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# taz.de -- Geschichten zum Jahreswechsel (I): Schrödingers Katzenkind
> Für ein Kind bei den Zeugen Jehovas ist Weihnachten das Fest der anderen.
> Eine Geschichte über das Private, über Riten und über das Glück.
Bild: Glücksfall amerikanischer Weihnachtsfilm: Szene aus „Ist das Leben nic…
Es ist Heiligabend. Irgendwann in den Siebzigern. Ich bin acht, neun, zehn
Jahre alt – und so eine Art Schrödingers Katze. Ein Paradoxon. Ich warte
nicht auf das Christkind, tue es aber gleichzeitig doch.
Wir sind Jehovas Zeugen. Wir feiern kein Weihnachten. Deswegen wird es
heute keine Geschenke geben. Wir haben selbstverständlich auch keinen Baum.
Wir werden weder „Stille Nacht“ noch „Kling Glöckchen Klingelingeling“
singen. Spätestens ab eins oder zwei ist dies ein toter Tag für mich.
Draußen passiert nichts mehr. Niemand ist mehr auf dem Spielplatz oder am
Schlittenhügel, die Geschäfte sind geschlossen, auf den Straßen sieht man
nur noch vereinzelte Autos, irgendwann gar keine mehr.
Zuhause passiert auch nichts. Weil es ja, wie meine Mutter sagt, „ein Tag
wie jeder andere ist“. Also tue ich das, was ich immer an toten Tagen tue:
Ich schaue fern. Es läuft „Wir warten auf das Christkind“ und ich warte
mit. Die Sendung soll die Zeit bis zur Bescherung verkürzen. Ich lasse mir
die Zeit bis zum Nichts verkürzen.
Ich habe ein paar Weihnachtserinnerungen von früher. Als wir noch keine
Zeugen waren. Aber die sind nicht sehr eindrucksvoll. Einmal fragte meine
Mutter meinen Onkel, ob er für mich den Weihnachtsmann spielen könne. Das
war einerseits nett, andererseits aber auch albern. Ich wusste gleich, dass
das nicht der echte Weihnachtsmann war. Ich erkannte Onkel Bernd erst an
seinem Rasierwasser, dann an seinen Augen. Da nutze auch das
Stimmeverstellen nichts. Ich weiß noch, dass ich dachte: Okay, das ist ein
Spiel. Kein besonders lustiges, aber meinetwegen: Dann spielen wir eben.
Als ich noch kleiner war, lebten wir in England. Ob und wie wir dort
Weihnachten feierten, weiß ich nicht mehr. Ich habe ein Bild vor Augen: ein
großer, aufwendig geschmückter Tannenbaum in unserem Wohnzimmer in
Kensington. Aber vielleicht ist diese Erinnerung auch nur eine
nachträgliche Konstruktion, die mehr mit später gesehenen Filmen und
Buchillustrationen zu tun hat als mit selbst Erlebtem.
Jetzt sitze ich auf dem Sofa und schaue fern. Medial und live. Hin und
wieder, wenn mich die Sendung langweilt, stehe ich auf, gehe an die
Balkontür, manchmal auch auf den Balkon, und schaue in die Fenster anderer
Menschen. Ich habe sogar ein Fernglas. Meine Mutter hat es bei Quelle
bestellt. Für die Jehovas-Zeugen-Bezirkskongresse, die oft im Sommer in
großen Sportstadien stattfinden. Wenn man Pech hat, sitzt man so weit von
der Bühne entfernt, dass man die Redner oder die Darsteller des Bibeldramas
nicht mehr gut erkennen kann. Dann ist ein Fernglas sehr nützlich. So
nützlich wie am Heiligabend, wenn man seine Nachbarn beobachten möchte.
Wir wohnen in einer Sozialwohnungssiedlung mit drei- und vierstöckigen
Häusern. Das heißt, es gibt gegenüber einige Fenster, in die man schauen
kann. Bei vielen Familien sieht man allerdings kaum etwas, weil die
Gardinen zugezogen sind. Nur wenn es dunkel wird und innen das Licht
angeht, erkennt man Schemen hinter den Stores. Bei manchen aber sind die
Gardinen offen. Weil sie vielleicht gerade gelüftet haben. Oder weil sie
sie nie zuziehen. Dann sehe ich, wie Menschen den Baum schmücken, Geschenke
darunterlegen, hin und her laufen, den Tisch decken … Ich beobachte die
Riten und Gebräuche eines fremden Volkes. Ich bin ein acht-, neun-,
zehnjähriger Forscher. Ein Kinder-Ethnologe.
