagt: „Ich habe | |
geschäftlich bestimmt nicht alles richtig gemacht.“ Aber bis heute ist er | |
davon überzeugt, dass die Spedition ihn auch abschoss, weil die Konkurrenz | |
aus Osteuropa billiger fuhr. | |
Dienstag, 19 Uhr, Folkestone, am Ärmelkanal | |
Fischer macht sich bereit für die Nacht. Nach dem Fahren gibt es nicht mehr | |
viel zu tun. Er hat ein Tablet dabei, Netflix, Amazon Prime und Disney Plus | |
im Abo. Gerade schaut er die erste Folge einer Serie, in der eine Familie | |
versucht, missverstandene Monster zu retten. Nach knapp 50 Minuten gibt er | |
auf. Das Ganze ist ihm zu abgedreht. Fischers Lkw ist erst drei Monate alt, | |
er hat eine Standheizung, eine USB-Ladebuchse und ein Nachtlicht über dem | |
Bett. Fischer legt sich auf seine Matratze, die in der Mitte 80 Zentimeter | |
breit ist, an Kopf und Füßen 70 Zentimeter. Er zieht die Decke bis ans Kinn | |
und schläft ein. | |
Wenn Fischer über das Jahr 2008 redet, wühlt ihn das heute noch auf. | |
„Damals bin ich explodiert, bin laut geworden“, sagt er. Als er auf dem Amt | |
Sozialhilfe beantragt habe, ohne Job und mit vier Kindern, erklärte man | |
ihm, er habe als Selbstständiger keine Ansprüche auf Hilfe. Nach einem | |
Termin bei einer Beratungsstelle kommt er wieder, diesmal wird ihm | |
geholfen, 200 Euro pro Woche kriegen er und seine Familie. Zweieinhalb | |
Monate ist er arbeitslos. Psychisch ist er am Boden, an manchen Tagen kommt | |
er kaum aus dem Bett. Dann findet er einen neuen Job. | |
## Eurotunnel voraus | |
Er fährt jetzt für ein Subunternehmen die Nachttransporte der DHL, bringt | |
Pakete von Verteilerzentrum zu Verteilerzentrum. Am Montagmittag verlässt | |
er die Wohnung, am Samstagmittag kommt er wieder heim. Tagsüber muss er auf | |
Rastplätzen schlafen. Es ist Sommer und heiß, sein Lkw hat keine | |
Standklimaanlage. Er schwitzt, kommt kaum zur Ruhe. Nach einigen Wochen | |
kommt ein Brief vom Amt: Da er weniger als drei Monate arbeitslos war, | |
solle er bitte die 200 Euro Unterstützung pro Woche zurückzahlen. Fischer | |
kann sich kaum noch aufregen. In kleinen Raten zahlt er das Geld ans Amt | |
zurück. | |
Mittwoch, 3.30 Uhr, Folkestone | |
Der Wecker seines Handys klingelt Fischer aus dem Schlaf. Er hat schlecht | |
geschlafen, braucht jetzt dringend einen Kaffee. Er setzt einen Topf Wasser | |
auf den Gaskocher und schüttelt sich. Dann dreht er sich eine Zigarette. | |
Fischer holt eine Broschüre aus einer Schublade im Armaturenbrett. „Get | |
ready for pit stops!“, steht darauf. Sie soll die Fahrer auf die neuen | |
Zollkontrollen vorbereiten. Fischer liest sie. Was jetzt auf ihn zukommt, | |
weiß er aber immer noch nicht wirklich. Er lässt den Motor an. Der | |
Eurotunnel ist noch neun Kilometer entfernt. | |
Spaß macht Fischer die Arbeit heute nur noch selten. Er sagt, er habe sich | |
daran gewöhnt. Sich seinen Stundenlohn ausrechnen, inklusive der Stunden, | |
die er abends und nachts allein in seiner 3-Quadratmeter-Kabine auf | |
Rastplätzen verbringt? „Das darf man einfach nicht machen.“ | |
Eineinhalb Jahre fährt Fischer nach seiner Pleite die Nachttransporte der | |
DHL. An den Wochenenden hat er tagsüber Schwierigkeiten, wach zu bleiben, | |
