Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Barrierefreie Geschosse
> Das Lebensalter steigt und mit ihm der Anteil der Senioren in der
> Bevölkerung. Wie ist es so, das Leben in der Gerontokratie?
Bild: Das in der Hand ist kein Gehstock: Alice Cooper in Wacken
Das Ehepaar Gaismeier gewährt uns Einlass in sein Reutlinger Heim voller
künstlicher Intelligenz und technischer Raffinessen. Alle Ebenen des
dreistöckigen Eigenheims sind mit einem smarten Treppenlift erreichbar. Der
fährt bei Ankunft Räder aus und transportiert einen als Rollstuhl weiter
durch die barrierefreien Geschosse. Per Sprachsteuerung aktiviert dieser
Multifunktionsroboter auch Saug- und Wischfunktionen und „er bringt mir zum
Fernsehen eine Flasche Bier“, freut sich Opa Gaismeier diebisch. „Und mir
serviert er ein Likörchen“, ergänzt Oma Gaismeier nicht minder begeistert.
Vor dem Haus parken Rollatoren, weitere elektrische Rollstühle und ein
selbstfahrender Senioren-SUV baden-württembergischer Bauart. Dafür dass die
beiden auf ein Erwerbsleben als Bäckereifachverkäuferin beziehungsweise
Molkereipförtner zurückblicken, erscheint der Luxus ein wenig ungewöhnlich.
„Gewusst wie“, kichert Oma Gaismeier. Ihr Gatte grinst verstohlen:
„Geschäftsgeheimnis.“ Dann prosten sie sich zu.
Ein Besuch bei der Polizei bestätigt unsere Befürchtungen. „Vor 20 Jahren
fing es mit frisierten Rollstühlen an“, berichtet Kriminalkommissarin Julia
Naderer. Damals habe man deren Tun noch belächelt. Mittlerweile begründen
die Aktivitäten der Betagten eine eigene Sonderkommission, die „Soko
Greis“. „Sie kommen doch aus der Vergangenheit, da kennen Sie doch sicher
den Enkeltrick?“, fragt sie. Wir bejahen. Den gebe es immer noch – nur
andersherum, berichtet Naderer. Keine Woche vergehe, in der nicht eine
verstörte junge Person um die 20 auf der Wache erscheine und davon
berichte, dass ihr entfernter Großonkel nicht mehr erreichbar sei, seitdem
sie ihm eine nicht unbeträchtliche Summe Geld auf dessen Auslandskonto
überwiesen habe. Geld, das angeblich für Notarkosten gebraucht werde, um
ein vorzeitiges Erbe auszuzahlen. „Die abgebrühten Alten erzählen den
jungen Leuten von der lange zurückliegenden Auswanderung und spielen mit
zittriger Stimme Bedauern vor, jetzt erst den Kontakt gesucht zu haben.
Dies wolle man nun gutmachen und mit warmen Händen geben.“
Manche Oldies böten auch Bitcoin-Zahlungen an, da seien sie mittlerweile
sehr flexibel, weiß die Kriminalkommissarin. „Deren Hirne arbeiten einfach
viel besser als die der Senioren, die Sie aus Ihrer Zeit noch kennen, als
Verkalkung und Gedächtnisstörungen mit Tai Ginseng und Doppelherz bekämpft
wurden.“ Medizin und Medizintechnik der Zukunft hielten die Hirne der
Senioren mit Hirnschrittmachern, hocheffektiven Durchblutungsförderern und
Gefäßstabilisatoren eben auf Hochleistungsniveau. Hinzu komme: Die Greise
haben kaum Renteneinkünfte, aber viel Zeit und Erlebnishunger. All diese
Umstände zusammengenommen setzten, so Naderer, immens viel kriminelle
Energie frei.
## Opa Ulf
Hoffnung, dass nachlassende Vitalkräfte diesem Treiben irgendwann ein Ende
setzen, hat die Kommissarin nicht. Sie erzählt von Opa Ulf, dem die Soko
schon seit Jahren das Handwerk zu legen versucht. Er soll zu einem
Hackerkreis von Greisen gehören, die regelmäßig die Wartelisten für die
Organvermittlung zu ihren Gunsten beeinflussen. „Nun säuft sich der
107-Jährige mit seiner vierten Leber durch Vergnügungsstätten jeder Art, wo
er sich mit seinem hochgerüsteten Rollator, dessen Griffe gleich 12
Bierhalter zieren, unter anderem an den Bierständen des Wacken-Festivals
feiern lässt.
Apropos Wacken. Auch dies ist mittlerweile eine Zusammenkunft der
Grauköpfe. Veranstalter sind immer noch Holger Hübner und Thomas Jensen
(zusammen 213), die wir am Ende unserer Zukunftsreise in Flensburg
besuchen. Wegen der zunehmenden Harthörigkeit ihres Publikums mussten sie
die Lautsprecherleistung nach oben anpassen, rufen sie uns über ihren
Bürotischlein zu. Leider schrecke das Nachwuchsbands ab. „Denen ist das zu
laut. Aber die kommen auch noch in unser Alter“, meint Hübner optimistisch.
„Warten wir’s ab.“
12 Jan 2021
## AUTOREN
Günter Flott
## TAGS
Die Wahrheit
Wacken
Rentner
Arbeit
Klara Geywitz
Aufräumen
Kolumne Die Wahrheit
Indonesien
Kolumne Die Wahrheit
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Zombies für den Arbeitsmarkt
Eine Recruitingfirma bereitet verstorbene Mitarbeiter digital zur posthumen
Verwendung auf und stößt in ganz neue lethale Arbeitsfelder vor.
Die Wahrheit: Wohnen in den Weiten des Nichts
Wider den Wohnraummangel: Bundesbauministerin Klara Geywitz hat eine
luftige Idee für künftige Unterkünfte.
Die Wahrheit: Wer den Staub sät …
Ein niederländischer Forscher studiert seit Jahren konstruktive Effekte
fortschreitender Verwahrlosung im heimischen Umfeld.
Die Wahrheit: Beim Treffen der Obleute
Ob diese Kolumne nicht zu weit geht? Soviele Obs in einem Text... obwohl,
ob der Häufigkeit der Silbe in einem einzigen Artikel – lesen Sie selbst!
Die Wahrheit: „Fluffig wie Wollwatte“
Im Westen von Sumatra gilt ein hohes Alter als Zeichen von Reife und
körperlicher Attraktivität. Das lässt die jungen Leute alt aussehen.
Die Wahrheit: Mimimi mit Bandscheibe
Der Bandscheibenvorfall ist die Jugendweihe für den Nachwuchssenioren. Wer
Bandscheibe hat, landet im goldenen Herbst der Frühvergreisung.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.