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# taz.de -- Impfungen und Katzenfreigang: Toleranz wird überschätzt
> Ja, ich bin intolerant: etwa gegen das Chaos in meiner
> Infektionsgemeinschaft – und die deutsche Gründlichkeitshuberei bei der
> Corona-Impfung.
Bild: Braucht es dafür eine Katzenpolizei?
Die Minderjährige, die zu meiner Infektionsgemeinschaft gehört, findet
mich intolerant. Ich stelle hierzu fest: Es stimmt. Ich habe in meinem
beruflichen Leben schon viele Krisengebiete gesehen, doch der Zustand des
Zimmers der Minderjährigen übertrifft alles. Von verschwundenen
Rotweinflaschen und übermäßigem Geturtel am Küchentisch will ich gar nicht
erst anfangen. Doch echte Intoleranz lässt sich nicht auf den eigenen
Hausstand beschränken – jedenfalls nicht, wenn einem jemand wie Reiner
Haseloff, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, im Fernsehen über den Weg
läuft.
Der Christdemokrat ist grundsätzlich ein Politiker von der Sorte, die in
der seligen Gewissheit leben, stets das Richtige zu tun. Deshalb kann es
auch nicht sein, dass Israel beim [1][Impfen] einfach besser, schneller und
effektiver aufgestellt ist als Deutschland. Im jüdischen Staat wurden
bereits rund 20 Prozent der Bevölkerung immunisiert; in Deutschland dagegen
nur 1 Prozent. 1 Prozent! So schnell wie in [2][Israel] könne es nun mal
bei uns nicht gehen, entgegnete Haseloff patzig auf die Frage, warum es so
schleppend voranginge. „Wir sind immer noch ein Rechtsstaat.“ Wie bitte?
Ist Israel kein Rechtsstaat? Mir fällt dazu nur eins ein: Null Toleranz für
Haseloff und faule Ausreden.
Die deutsche Gründlichkeit bei den Covid-Impfungen irrtiert mich zunehmend.
Wieso ist eine zeitaufwendige ärztliche Beratung unmittelbar vor der
Covid-19-Impfung derart unverzichtbar in einer Situation, in der es vor
allem auf die Impfgeschwindigkeit ankommt? Egal ob es um Cholera,
Gelbfieber, Typhus oder eine ganz gewöhnliche Grippeimpfung ging – ich kann
mich nicht erinnern, jemals über Risiken und Nebenwirkungen jenseits eines
dahingenuschelten „Einstichstelle könnte anschwellen“ aufgeklärt worden zu
sein. Schon jetzt weiß ich über die Wirkweise der einzelnen Covid-Vakzine
mehr, als ich jemals wissen wollte.
Die meisten Impfwilligen dürften sich ohnehin vorher informieren und nicht
bis zum Arztgespräch im Impfzentrum warten. Und warum sollte es nicht
reichen, einen Aufklärungszettel in die Hand gedrückt zu bekommen, so wie
es bei Hunderten anderen Eingriffen beim Arzt oder im Krankenhaus auch
üblich ist? Oder eine telefonische Beratung?
## Neidisch auf die israelische Freundin
Diese Woche gratulierte ich einer israelischen Freundin zum Geburtstag, die
mit knapp über 60 Jahren bereits ihre zweite Biontech-Spritze bekommen hat.
Dazu stelle ich fest: Ich bin neidisch. Wäre Deutschland ähnlich effektiv,
wäre mein chronisch kranker Bruder, der mit seiner Frau seit neun Monaten
in sozialer Isolation lebt, schon geimpft, meine fast 80-jährige Mutter
nicht mehr gefährdet und mein Onkel nicht an Corona verstorben. Er hatte
sich im Krankenhaus infiziert.
Die Partys, Clubs und das sogenannte normale Leben sind mir vergleichweise
egal, doch für alle gefährdeten Menschen wünschte ich mir weniger deutsche
Gründlichkeit, damit wenigstens das, was an Impfstoff da ist, subito in die
Oberarme gerammt werden kann. Sprechen wir es mal für Herrn Haseloff ganz
deutlich aus: Israel muss Vorbild sein.
Die Geduld, die von Patient*innen in Deutschland ganz allgemein im
medizinischen Betrieb erwartet wird, würde in Israel ohnehin kein Mensch
aufbringen. Arzttermine wurden in Israel schon über eine zentrale Nummer
vergeben, als noch niemand Smartphones hatte und die Minderjährige noch ein
Säugling war. Jede der vier Krankenkassen hat eigene Ärztezentren (statt
Privatpraxen zu finanzieren). Und wehe, wenn dort die Wartezeit mal mehr
als 15 Minuten beträgt! Null Toleranz! Und es sind nun diese vier
Krankenkassen, die in Israel Covid-Impfungen organisierten.
Sehr tolerant sind die Israelis übrigens, wenn es um Katzen geht. Sie sind
omnipräsent, auch in den Städten, und lagern besonders gern rund um die
Mülltonnen, quasi als Rattenschreck. Im Vergleich sind ihre deutschen
Artgenossen im Grunde unsichtbar. In Berlin soll nun aber dennoch nur noch
auf die Straße dürfen, wer kastriert und gechipt ist. Also die [3][Katzen].
Und manche deutsche Vogelliebhaber fordern nun pfiffig gleich hinterher:
Freigang für Katzen ganz verbieten!
Ich vermute mal, es müsste dafür eine Katzenpolizei aufgebaut werden, die
insbesondere im Morgengrauen alle Katzen verhaftet, die sich trotz
Ausgangssperre auf freiem Fuß befinden. Berlin würde es vermutlich so
konsequent umsetzen wie das Knallerverbot an Silvester.
Dazu stelle ich fest: Ich bin doch nicht so intolerant. Ohne Murren und mit
lautlosem Ekel entsorge ich regelmäßig die Überreste der Jagdzüge der
beiden Katzen in meiner Infektionsgemeinschaft. Sie finden Vögel allerdings
ziemlich mühsam. Die fliegen dauernd weg und sind mit all dem Gefieder
umständlich zu verzehren. Sie haben sich stattdessen auf Mäuse
spezialisiert. Und das ist auch gut so.
16 Jan 2021
## LINKS
[1] /Aktuelle-Nachrichten-in-der-Coronakrise/!5744109
[2] /Palaestinenser-warten-auf-Immunisierung/!5742211
[3] /Freigang-der-Stadtkatzen/!5739038
## AUTOREN
Silke Mertins
## TAGS
Kolumne Der rote Faden
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Schwerpunkt Nahost-Konflikt
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