nachts geistert er durch die Wohnung. Dann hält er es nicht mehr aus und | |
kündigt. Einige Male wechselt er noch seinen Job. Manche Speditionen halten | |
sich nicht an Vereinbarungen, andere bezahlen unpünktlich oder gar nicht. | |
Im Mai 2012 beginnt er bei der Spedition Kottmeyer. Seitdem fährt er für | |
sie nach England und durch Europa. Der Job ist anstrengend, aber Kottmeyers | |
seien in diesem harten Geschäft mit niedrigen Margen und langen | |
Arbeitszeiten anständige Leute. „Mein Geld ist immer pünktlich am 10. des | |
Monats da, manchmal sogar früher“, sagt Fischer. Für ihn ist die Stelle bei | |
Kottmeyers nach den turbulenten Vorjahren ein sicherer Hafen. | |
Mittwoch, 5 Uhr, Folkestone | |
Fischer nähert sich dem Eurotunnel. Der Check-in läuft erstaunlich | |
unkompliziert. Zweimal werden Pass und Coronatest kontrolliert, einmal von | |
britischen Beamten, einmal von französischen. Dann wird kurz der Zustand | |
von Fischers Truck überprüft. Die Zollerklärung muss Fischer schon gar | |
nicht mehr vorlegen, sie ist im System hinterlegt und wird über sein | |
Kennzeichen ausgelesen. Schon darf Fischer mit seinem Lkw auf den Zug | |
rollen, der ihn in die EU zurückbringen wird. | |
Kein Ort steht wohl derart für die Errungenschaften, aber auch für das | |
Versagen der EU wie der Eurotunnel. 175 Meter unter den Wellen des | |
Ärmelkanals gräbt er sich von den weißen Kreidefelsen Dovers bis zum | |
französischen Festland. Er ist knapp 50 Kilometer lang, 35 Minuten dauert | |
die Durchfahrt. Fährt man heute durch den Eurotunnel, zeigt das Handy | |
selbst am tiefsten Punkt vier Balken Empfang und eine LTE-Verbindung. | |
Das ist die eine Seite. Die andere Seite erwartet einen in Calais. Wie ein | |
in einen Hochsicherheitstrakt umgewandelter Tagebau sieht das Lkw-Terminal | |
dort aus. Straßen und Gleise sind von vier Meter hohen weißen Metallzäunen | |
mit Stacheldraht an der Spitze umgeben. Das gesamte Gelände wird von gelben | |
und weißen Strahlern ausgeleuchtet. Eine vier Meter hohe Betonmauer, einen | |
Kilometer lang, trennt das Terminal von dem Ort, an dem bis 2016 Hunderte | |
Geflüchtete ihr Lager aufgeschlagen hatten. Circa 2,5 Millionen Euro hat | |
die Mauer gekostet, bezahlt hat sie Großbritannien. In Calais wirkt es, als | |
befinde sich die EU im Krieg. | |
Seit seiner Eröffnung vor 25 Jahren ist Fischer über 1.500-mal durch den | |
Eurotunnel gefahren. Wenn er sich von europäischer Seite dem Eurotunnel | |
nähert, steigt schon Hunderte Kilometer vor der Ankunft langsam seine | |
Aufmerksamkeit. Fischer und seine Kollegen haben Anweisungen, in Belgien | |
und Frankreich außer zum Tanken nicht mehr zu halten. Zu groß ist die | |
Gefahr, dass sich Geflüchtete einen Weg ins Innere des Lkws schneiden, sich | |
auf den Achsen verstecken oder in eine der Ersatzteilkisten unter dem | |
Gefährt klettern. | |
Läuft der Verkehr flüssig bis aufs Gelände des Eurotunnels, hat Fischer es | |
vorerst geschafft. Gibt es vor dem Tunnel Stau, geht der Wettstreit los. | |
Geflüchtete laufen vor, neben und zwischen die Lkws, suchen nach | |
Möglichkeiten, unbemerkt aufzusteigen. In seiner abgeschlossenen | |
