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# taz.de -- Lkw-Verkehr nach dem Brexit: Der Frust fährt mit
> Erst Corona, dann Brexit – jetzt ist die britische Grenze dicht. Unser
> fünftägiger Roadtrip mit einem Mann, dem die EU nichts gebracht hat.
Bild: Tagelang ist Fischer mit seinem Jumbo-LKW unterwegs
Samstag, 9 Uhr, Dagenham, Ostlondon
Für Axel Fischer bedeutet der Brexit erst mal Warten. An diesem Samstag ist
es 16 Tage her, dass Großbritannien die EU verlassen hat, jetzt kriegt
Fischer die Folgen zu spüren. Seit sechs Tagen ist er unterwegs. Eigentlich
wollte er in Dagenham nur kurz halten, um seine Zollpapiere abzuholen. Doch
Wayne, der Zollagent, der seine Zollpapiere fertig machen sollte und ihn
jetzt im zweiten Stock des Speditionsgebäudes hinter einer Plexiglasscheibe
empfängt, muss ihn enttäuschen. Die Papiere für die Mikrowellen, die
Fischer von Nordwales nach Gütersloh bringen soll, liegen bei den
Behörden. Wann sie von dort zurückkommen, könne er nicht sagen.
In der Fahrerkabine seines Lkws lehnt sich Fischer auf seinem Schwingsitz
zurück. Er verschränkt die Hände hinter dem Kopf. Er trägt seine
Arbeitskleidung, graue Jeans, dunkelblauen Pullover, neongelbe Warnweste.
Sein grauer Kinnbart hat sich seit Beginn der Tour auf die Wangen
ausgebreitet, seine Brille sitzt etwas schief, die Kappe hat er tief ins
Gesicht gezogen. Resigniert schaut er über den mit Lkw-Anhängern
zugeparkten Speditionsparkplatz.
Morgen feiert Fischers Frau ihren 59. Geburtstag, es soll einen Brunch
geben. Fischer will deshalb eigentlich heute Abend in Hiddenhausen, Kreis
Herford, zurück sein. Wenn Wayne nicht in den nächsten Stunden mit fertigen
Papieren an die Fahrerkabine klopft, wird daraus nichts. „Das Stehen macht
mir nichts, wenn ich genau weiß, wie lange – wenn ich weiß, dann und dann
geht’s weiter“, sagt Fischer. „Aber diese Ungewissheit, die zermürbt.“
## Er wartet mal wieder
Am 1. Januar 2021 ist mit dem [1][endgültigen EU-Austritt Großbritanniens]
eine neue Grenze in Europa entstanden. Lkw-Fahrer Axel Fischer gehört zu
denen, die die Folgen dieser historischen Entscheidung direkt zu spüren
bekommen. Aber auch zu denen, die die Entscheidung der Briten verstehen
können. Die EU habe ihm persönlich nichts gebracht, sagt er.
Einen Tag zuvor, 6 Uhr, Crewe, Nordengland
Fischer, 60, steht vor den Toren einer Lagerhalle und wartet auf Stan. Der
ist heute spät dran. Eigentlich sollten die sechs Luxusautokarosserien aus
Leipzig, die Fischer hierhergefahren hat, jetzt ausgeladen werden. Um zwei
Uhr morgens ist Fischer in London losgefahren, um den Termin zu schaffen.
Jetzt wartet er erst einmal wieder.
Zehn Minuten später taucht Stan auf. Fischer und er kennen sich seit
Jahren. Zuletzt gesehen haben sie sich vor Weihnachten, da hat Fischer auch
hier angeliefert. „Wann warst du dann zu Hause?“, fragt Stan. „Am Sonntag
nach Weihnachten“, sagt Fischer. „Schlimm“, sagt Stan.
Ursprünglich sollte Fischer damals am 23. Dezember zu Hause sein, pünktlich
zum Fest. Aber die Nachricht von der neuen Coronavirusmutation in
Großbritannien und die anschließende Grenzschließung erwischten ihn auf dem
Heimweg. Weihnachten verbrachte er auf der Autobahn, in einer endlosen
Lkw-Schlange die auf dem Randstreifen stand. „Aber die Anwohner haben uns
gutes Essen gebracht, Suppe und Pizza von Tesco“, erzählt er Stan.