Ich vergleiche. Fernglas mit Fernseher. Im Fernseher ist bei uns alles
schwarzweiß. Das ist schon mal ein großer Unterschied. Weihnachten ohne
Farben, ohne grünen Baum, ohne rote Kugeln und buntes Geschenkpapier sieht
anders aus. Komischerweise scheint mir die Schwarzweiß-Kasten-Version
heiterer zu sein. Denn nach „Wir warten auf das Christkind schaue ich
weiter. Zunächst muss ich noch von sechs bis kurz vor acht die ZDF-Sendung
„Wenn die anderen feiern“ überstehen. Obwohl kein Titel besser auf meine
Situation passen könnte, gefällt mir dieses öde, besinnliche
Festtags-Potpourri nicht. Aber nach der „Tagesschau“ oder „Heute“ kommt,
wenn ich Glück habe, keine Weihnachtsshow mit Hermann Prey und dem Tölzer
Knabenchor, sondern ein amerikanischer Weihnachtsfilm: „Jede Frau braucht
einen Engel“ mit Cary Grant, „Weiße Weihnachten“ mit Bing Crosby und Dan…
Kaye, „Wir sind keine Engel“ mit Humphrey Bogart und Peter Ustinov – oder:
„Ist das Leben nicht schön?“ mit James Stewart.
Mir gefällt die Weihnachtsmusik in den Hollywood-Filmen besser als die in
den real existierenden deutschen Wohnzimmern. Selbst wenn es kein
Pop-Soundtrack ist wie im Winterwonderland von „White Christmas“. Wenn am
Ende von „Ist das Leben nicht schön?“ bei der großen Weihnachtsfeier „H…
The Herald Angels Sing!“ angestimmt wird, klingt das für mich fröhlich und
zuversichtlich. Nicht lustlos und trübe wie die leiernden Lieder, die
gemeinsam mit dem Kettenrauch von Herrn Schüssler durch das Kippfenster des
Schüssler-Wohnzimmers quellen: „Oh Tannenbaum“, „Ihr Kinderlein kommet�…
„Süßer die Glocken nie klingen“. Ich stehe auf dem Balkon, das Fernglas in
der Hand, höre den deprimierenden Familiengesang von nebenan, rieche den
Qualm, werde manchmal Ohrenzeuge, wie unsere Nachbarn sich gegenseitig oder
ihre Kinder anschnauzen und ich denke: Wenn ich Weihnachten feiern würde –
was ich natürlich nicht möchte, weil das Jehova nicht gefiele – dann nicht
wie die Schüsslers. Oder wie die Menschen im Haus gegenüber. Ich würde
feiern wie die schwarzweißen Menschen im Fernseher.
Aber wir feiern ja nicht. Zwischen den Fernsehsendungen gibt es Essen.
Keine Gans. Gans ist Weihnachtsessen. Bei uns gibt es Ente. Oder Pute.
Meine Mutter ist sehr gut im Schummeln. Ohne sich selbst einzugestehen,
dass sie schummelt. Enten und Puten gäbe es vor Weihnachten viel mehr und
günstiger als sonst. Warum sollte man sie also jetzt nicht kaufen? Und wenn
man sie kauft, muss man sie auch zubereiten. Vor dem Essen falten wir die
Hände im Schoß und meine Mutter spricht laut ein Gebet, wie immer vor den
Mahlzeiten. Weihnachten wird darin natürlich nicht erwähnt. Auch ansonsten
kommt Jesus beim Beten nur am Rande beziehungsweise am Ende vor. In der
Schlussformel: „Im Namen deines lieben Sohnes Jesus Christus. Amen.“
Nach dem Essen schaue ich weiter fern. Der Heiligabend ist vorbei, wenn das
Testbild erscheint. Nach Mitternacht. Meine Mutter zensiert nichts. Ich
darf mir die volle Weihnachtsdröhnung geben. Und sie schaut zeitweise mit.
Manchmal erzählt sie währenddessen, wie sie als Kind, damals in ihrem Dorf
in Vogelsberg, Weihnachten gefeiert hat. Sie rechtfertigt sich dafür nicht
und muss auch nicht betonen, dass das ja eigentlich falsch war. Auch hier
schummelt sie geschickt. Es ist eine allgemeine nostalgische „So war das
damals im Winter bei uns“-Erzählung: Meterhoher Schnee, Schlittenfahren,
Schneemänner bauen – und dann eben Weihnachten.