Fahrerkabine schaut Fischer ständig in die Seitenspiegel, versucht, | |
potenzielle Mitfahrer schon durch seine Blicke abzuschrecken. | |
Für Fischer bedeuten diese Stunden jedes Mal Stress. Im Terminal werden die | |
Lkws zwar noch einmal mit Hunden und bei Verdacht auch mit einem Scanner | |
abgesucht. Schafft es trotzdem ein Geflüchteter auf Fischers Lkw nach | |
England, wird er unfreiwillig zum Schlepper. „Dass man nichts gemerkt hat, | |
würde in so einer Situation ja jeder sagen, das hilft einem dann auch | |
nicht mehr weiter“, sagt er. | |
## Aggression an der Grenze | |
Einen Kilometer von Calais entfernt zeigt Fischer bei seiner Rückfahrt nach | |
Deutschland auf die Autobahn. „Hier haben sie 2015 Reifen abgefackelt, | |
damit wir die Lkws stoppen mussten“, sagt er. Das Jahr 2015 hat Fischers | |
Sicht auf die Geflüchteten in Calais verändert. Seit er nach England fahre, | |
habe es immer Menschen gegeben, die nach Großbritannien wollten. Aber | |
früher habe man den Menschen angesehen, dass sie wirklich Hilfe brauchten. | |
2015 sei das anders gewesen. „Die meisten von denen waren gut gekleidete | |
junge Männer, mit den neuesten Smartphones“, sagt Fischer. „Die Aggression | |
an der Grenze hat damals ein neues Ausmaß erreicht.“ | |
Einmal habe sich einer an der Hintertür des Lkws seines Vordermanns zu | |
schaffen gemacht. Da habe Fischer mit Zeigefinger und Mittelfinger auf | |
seine eigenen Augen gedeutet, um dem Mann klarzumachen: „I am watching | |
you.“ Der Mann habe dann ein Messer gezogen, ihm in die Augen geschaut und | |
die Klinge einmal vor seiner Kehle hergezogen. | |
Fischer sagt, er sei kein Rassist. Natürlich seien nicht alle Flüchtlinge | |
so. Es gebe auch gute, wie den afrikanischen Flüchtling, der bei Kottmeyers | |
im Lager arbeite. Bei ihm ist Fischer beim Be- und Entladen immer schneller | |
fertig als bei den Kollegen. Er will nicht verallgemeinern. Aber viele | |
könnten die Regeln in Deutschland nicht akzeptieren. Zumindest nach dem, | |
was er so auf Facebook lese und auf der Straße sehe. | |
Mittwoch, 13 Uhr, Shell Asten, Niederlande | |
Kurz bevor Fischer die Grenze nach Deutschland überquert, muss er eines | |
noch erledigen. Er geht in die Tankstelle und kauft Kaffee für sich und | |
seine Frau. Zwei Packungen Dark-Roast-Kaffeepads von Caféclub, zwei | |
Packungen Jacobs-Krönung-Filterkaffee, günstiger als in Deutschland. Es ist | |
Fischers kleiner grenzüberschreitender Handel. Heute fährt er noch bis nach | |
Recklinghausen. Morgen um 7 Uhr muss er seine Ladung Mikrowellen in | |
Gütersloh abliefern. Um 5 Uhr wird er losfahren, um den Termin zu halten. | |
Man könnte meinen, Axel Fischer habe viel von Europa gesehen. Immerhin | |
fährt er schon seit 37 Jahren Waren durch alle Länder des Kontinents. Er | |
hat so viele Kilometer gemacht wie nur wenige andere. Aber wenn man ihn | |
danach fragt, muss er laut lachen. „Autobahnen habe ich viele gesehen. | |
Autobahnen und Raststätten.“ | |
30 Jan 2021 | |
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[2] https://www.youtube.com/watch?v=BFJq8QO0SSE | |
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