Eine Stunde dauert das Abladen. Es ist eiskalt. Fischer trägt nur einen
Pullover, er schwitzt. Haken lösen, Gurte lockern, Plane öffnen, Planken
abnehmen, auf die Leiter klettern, Dach anheben. Stan bewegt den
Gabelstapler, holt die Karosserien vom Truck und setzt sie in ordentlichen
Reihen ab.
Axel Fischer sieht bei seiner Arbeit jeden Tag den Warenstrom, der sich
durch Europa zieht. Er ist Teil dieses Stroms, er bewegt ihn mit. Wenn er
von seinem Werdegang erzählt, gehört dazu immer auch die Geschichte der
europäischen Integration – als ein Prozess, der das Leben vieler Menschen
verändert hat, der vielen Vorteile gebracht hat, Menschen wie Axel Fischer
aber auch Nachteile.
Fischer arbeitet, seit er 15 ist. 1984 wird er Lkw-Fahrer, der dritte in
der Familie, nach Vater und Großvater. Es sind die goldenen Zeiten des
Fernverkehrs. Ohne Navi, ohne elektronische Kontrolle der erlaubten
Fahrzeiten, ohne GPS-Tracking aus der Zentrale, ohne Handy und eng
getaktete Liefertermine, nur mit Karte und Lieferadresse werden die Fahrer
auf die Straße geschickt. Trucker sein, das bedeutet damals Freiheit.
Fischer fängt bei einem Möbelhersteller an. Es ist harte Arbeit.
Heute schmerzen ihm die Knie vom jahrelangen Küchenschleppen. Aber er
verdient damals gutes Geld. Er arbeitet 260 Stunden im Monat, wird pro
Arbeitsstunde bezahlt. Er sorgt für seine vier Kinder, baut ein Haus. In
dem schläft er zwar nur selten, aber daran hat er sich gewöhnt. Im
Vorabendprogramm läuft damals die Serie [2][„Auf Achse“ mit Manfred Krug].
Das Truckerleben darin ist eine Aneinanderreihung von Abenteuern, Partys
und krummen Dingern. Fischer schaut die Serie oft zum Einschlafen in der
Fahrerkabine. Die DVDs liegen noch heute bei ihm zu Hause.
Es gibt ein Ritual aus dieser Zeit, das Fischer wichtig ist. Wird Fischer
von einem anderen Lkw überholt, signalisiert er dem überholenden Fahrer per
Lichthupe, wann dieser sich einordnen kann. Das Heck der oft über 17 Meter
langen Fahrzeuge sieht man durch die Seitenspiegel kaum, bei zu frühem
Spurwechsel kommen Unfälle vor. Im dichten Verkehr des Londoner Rings ist
das Ritual eine echte Hilfe. Zum Dank blinkt der überholende Lkw beim
Einordnen. Einmal links, einmal rechts, einmal links. Eine kleine Lichtshow
gegen die Einsamkeit der Straße.
Montag, 15 Uhr, Thurrock, Ostengland
Wayne, der Zollagent, hat am Samstag nicht mehr an Fischers Fenster
geklopft. Am Sonntag auch nicht. Fischer muss weiter in England bleiben. Er
steht mit seinem blauen Jumbo-Lkw, 18,75 Meter lang, auf einer Raststätte
in Thurrock, östlich von London. Die Raststätte ist so voll, dass einige
Lkws auf Bus- und Pkw-Parkplätzen stehen. Heute wird Fischer die vierte
Nacht hier verbringen. Sein grauer Kinnbart ist mittlerweile zu einem
Vollbart geworden.
Langsam werden die Vorräte knapp. Unter seinem Bett in der Fahrerkabine hat
er ein Kühlfach, aus dem er sich unterwegs ernährt. Mettwurst, Schinken,
Margarine, Streichkäse, Gouda, saure Gurken, Tomaten, Fertigsuppe und
Mehrkornbrot liegen darin.
