# taz.de -- Gesellschaftliche Probleme und Corona: Wir Verirrten | |
> Die Probleme, die die Gesellschaft schon vor der Pandemie hatte, werden | |
> jetzt noch viel größer. Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit den Alten. | |
Bild: Der Ort, wo wir landen werden? Tankstelle, in diesem Fall nicht in Bremer… | |
„Aus Seniorenheim ausgebüxt: Polizei findet Corona-Infizierte“, lautet die | |
Schlagzeile des NDR. Eine einundachtzigjährige Frau verlässt ihr | |
„Seniorenheim“ im Landkreis Rotenburg, angeblich leicht bekleidet, | |
angeblich verwirrt, Polizisten nehmen sie von einer Tankstelle in | |
Bremervörde mit, es stellt sich heraus, dass sie infiziert ist und die | |
Polizisten müssen also erst einmal in Quarantäne. | |
Diese kleine Geschichte ist eine hübsche Metapher für den Status quo, eine | |
Zustandsbeschreibung unserer Welt. So irren wir also derzeit herum, an | |
einer Tankstelle in Bremervörde: Verwirrt, leicht bekleidet, infiziert | |
infizieren wir die, die uns helfen wollen oder dazu verpflichtet sind. | |
Haben wir inzwischen etwas falsch gemacht? Ist eine alte Frau schuldig zu | |
sprechen, die „verwirrt“ ist, sich selbst in Gefahr bringt, durch ihre | |
leichte Bekleidung, ihr Herumirren in diesem verwirrten Zustand in dieser | |
verwirrenden Welt? Und wenn sie oder wir nicht schuldig sein können, weil | |
wir verwirrt, weil wir alt oder unwissend sind, weil wir dumm sind | |
vielleicht, weil wir gar nicht wissen, was wir tun und wie wir es besser | |
tun könnten, weil es alles insgesamt so verwirrend ist, wer ist dann | |
schuld? | |
Eine verwirrte, alte Frau kann nicht mehr falschen Verhaltens beschuldigt | |
werden, ich kann es schon. Ich fühle mich verantwortlich, ich fühle mich | |
schuldfähig, ich bin einsichtig, in der Lage, mich zu informieren und | |
Entscheidungen zu treffen. Aber zwischen dieser alten Frau und mir gibt es | |
noch sehr viel dazwischen. Ist die „Selberdenkerin“, die überzeugt davon | |
ist, das Richtige, das Gute zu tun, ist die vielleicht auch verwirrt, | |
verirrt in der verwirrenden Welt? | |
Heute Morgen las ich, dass das UKE in Hamburg Impftermine absagen musste, | |
weil es keinen Impfstoff hatte. Verantwortlich macht es die Sozialbehörde, | |
der NDR schreibt sogar, das UKE sei „sauer“ auf die Sozialbehörde. Die | |
Sozialbehörde weist die Schuld von sich, der Impfstoff sei gleichmäßig | |
verteilt worden, und zuerst sollten die Heime drankommen. | |
Hamburg steht mit dem Impfen nicht gut da, wenn man sich die deutschen | |
Verhältnisse ansieht. Mecklenburg, zum Beispiel, hat schon viel mehr | |
geimpft. Sind wir etwa schlecht? Jeder übt nun Kritik an jedem, alle | |
beschuldigen alle, und vielleicht zu Recht, vielleicht nicht, wer weiß das | |
schon? | |
Ich kann mir da fast nie ein Urteil erlauben. Was aber immer deutlicher | |
wird, die Probleme, die die Gesellschaft schon vor der Pandemie hatte, die | |
werden jetzt zu noch viel größeren Problemen. So wie Infektionsherde, die | |
den Verlauf einer Krankheit beschleunigen. | |
Am Freitag hörte ich im Vorbeilaufen an der Thadenstraße Fetzen einer | |
Unterhaltung mit. „Warum erst die Alten impfen, die doch sowieso bald | |
sterben?“, fragte ein Mann einen anderen. Der andere Mann stimmte zu. | |
„Schwachsinn!“ | |
Ich bin nun wirklich nicht die erste, die sich fragt, wie es kommen konnte, | |
dass in unserer Gesellschaft so wenig Mitgefühl mit alten Menschen | |
herrscht. Zumal alle, die sich jetzt so fühllos zeigen, ja selbst diesem | |
Club irgendwann beitreten werden. | |
Für das Altwerden, und das zeigt sich jetzt besonders deutlich, hat unsere | |
Gemeinschaft kein gutes Konzept. Schwierig sind nun auch Kinder zu | |
handhaben, Kranke, Menschen mit Behinderung, arme Menschen, die in großen | |
Familien auf engem Wohnraum leben, die sich gezwungen sehen, den | |
öffentlichen Nahverkehr zu nutzen, dann die Ungebildeten, die, die sich | |
außerhalb der Gesellschaft sehen, die Obdachlosen, die Migranten in den | |
Sammelunterkünften. Die verteilen das Virus. Und natürlich die | |
Rücksichtslosen. | |
Aber auch die sind ein Problem, das die Gesellschaft gezeugt hat. | |
Vielleicht sogar das größte. | |
Ich gehöre nicht zu einer dieser schwierigen Gruppen. Meine Kinder sind | |
groß, ich bin noch keine Greisin und ich habe eine Unterkunft. Aber | |
irgendwann werde ich alt sein. Irgendwann werden wir alle alt sein. Werden | |
wir uns dann eines Tages an einer Tankstelle in Bremervörde wiederfinden, | |
im Winter, ohne Jacke, wertlos, in einer Welt, in der nur der Schaffende | |
zählt? Ist das der unabänderliche Lauf der Dinge? | |
14 Jan 2021 | |
## AUTOREN | |
Katrin Seddig | |
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