# taz.de -- Der Coronawinter im Skigebiet: Volle Pisten, leere Zimmer | |
> In Reit im Winkl wäre jetzt Hochsaison. Touristen sind da. Doch Lifte | |
> stehen, die Tourist-Info ist zu, und Baumeggers Pension beherbergt keine | |
> Gäste. | |
Bild: Hans Höflinger betreibt normalerweise einen Lift. Doch der ist jetzt ges… | |
REIT IM WINKL taz | Lisa Ruh hat Post bekommen. Eine Familie aus | |
Nordrhein-Westfalen schreibt der Vermieterin von Ferienwohnungen: „Wir | |
wissen gar nicht, was wir an Weihnachten machen sollen. Die letzten 15 | |
Jahre waren wir ja immer bei euch in [1][Reit im Winkl].“ Einen solchen | |
Trennungsschmerz empfinden gerade viele Menschen in Deutschland, die es | |
gewohnt waren, die Weihnachtsferien in den Bergen zu verbringen, zum | |
Beispiel in den bayerischen Alpen. | |
Ihr Gästehaus Bergwinkl mit den fünf Wohnungen muss Lisa Ruh geschlossen | |
halten, wie alle anderen Vermieter auch. Die 52-Jährige ist zum Gespräch in | |
die ebenfalls geschlossene Tourist-Info gekommen. Sie sagt: „Corona ist für | |
jeden einfach nur scheiße.“ | |
Es ist ein schöner Wintertag im Chiemgau, minus vier Grad, die Sonne lässt | |
den Schnee weiß funkeln. „Ein bisschen wenig ist bislang gefallen“, meint | |
Florian Weindl, Leiter der Tourist-Info. Doch auf der ebenen Wiese ziehen | |
Langläufer ihre Bahnen, Familien sind mit Kindern, Hund und Schlitten | |
unterwegs. Weindl kann das von seinem Fenster aus gut beobachten. Arbeit | |
hat die Info genug. „Das Telefon steht nicht still“, sagt Weindl. „Die | |
Leute rufen an und fragen, ob die Pisten zugänglich sind, ob man langlaufen | |
und Touren gehen kann, ob die Parkplätze und die Toiletten geöffnet sind.“ | |
## Die Menschen kommen, aber nur für einen Tag | |
Die Gastronomie, die Hotels und Pensionen sind geschlossen, die Liftanlagen | |
stehen still – doch die Berge und der Schnee sind noch da. Und die Menschen | |
kommen, aus der näheren und der weiteren Umgebung. Das ist das Dilemma | |
dieses Coronawinters in den Skigebieten. Ein Sprecher des bayerischen | |
Gesundheitsministeriums hat die Anfrage der taz, inwieweit es | |
Tagestouristen etwa aus München gestattet ist, in die Berge zu fahren und | |
sich auf eigene Faust mit Skiern auf den Weg zu machen, beantwortet: „Das | |
ist erlaubt, sofern die allgemeinen Abstandsregeln und | |
Kontaktbeschränkungen eingehalten werden.“ Auf den Parkplätzen in Reit im | |
Winkl sieht man Autos aus halb Bayern – aus München, Altötting oder aus | |
Passau. | |
Am vergangenen Wochenende ist im Gebiet Spitzingsee, Landkreis Miesbach, | |
kaum mehr ein Durchkommen. Einheimische berichten, sie hätten dort | |
überhaupt noch nie so viele Besucher gesehen, die sich auf den Straßen und | |
an den Hängen drängten. Der Landrat Olaf von Löwis veröffentlicht eine SMS | |
an Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder (beide CSU): „Bei uns ufert der | |
Tagestourismus aus. Es brennt wirklich.“ | |
Und im Ski-Mekka Garmisch-Partenkirchen muss Bürgermeisterin Elisabeth Koch | |
(CSU) einschreiten: Dort wird der obere Bereich der bekannten | |
[2][Kandahar-Abfahrt] von Raupen präpariert, weil nach Neujahr der Deutsche | |
Skiverband zum Training kommen will. Tourengeher aber beeindrucken die | |
Warnschilder nicht, sie kraxeln hinauf, ziehen sich gar an den Seilen der | |