Aber heute gibt es warmes Essen. Zahlt Fischer statt 35 Pfund 37 Pfund fürs
Parken, kriegt er einen 10-Pfund-Essengutschein für die
Fast-Food-Restaurants auf der Raststätte. Fischer geht zu Burger King. Er
will ein Chicken-Royale-Bacon-Menü ordern, aber dabei bleibt immer ein
bisschen Geld auf dem Gutschein übrig. Die Bedienung sagt ihm, dass er ohne
Zuzahlung auch ein Double-Chicken-Menü haben kann, damit er den Gutschein
voll ausnutzt. „Nett“, sagt Fischer. „Das macht heutzutage auch nicht mehr
jeder.“
2005 enden Fischers goldene Jahre. Die Logistikbranche befindet sich im
Umbruch. 2004 sind im Rahmen der Osterweiterung Polen, Estland, Lettland,
Litauen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Zypern und Malta der
EU beigetreten. Viele deutsche Firmen lagern ihre Logistik an
osteuropäische Speditionen aus.
Auch Fischers Arbeitgeber will Kosten sparen. Fischer und seinen vier
Kollegen wird zweimal gekündigt, zweimal werden die Kündigungen vor Gericht
aufgehoben. Aber die Firma lässt nicht locker, nimmt Fischer seinen Lkw weg
und signalisiert ihm jeden Tag, dass er nicht mehr erwünscht ist. Er ist zu
stolz, sich an seinen Job zu klammern. Er kündigt.
Der Zeitpunkt ist ungünstig. Zu guten Konditionen stellt niemand mehr
Fahrer ein. Fischer steht vor der Wahl: Entweder nimmt er einen schlecht
bezahlten Job als Fernfahrer an und kann die Kreditraten für sein Haus
nicht mehr bezahlen. Oder er macht sich selbstständig und versucht, genug
Geld zu verdienen, um sein Haus zu halten. Fischer entscheidet sich für die
Selbstständigkeit. Von seinem Ersparten kauft er einen Kühl-Lkw. Als
Subunternehmer einer großen Spedition fährt er Frischfleisch von Spanien
nach Schottland, Speiseeis von Osnabrück nach Portugal. Zweieinhalb Jahre
funktioniert das.
Dienstag, 12 Uhr, Thurrock, Ostengland
Fischer steht an der Raststätte in der Schlange für den Coronatest. Zum
zweiten Mal innerhalb von vier Tagen. [3][Die Tests sind 72 Stunden
gültig], Fischers erster Test ist bereits abgelaufen. Einen weißen
Container und zwei blaue Pavillons hat die britische Regierung für die
Tests aufgestellt. Zwei große Poster hängen an dem Container: „UK’s new
start. Let’s get going“. So wirbt die britische Regierung bei den wartenden
Lkw-Fahrern für den Brexit.
Die meiste Zeit steht Fischer schweigend in der Schlange, gelegentlich
dreht er sich eine Zigarette. 47 andere Fahrer warten mit ihm. Hinter ihm
ein schlanker Slowene und ein breiter Bulgare in blauer Bomberjacke mit
Fellkragen. In gebrochenem Englisch und mit vielen Gesten unterhalten sie
sich. Wie lange er auf die Zollpapiere gewartet habe, fragt der eine. „Vier
Tage“, sagt Fischer. Am Morgen hat ihn die Spedition angerufen. Die Papiere
sind da, er darf endlich losfahren. Wäre da nicht Corona, könnte Fischer
heute Abend in Deutschland sein.
## Gleicher Lohn für gleiche Arbeit
Die drei Männer tauschen sich aus. Der Slowene erzählt, er verdiene 950
Euro brutto. Dafür zahle ihm die Firma hohe Prämien und Spesen, meist komme
er damit auf 2.400 Euro im Monat. Bei Krankheit und Rente sehe es jedoch
schlecht für ihn aus, Sozialabgaben zahlt sein Arbeitgeber nur auf das
Bruttogehalt.