Nur dass ich in die anderen Fenster schaue, gefällt ihr nicht. Deswegen
muss ich immer warten, bis sie aus dem Zimmer geht, bevor ich wieder zum
Fernglas greifen kann. Nachmittags habe ich durch das Fernglas beobachtet,
wie die Menschen die Feier vorbereitet haben. Jetzt sehe ich, wie sie
feiern. Ich sehe, wie Geschenke überreicht und ausgepackt werden, ich sehe
Kinder, die Blockflöte spielen, Menschen die synchron den Mund öffnen und
schließen, also vermutlich singen. Ich sehe auch hin und wieder, wie ein
Weihnachtsmann den Raum betritt, Geschenke verteilt und wieder geht.
Ich bin nicht traurig deswegen. Ich nehme die Dinge so, wie sie sind. Ich
weiß ja, dass es falsch ist, Weihnachten zu feiern. Weil es ein
„heidnisches“ Fest ist. Ich kenne die Fakten, die Wahrheit. Als meine
Klassenlehrerin Frau Goetze einmal im Religionsunterricht über Weihnachten
spricht, teile ich diese Fakten mit meinen Mitschülerinnen. Offiziell nehme
ich an „Reli“ nicht teil. Ich bin befreit. Ich bleibe aber im Raum, weil
die Schule ihre Aufsichtspflicht erfüllen muss. Ich werde für diese Stunde
ganz nach hinten gesetzt und mit Stillarbeits-Aufgaben versorgt. Aber ich
kann nicht anders und höre zu. Und fühle mich regelmäßig provoziert, wenn
Frau Goetze vorne Unwahrheiten verbreitet. Ich mag Frau Goetze. Deswegen
bin ich oft umso enttäuschter, dass sie einen solchen Quatsch erzählt.
Diesmal behauptet sie, dass man an Weihnachten den Geburtstag von Jesus
feiere. Ich versuche, mich zusammen zu reißen, atme tief durch, presse die
Lippen aufeinander; irgendwann, kurz vor dem Ende der Stunde, kann ich
nicht mehr, es platzt aus mir heraus: „Nein, das stimmt alles nicht. Es
kann überhaupt nicht sein, dass Jesus im Dezember geboren wurde.
Wahrscheinlich wurde er Anfang Oktober geboren!“
Frau Goetze schaut mich überrascht an: „Wie kommst Du denn darauf?“
Ich erkläre, dass bei Jesu Geburt laut Lukas 2 nachts Hirten auf dem Feld
gewesen seien: „ … aber der Dezember und der Januar sind die kältesten
Monate da, also in Betlehem und drumherum. Deswegen sind die Schafe dann
nachts im Stall und nicht auf dem Feld!“ Und überhaupt sei Weihnachten erst
im 4. Jahrhundert von der katholischen Kirche eingeführt worden.
„Im 4. Jahrhundert?“ Meine Lehrerin scheint das zum ersten Mal zu hören.
„Ja“, sage ich, „die Katholiken wollten, dass die heidnischen Römer sie …
finden, und die haben vom 17. bis 24. Dezember die Saturnalien gefeiert.“
„Die was?“, fragte mein Kumpel Micha.
„Die Saturnalien, die Wintersonnenwende … das war ein Fest zu Ehren von
Saturn, dem Sonnengott … Da wurde dann viel Alkohol getrunken, gewürfelt
und Unzucht getrieben.“
„Was is’n Unzucht?“, fragt Susi.
„Das ist …“ beginne ich zögernd.
„Naja, bumsen und so!“, ruft Matze. Alle grölen. Und kriegen sich kaum
wieder ein.
„Jetzt ist Schluss!“, schreit Frau Goetze. „Hartmut, du machst jetzt bitte
deine Aufgaben und wir ….“ In diesem Moment klingelt es. Selten habe ich
Frau Goetze so erleichtert gesehen.