Raupen nach oben. Koch lässt schließlich das gesamte Gebiet sperren. Sie | |
sagt: „Es ist traurig, dass man so etwa machen muss. Wo sind wir | |
hingekommen?“ | |
Bisher sind dies eher extreme Ereignisse, der Ansturm verteilt sich. Doch | |
wie viele Ski-Tourengeher passen auf einen Hang, wie viele Langläufer in | |
ein Gebiet, wie viele Spaziergänger an den Berg – ohne dass es zu eng und | |
gefährlich wird mit möglichen Corona-Ansteckungen? Spricht man mit dem Reit | |
im Winkler Bürgermeister Matthias Schlechter, so hört man einiges an | |
Zweifel heraus. Aber er sagt: „Wir sperren den Ort nicht zu.“ Andere im | |
Dorf würden sich hingegen wünschen, dass die bayerische Staatsregierung den | |
Bürgern die Fahrt in die Alpen verbietet. Dass sie sich in der Freizeit nur | |
noch höchstens fünf Kilometer von ihrer Wohnung entfernt aufhalten dürften. | |
Von Stunde zu Stunde wird in Reit im Winkl nun entschieden, wie man mit der | |
Straße zum 1.200 Metern hoch gelegenen Skigebiet [3][Winklmoosalm] | |
verfährt, 500 Meter über dem Ort. Ist die Straße gesperrt, parken die Leute | |
davor und verstopfen die Umgebung. Dann wird doch geöffnet, der Parkplatz | |
oben aber geschlossen, wenn er mit 450 Autos gefüllt ist. Der Christsoziale | |
Schlechter spricht von einem „Schlamassel“. Er verstehe, „dass die Mensch… | |
aus den Städten raus in die Natur wollen“, aber „es soll sich nicht | |
ballen“. | |
## Der Liftbetreiber kümmert sich um Toiletten und Parkplätze | |
Einer, der nichts davon hat, ob die Leute sich ballen oder nicht, ist Hans | |
Höflinger. Dem 67-Jährigen mit Vollbart gehört zusammen mit seinem zehn | |
Jahre älteren Bruder die Liftanlage rauf zur Winkelmoosalm. Aber Lifte | |
dürfen nicht fahren. So steht Höflinger in seinem schwarzen Anorak oben auf | |
der Winklmoosalm vor seiner stillen Anlage und lamentiert: „Die geforderten | |
Abstände hätten wir ganz sicher eingehalten. Aber es hilft ja nichts.“ | |
Hans Höflinger bleibt in diesen Tagen nur die Aufgabe, sich um die | |
Parkplätze und die Toiletten zu kümmern. Vor einer geschlossenen Hütte | |
sitzt eine Familie und verzehrt die von daheim mitgebrachte Brotzeit. | |
Höflinger lächelt, wenn er sagt: „So einen Winter haben wir noch nie | |
gehabt, es ist schon trostlos.“ | |
Unten in Reit im Winkl steht auf einem Plakat die Aufschrift: „Gastgeber | |
mit Herz“. Doch der Ort ist vor allem – leer. „Am liebsten bin ich den | |
ganzen Tag lang beschäftigt“, erzählt Biggi Baumegger. Die 53-Jährige | |
betreibt das Landhaus Lenzenhof, das ist ein mächtiges alpenländisches Haus | |
unter Denkmalschutz, direkt neben der Pfarrkirche St. Pankratius. Der | |
Lenzenhof hat ein Restaurant, neun Hotelzimmer und zwei Apartments. | |
Baumegger hat sonst Beschäftigte auf acht Vollzeitstellen zur | |
Unterstützung, doch jetzt ist keiner da. Sie sind in Kurzarbeit oder haben | |
gekündigt. „Ich musste alles stornieren und habe versucht, die Buchungen zu | |
verschieben“, sagt die Gastwirtin. | |
Ende Oktober waren die letzten Gäste zum Wandern da, im November hatten sie | |
geschlossen und wollten durchschnaufen für den Winter. Doch es kam anders. | |
Am meisten macht ihr, wie allen anderen auch, die Unplanbarkeit der | |
nächsten Monate zu schaffen. Für April hatte sie Umbauten vorgesehen, um im | |
Mai in den Sommer zu starten. Doch was ist, wenn der Lockdown im April | |