Mit Spesen für jeden gefahrenen Tag und Leistungsprämien für Monate ohne
Krankschreibung verdient Fischer etwas mehr als der slowenische Kollege.
Der genaue Betrag soll nicht in der Zeitung stehen.
Später im Truck erzählt Fischer eine Anekdote. Neulich habe sich ein Pole
bei ihm beschwert: „Ey, die Rumänen und Bulgaren machen uns die Preise
kaputt.“ Da musste Fischer lachen. „Ey, vor 15 Jahren habt ihr das bei uns
gemacht“, hat er geantwortet.
Als Fischer 1987 seine erste Tour nach England fährt, sind die Fahrer an
den Raststätten noch zum großen Teil Deutsche. Abends geht man in den Pub,
unterhält sich. Heute ist das anders: Wer im Fernverkehr mit Alkohol am
Steuer erwischt wird, fliegt sofort raus. „Ich kann mich auch mit kaum
jemandem richtig unterhalten“, sagt Fischer. „Es spricht ja niemand
Deutsch.“
Er habe nichts gegen die ausländischen Fahrer, sagt Fischer. Das seien
Kollegen. Diejenigen von ihnen, die über Wochen, manchmal sogar Monate am
Stück unterwegs seien und dafür schlechter bezahlt würden als er, täten ihm
leid.
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, egal welche Nationalität, das würde er
sich wünschen. „Wenn alle Fahrer auch nur einen Tag zusammen streiken
würden, könnten wir das erreichen“, sagt Fischer. Supermärkte blieben leer,
Bänder müssten stillstehen. Aber so wie es steht, kann er mit den meisten
Fahrern noch nicht einmal darüber reden, was sie gestern gefrühstückt
haben. Um 16 Uhr, nach vier Stunden Warten bei eisigem Wind, bekommt
Fischer sein zweites Testergebnis. Negativ. Was bei einem positiven
Testergebnis passiert wäre, mag er sich nicht vorstellen. Quarantäne in
der Fahrerkabine hieße es dann wohl.
Dienstag, 17 Uhr, Autobahn M20 bei Ashford, Südostengland
Auf dem Weg zum Eurotunnel passiert Fischer einen Kontrollposten. Eine Frau
in Regenparka und Warnweste fragt nach seinem Coronatest. Derzeit dürfen
nur Lkw-Fahrer mit negativem Coronatest auf die letzten Autobahnkilometer
in Richtung Eurotunnel.
Wenn Fischer fährt, telefoniert er oft. Mit seiner Familie, aber auch mit
Sebastian. Sebastian war mal ein junger Kollege von Fischer. Drei Jahre ist
er die Englandtour gefahren. Dann fand er eine Freundin, und das ständige
Wegsein wurde ihm zu viel. Er kündigte. Jetzt hat Sebastian einen
Fahrerjob, bei dem er an den meisten Abenden vor 17 Uhr zu Hause ist.
Fischer versteht sich ein wenig als Sebastians Mentor. Wenn Sebastian ihm
sagt, dass er kaputt sei, rät Fischer ihm: „Wenn’s irgendwie geht, geh zur
Arbeit.“ Denn Fischer weiß: „Viel musst du heute nicht mehr falsch machen,
damit sie dich rausschmeißen. Da stehen genug andere in den Startlöchern.“
Fischer hat diese Lektion auf die harte Tour gelernt, damals, in der
Selbstständigkeit, Zweieinhalb Jahre fährt er fast ununterbrochen, verdient
gerade genug Geld, um seine Kreditraten abzuzahlen und die Familie zu
ernähren. 82 Cent pro Kilometer bekommt er zunächst, 95 Cent pro Kilometer
sind es später. Dann aber drängt ihn die Spedition, für die er als
Subunternehmer fährt, zusätzliche Fahrzeuge anzuschaffen und mehr Fahrten
zu machen. Fischer fühlt sich unwohl. Er weiß, er ist Fahrer, nicht
Unternehmer. Aber aus Angst, seinen Auftraggeber zu verärgern, expandiert
er, stellt zusätzliche Fahrer an, mietet vier weitere Lkws.