Manchmal halte ich aber auch mit der Wahrheit hinterm Berg. Wenn mich nach
Weihnachten Kinder, die ich nicht so gut kenne, auf dem Spielplatz oder
beim Schlittenfahren fragen, was ich geschenkt bekommen habe, lüge ich,
dass sich die Balken biegen. Es ist mir zu anstrengend, ihnen jetzt Gott
und die Welt zu erklären. Außerdem will ich ja grade spielen oder rodeln
und nicht in den Predigtdienst gehen. Meine Klassenkameraden wissen, dass
ich eine komische Religion habe, auch wenn sie sich oft darunter nichts
vorstellen können. Bei diesen Kindern hier müsste ich quasi bei null
anfangen.
Und wenn ich ehrlich bin: Ein wenig schäme ich mich manchmal auch. Also
flunkere ich und zähle alles auf, was mir meine Mutter im Laufe des Jahres
gekauft hat und behaupte, das wären meine Weihnachtsgeschenke gewesen. Oder
ich denke mir was aus, Dinge, die ich gerne besäße: Einen Lederball,
Adidas-Fußballschuhe, eine Stereoanlage …. Ich finde so richtig gelogen ist
das nicht. Ich weiß ja, wenn meine Mutter es sich leisten könnte, würde sie
mir das alles tatsächlich schenken. Nur eben nicht zu Weihnachten oder zum
Geburtstag.
Ich rechne nicht damit, jemals Weihnachten zu feiern. Ich gehe zu diesem
Zeitpunkt natürlich noch davon aus, dass ich „in der Wahrheit“ bleibe.
Außerdem wird bald sowieso Harmagedon kommen, und danach wird niemand mehr
Weihnachten feiern wollen. Weil nur wir wahren Christen diese große
Endschlacht überleben werden. Oder anders gesagt: Gott wird die notorischen
Weihnachts-, Ostern- und Geburtstagsfeierer bei Harmagedon vernichten.
Wobei die Bereitschaft, heidnische Feste zu begehen selbstverständlich
nicht das einzige Vernichtungskriterium ist. Ich rechne auch nicht damit,
dass die Wachtturm-Gesellschaft ihre Lehren und Regeln ändert. Ich weiß
damals noch nicht, dass sie das schon einige Male getan hat. Darüber wird
nicht gesprochen. Bezüglich Weihnachten drehte sich die Doktrin im Jahr
1928 um 180 Grad. Davor wurde sogar in der Zentrale in Brooklyn gefeiert,
im sogenannten „Bethel“, danach war es streng verboten. Geburtstagsfeiern
wurden 1951 zum Tabu, fünf Jahre zuvor hatten die Zeugen-Chefs schon
Sylvester abgeschafft. Aber wie gesagt, davon weiß ich noch nichts. Noch
bin ich ohne Zweifel. Noch glaube ich. Auch daran, dass es mir nichts
ausmacht, kein Weihnachten zu feiern.
Heute, über 40 Jahre später, ist mir klar, dass dem nicht so war. Seit
meine inzwischen 21-jährige Tochter laufen kann, schmücke ich mit ihr den
Baum. Den Plastikbaum. Bunt, grell und üppig. Es ist ein amerikanischer
Pop-Baum. Der – da bin ich mir sicher – auch in Schwarzweiß sehr gut wirken
würde. Obwohl oder gerade weil er so bunt ist. Und wir hören
englischsprachige Weihnachtsmusik. „Santa Claus is Coming to Town“, „I saw
Mommy Kissing Santa Claus“, Dylans absurdes waldschratiges Weihnachtsalbum
„Christmas in the Heart“ – oder mein Favourite: „Merry Christmas“ von…
Ramones. Und zum Weihnachtsessen liegen Christmas Cracker neben den
Tellern, die englischen Weihnachts-Knallbonbons. Sie enthalten meistens ein
kleines überflüssiges Plastikspielzeug, einen doofen Witz und eine
Papierkrone. Und so sitzen wir – meine Freundin, meine Tochter und ich –
dann mit Krönchen auf dem Kopf am Tisch und essen. Und es gefällt mir. Es
hat nur nichts mit dem Weihnachten zu tun, dass um mich herum gefeiert
wird. Es ist kulturelle Aneignung deluxe. Eine private, familiäre, aber
artifizielle Pop-Tradition.
Ich feiere Weihnachten und ich feiere es nicht. An Heiligabend bin ich
immer noch Schrödingers Katzenkind. In der Ü-50-Variante.
30 Dec 2020
## AUTOREN
Hartmut El Kurdi
## TAGS
Zeugen Jehovas
Weihnachten
Kindheit
Zusammenleben
Religion
Kolumne Die Wahrheit
Zeugen Jehovas
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