beendet ist? Will sie dann erst einmal renovieren und später öffnen? Jetzt | |
wird im Lenzenhof abends Essen „to go“ gekocht. Auf der Karte stehen | |
Bandnudeln mit Garnelen, Spare Ribs oder Hirschragout. „Damit wir | |
wenigstens ein bisschen was zu tun haben“, meint Baumegger. 30 bis 50 | |
Mahlzeiten verkauft sie so am Abend. | |
## 3.000 Einwohner, 5.000 fehlende Gäste | |
3.000 Einwohner hat Reit im Winkl. Jetzt in der Zeit, die man üblicherweise | |
Hochsaison nannte, fehlen 5.000 Gäste. Zwei Drittel des Ortes sind auf die | |
eine oder andere Art mit dem Tourismus verbunden. Souvenirgeschäfte wie das | |
Gschenkladl an der Dorfstraße sind geschlossen. Und es gibt Unmut unter | |
den Vermietern. „Die kleinen Selbstständigen bekommen keinerlei | |
Corona-Entschädigung“, klagt Lisa Ruh. Denn bei den Auszahlungen werde | |
zwischen gewerblichen und privaten Vermietern unterschieden. Gewerblich | |
ist, wer mehr als die Hälfte seines Einkommens damit verdient. Vermietet | |
jemand aber nur eine oder zwei Wohnungen, gilt er als privat. Und Letztere | |
gehen nach Aussage von Ruh und dem Tourist-Info-Leiter Weindl leer aus. | |
Weindl sagt: „Dabei prägt die Struktur mit vielen Kleinvermietern den Ort, | |
das ist familiär.“ Gerade er habe diesen Vermietern immer wieder empfohlen: | |
„Ihr müsst investieren, die Gäste wollen schöne Wohnungen.“ | |
Bringt Corona denn wenigstens der Natur etwas, den an manchen Orten vom | |
Wintersport so geschundenen Bergen, wenn weniger Leute da sind? „Von der | |
Traumlandschaft zum übernutzen Berggebiet“ sieht der Bund Naturschutz (BN) | |
die Alpen. Die Umweltschützer fordern, weg vom Pkw-Verkehr zu kommen, der | |
die Orte und Täler „ersticken“ lasse. Auch sollten Bergbahnen und Lifte | |
künftig nicht weiter ausgebaut werden. Eine kanalisierte Menschenmasse | |
allerdings schadet nach Ansicht des Garmischer BN-Mannes Axel Doering den | |
Alpen weniger als Einzelne, die sich falsch verhalten. So hält es Doering | |
für richtig, dass die Pisten offen sind. 1.000 Menschen, die auf der Piste | |
hinauflaufen und wieder herunterfahren, so sagt er, seien weniger schädlich | |
als ein einzelner Skifahrer, den es abseits in die unberührte Natur zieht. | |
Andreas Mühlberger nennen die Leute in Reit im Winkl alle nur „den Andi“. | |
Er ist Langlauflehrer, Leiter einer Skischule und Einzelhändler für | |
Sportartikel. „In meinem Laden stehen gerade 500 Paar Langlaufski“, erzählt | |
er. Den Lieferanten hat er bezahlt, doch das Geschäft muss geschlossen | |
bleiben. „Wir stecken jetzt nicht den Kopf in den Sand“, meint der | |
53-Jährige. Irgendwann werde es ja wieder „normal werden“. | |
Normal – das bedeutet für Andreas Mühlberger: „Es gibt nur den Heiligabend | |
für die Familie.“ An den Feiertagen und den Tagen darauf öffnet der | |
Skiverleih normalerweise um 8.30 Uhr und schließt nach Einbruch der | |
Dunkelheit. „Die Gäste wollen schließlich langlaufen.“ Mühlberger sagt: | |
„Jetzt waren wir an Weihnachten zum ersten Mal daheim. Gezwungenermaßen.“ | |
6 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.reitimwinkl.de/ | |
[2] https://zugspitze.de/de/Garmisch-Classic/Winter/Kandahar-Abfahrt | |
[3] http://www.winklmoosalm.de/ | |
## AUTOREN | |
Patrick Guyton | |
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