2008, kurz nachdem er die zusätzlichen Lkws angeschafft hat, zahlt sein
Auftraggeber nicht mehr pünktlich. Oft kommt auch nur die Hälfte, ein
Drittel oder gar nur ein Viertel des vereinbarten Betrags. Es ist die Zeit
der Finanzkrise. Fischers Bank will ihm kein Geld leihen, um die
ausgefallenen Zahlungen zu kompensieren. Im April 2008 geht Fischer pleite.
Er verliert seine Arbeit, sein Haus, viele Freunde. Er sagt: „Ich habe
geschäftlich bestimmt nicht alles richtig gemacht.“ Aber bis heute ist er
davon überzeugt, dass die Spedition ihn auch abschoss, weil die Konkurrenz
aus Osteuropa billiger fuhr.
Dienstag, 19 Uhr, Folkestone, am Ärmelkanal
Fischer macht sich bereit für die Nacht. Nach dem Fahren gibt es nicht mehr
viel zu tun. Er hat ein Tablet dabei, Netflix, Amazon Prime und Disney Plus
im Abo. Gerade schaut er die erste Folge einer Serie, in der eine Familie
versucht, missverstandene Monster zu retten. Nach knapp 50 Minuten gibt er
auf. Das Ganze ist ihm zu abgedreht. Fischers Lkw ist erst drei Monate alt,
er hat eine Standheizung, eine USB-Ladebuchse und ein Nachtlicht über dem
Bett. Fischer legt sich auf seine Matratze, die in der Mitte 80 Zentimeter
breit ist, an Kopf und Füßen 70 Zentimeter. Er zieht die Decke bis ans Kinn
und schläft ein.
Wenn Fischer über das Jahr 2008 redet, wühlt ihn das heute noch auf.
„Damals bin ich explodiert, bin laut geworden“, sagt er. Als er auf dem Amt
Sozialhilfe beantragt habe, ohne Job und mit vier Kindern, erklärte man
ihm, er habe als Selbstständiger keine Ansprüche auf Hilfe. Nach einem
Termin bei einer Beratungsstelle kommt er wieder, diesmal wird ihm
geholfen, 200 Euro pro Woche kriegen er und seine Familie. Zweieinhalb
Monate ist er arbeitslos. Psychisch ist er am Boden, an manchen Tagen kommt
er kaum aus dem Bett. Dann findet er einen neuen Job.
## Eurotunnel voraus
Er fährt jetzt für ein Subunternehmen die Nachttransporte der DHL, bringt
Pakete von Verteilerzentrum zu Verteilerzentrum. Am Montagmittag verlässt
er die Wohnung, am Samstagmittag kommt er wieder heim. Tagsüber muss er auf
Rastplätzen schlafen. Es ist Sommer und heiß, sein Lkw hat keine
Standklimaanlage. Er schwitzt, kommt kaum zur Ruhe. Nach einigen Wochen
kommt ein Brief vom Amt: Da er weniger als drei Monate arbeitslos war,
solle er bitte die 200 Euro Unterstützung pro Woche zurückzahlen. Fischer
kann sich kaum noch aufregen. In kleinen Raten zahlt er das Geld ans Amt
zurück.
Mittwoch, 3.30 Uhr, Folkestone
Der Wecker seines Handys klingelt Fischer aus dem Schlaf. Er hat schlecht
geschlafen, braucht jetzt dringend einen Kaffee. Er setzt einen Topf Wasser
auf den Gaskocher und schüttelt sich. Dann dreht er sich eine Zigarette.
Fischer holt eine Broschüre aus einer Schublade im Armaturenbrett. „Get
ready for pit stops!“, steht darauf. Sie soll die Fahrer auf die neuen
Zollkontrollen vorbereiten. Fischer liest sie. Was jetzt auf ihn zukommt,
weiß er aber immer noch nicht wirklich. Er lässt den Motor an. Der
Eurotunnel ist noch neun Kilometer entfernt.
Spaß macht Fischer die Arbeit heute nur noch selten. Er sagt, er habe sich
daran gewöhnt. Sich seinen Stundenlohn ausrechnen, inklusive der Stunden,
die er abends und nachts allein in seiner 3-Quadratmeter-Kabine auf
Rastplätzen verbringt? „Das darf man einfach nicht machen.“
Eineinhalb Jahre fährt Fischer nach seiner Pleite die Nachttransporte der
DHL. An den Wochenenden hat er tagsüber Schwierigkeiten, wach zu bleiben,
nachts geistert er durch die Wohnung. Dann hält er es nicht mehr aus und
kündigt. Einige Male wechselt er noch seinen Job. Manche Speditionen halten
sich nicht an Vereinbarungen, andere bezahlen unpünktlich oder gar nicht.
Im Mai 2012 beginnt er bei der Spedition Kottmeyer. Seitdem fährt er für
sie nach England und durch Europa. Der Job ist anstrengend, aber Kottmeyers
seien in diesem harten Geschäft mit niedrigen Margen und langen
Arbeitszeiten anständige Leute. „Mein Geld ist immer pünktlich am 10. des
Monats da, manchmal sogar früher“, sagt Fischer. Für ihn ist die Stelle bei
Kottmeyers nach den turbulenten Vorjahren ein sicherer Hafen.
Mittwoch, 5 Uhr, Folkestone
Fischer nähert sich dem Eurotunnel. Der Check-in läuft erstaunlich
unkompliziert. Zweimal werden Pass und Coronatest kontrolliert, einmal von
britischen Beamten, einmal von französischen. Dann wird kurz der Zustand
von Fischers Truck überprüft. Die Zollerklärung muss Fischer schon gar
nicht mehr vorlegen, sie ist im System hinterlegt und wird über sein
Kennzeichen ausgelesen. Schon darf Fischer mit seinem Lkw auf den Zug
rollen, der ihn in die EU zurückbringen wird.
Kein Ort steht wohl derart für die Errungenschaften, aber auch für das
Versagen der EU wie der Eurotunnel. 175 Meter unter den Wellen des
Ärmelkanals gräbt er sich von den weißen Kreidefelsen Dovers bis zum
französischen Festland. Er ist knapp 50 Kilometer lang, 35 Minuten dauert
die Durchfahrt. Fährt man heute durch den Eurotunnel, zeigt das Handy
selbst am tiefsten Punkt vier Balken Empfang und eine LTE-Verbindung.
Das ist die eine Seite. Die andere Seite erwartet einen in Calais. Wie ein
in einen Hochsicherheitstrakt umgewandelter Tagebau sieht das Lkw-Terminal
dort aus. Straßen und Gleise sind von vier Meter hohen weißen Metallzäunen
mit Stacheldraht an der Spitze umgeben. Das gesamte Gelände wird von gelben
und weißen Strahlern ausgeleuchtet. Eine vier Meter hohe Betonmauer, einen
Kilometer lang, trennt das Terminal von dem Ort, an dem bis 2016 Hunderte
Geflüchtete ihr Lager aufgeschlagen hatten. Circa 2,5 Millionen Euro hat
die Mauer gekostet, bezahlt hat sie Großbritannien. In Calais wirkt es, als
befinde sich die EU im Krieg.
Seit seiner Eröffnung vor 25 Jahren ist Fischer über 1.500-mal durch den
Eurotunnel gefahren. Wenn er sich von europäischer Seite dem Eurotunnel
nähert, steigt schon Hunderte Kilometer vor der Ankunft langsam seine
Aufmerksamkeit. Fischer und seine Kollegen haben Anweisungen, in Belgien
und Frankreich außer zum Tanken nicht mehr zu halten. Zu groß ist die
Gefahr, dass sich Geflüchtete einen Weg ins Innere des Lkws schneiden, sich
auf den Achsen verstecken oder in eine der Ersatzteilkisten unter dem
Gefährt klettern.
Läuft der Verkehr flüssig bis aufs Gelände des Eurotunnels, hat Fischer es
vorerst geschafft. Gibt es vor dem Tunnel Stau, geht der Wettstreit los.
Geflüchtete laufen vor, neben und zwischen die Lkws, suchen nach
Möglichkeiten, unbemerkt aufzusteigen. In seiner abgeschlossenen
Fahrerkabine schaut Fischer ständig in die Seitenspiegel, versucht,
potenzielle Mitfahrer schon durch seine Blicke abzuschrecken.
Für Fischer bedeuten diese Stunden jedes Mal Stress. Im Terminal werden die
Lkws zwar noch einmal mit Hunden und bei Verdacht auch mit einem Scanner
abgesucht. Schafft es trotzdem ein Geflüchteter auf Fischers Lkw nach
England, wird er unfreiwillig zum Schlepper. „Dass man nichts gemerkt hat,
würde in so einer Situation ja jeder sagen, das hilft einem dann auch
nicht mehr weiter“, sagt er.
## Aggression an der Grenze
Einen Kilometer von Calais entfernt zeigt Fischer bei seiner Rückfahrt nach
Deutschland auf die Autobahn. „Hier haben sie 2015 Reifen abgefackelt,
damit wir die Lkws stoppen mussten“, sagt er. Das Jahr 2015 hat Fischers
Sicht auf die Geflüchteten in Calais verändert. Seit er nach England fahre,
habe es immer Menschen gegeben, die nach Großbritannien wollten. Aber
früher habe man den Menschen angesehen, dass sie wirklich Hilfe brauchten.
2015 sei das anders gewesen. „Die meisten von denen waren gut gekleidete
junge Männer, mit den neuesten Smartphones“, sagt Fischer. „Die Aggression
an der Grenze hat damals ein neues Ausmaß erreicht.“
Einmal habe sich einer an der Hintertür des Lkws seines Vordermanns zu
schaffen gemacht. Da habe Fischer mit Zeigefinger und Mittelfinger auf
seine eigenen Augen gedeutet, um dem Mann klarzumachen: „I am watching
you.“ Der Mann habe dann ein Messer gezogen, ihm in die Augen geschaut und
die Klinge einmal vor seiner Kehle hergezogen.
Fischer sagt, er sei kein Rassist. Natürlich seien nicht alle Flüchtlinge
so. Es gebe auch gute, wie den afrikanischen Flüchtling, der bei Kottmeyers
im Lager arbeite. Bei ihm ist Fischer beim Be- und Entladen immer schneller
fertig als bei den Kollegen. Er will nicht verallgemeinern. Aber viele
könnten die Regeln in Deutschland nicht akzeptieren. Zumindest nach dem,
was er so auf Facebook lese und auf der Straße sehe.
Mittwoch, 13 Uhr, Shell Asten, Niederlande
Kurz bevor Fischer die Grenze nach Deutschland überquert, muss er eines
noch erledigen. Er geht in die Tankstelle und kauft Kaffee für sich und
seine Frau. Zwei Packungen Dark-Roast-Kaffeepads von Caféclub, zwei
Packungen Jacobs-Krönung-Filterkaffee, günstiger als in Deutschland. Es ist
Fischers kleiner grenzüberschreitender Handel. Heute fährt er noch bis nach
Recklinghausen. Morgen um 7 Uhr muss er seine Ladung Mikrowellen in
Gütersloh abliefern. Um 5 Uhr wird er losfahren, um den Termin zu halten.
Man könnte meinen, Axel Fischer habe viel von Europa gesehen. Immerhin
fährt er schon seit 37 Jahren Waren durch alle Länder des Kontinents. Er
hat so viele Kilometer gemacht wie nur wenige andere. Aber wenn man ihn
danach fragt, muss er laut lachen. „Autobahnen habe ich viele gesehen.
Autobahnen und Raststätten.“
30 Jan 2021
## LINKS
[1] /Zustimmung-zum-Brexit-Deal/!5737113
[2] https://www.youtube.com/watch?v=BFJq8QO0SSE
[3] /Corona-in-Grossbritannien/!5740367
## AUTOREN
Mitsuo Iwamoto
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