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# taz.de -- Prozess zum Mord an Walter Lübcke: Neue Widersprüche
> Erneut bringt der Tatverdächtige die RichterInnen mit widersprüchlichen
> Angaben ins Wanken. Ein Urteil ist dieses Jahr nicht mehr zu erwarten.
Bild: Angeklagter Stephan E. (rechts) und sein Anwalt Mustafa Kaplan im Gericht…
Frankfurt am Main taz | Zum Schluss hat Irmgard Braun-Lübcke noch eine
Frage an Stephan E., eine einzige. Sie richtet sie direkt an den
Angeklagten, [1][der ihren Mann Walter Lübcke ermordet haben soll.] „Ist es
wirklich wahr, dass mein Mann in der letzten Sekunde seines Lebens in das
Gesicht von Markus H. geschaut hat?“ Stephan E. zögert nur kurz: „Ja.“ �…
„Wirklich?“ – „Ja.“
Nach diesen Worten ist es still am Donnerstag im Saal des
Oberlandesgerichts Frankfurt [2][bei der 35. Verhandlung des Mordes an
Walter Lübcke.] Und die Frage von Irmgard Braun-Lübcke ist inzwischen die
Kernfrage des Prozesses, den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten vom
1. Juni 2019 verhandelt. Gibt es einen Mörder – oder zwei? Was geschah in
der Tatnacht wirklich?
Angeklagt im Prozess sind zwei Kasseler Rechtsextreme: Stephan E., 47
Jahre, vielfach vorbestraft. Und sein früherer Bekannter und
Kameradschaftsfreund Markus H., der bisher eisern schweigt. Stephan E.
hatte früh gestanden, von ihm gibt es auch eine DNS-Spur am Tatort. Er habe
Lübcke allein erschossen, hatte er zunächst gesagt, weil Lübcke Menschen,
die Geflüchtete ablehnen, scharf kritisiert hatte. Später aber behauptete
E. nicht er, sondern Markus H. habe geschossen. Und schließlich, im
Prozess: Er habe doch geschossen, aber Markus H. sei mit vor Ort gewesen
und habe ihn zur Tat angestachelt.
## Familie drängt auf Aufklärung
Bis heute versucht das Gericht zu klären, welche Version nun stimmt.
Zuletzt schien der Senat sich festgelegt zu haben: auf die erste Version,
mit Stephan E. als Einzeltäter. Schon im Oktober entließ der Senat Markus
H. aus der Untersuchungshaft. Es gebe keinen dringenden Tatverdacht mehr,
dass er mit am Tatort war oder zum Mord anstachelte. Die Aussagen von E.
dazu seien „äußerst detailarm“, widersprüchlich und „nicht glaubhaft�…
Die Familie Lübcke aber sieht das genau anders. Für sie waren beide Männer
am Tatort, der Mord eine gemeinschaftliche Tat. Irmgard Braun-Lübcke hatte
Stephan E. deshalb vor zwei Wochen erneut gebeten, „die volle Wahrheit“ zu
sagen. Und sie attackierte über ihren Anwalt Holger Matt das Gericht.
[3][Matt warf diesem via Spiegel „auffallende Freundlichkeit“ gegenüber
Markus H.] vor. Weitere Aufklärung sei offenbar „nicht gewünscht“. Richter
Thomas Sagebiel sprach von einem „ungeheuerlichen Vorgang“. Die Nebenklage
versuche den Senat unter Druck zu setzen.
Am Donnerstag erneuerte Braun-Lübcke ihren Appell an Stephan E.. „Ich bitte
Sie inständig, wenn Sie uns helfen wollen, beantworten Sie unsere Fragen.
Wir wollen die Wahrheit, die volle Wahrheit, wie es wirklich war.“ Und
Stephan E. beginnt noch einmal zu erzählen, teils frei, teils ablesend, mit
gedrückter Stimme.
Frage für Frage wühlt sich Holger Matt nochmals [4][durch den Mord an
Walter Lübcke und die Planung.] Stephan E. berichtet, wie er ab 2016 das
Wohnhaus der Familie im kleinen Istha bei Kassel ausspähte, das erste Mal
aufgebracht von Nachrichten über die Kölner Silvesternacht. Mal mit Markus
H. zusammen, mal allein. Wie die beiden Männer Schießübungen abhielten,
nahe einer Raststelle und in einem Schießverein, teils illegal, ohne sich
in Listen einzutragen. Und wie sie am 1. Juni 2019 nach Istha fuhren.
Zusammen hätten sie sich auf die Terrasse geschlichen, auf der Walter
Lübcke saß, schildert Stephan E.. Mit Markus H. habe er ihn beschimpft.
Lübcke habe keine Chance gehabt, sich zu wehren, weil er auf dem Stuhl saß.
Stephan E. stockt, schnieft, tupft sich Tränen weg – man weiß nicht, ob
gespielt oder in echt. „Dann“, sagt er, „habe ich geschossen“.
## Markus H. soll dabei gewesen sein
Matt hakt nach. Zu den Ausspähungen, zum Entstehen des Mordplans, und auch
wie es zu den drei verschiedenen Geständnissen kam. Stephan E. bekräftigt,
es sei sein früherer Verteidiger Frank Hannig gewesen, der ihn zu der
zwischenzeitlichen Falschaussage angestiftet habe, dass Markus H. der
Mordschütze gewesen sei. Inzwischen ermittelt deshalb die
Staatsanwaltschaft Kassel gegen Hannig.
Auch der Senat reagierte: Er ließ am Mittwoch, auf Antrag der Familie
Lübcke, Hannigs Handakte zum Fall Lübcke beschlagnahmen. Die RichterInnen
halten daraus nur wenige Notizen für prozessrelevant, die sie verlesen. Es
sind Schilderungen der beiden Tatversionen von Stephan E., bei denen Markus
H. mit dabei war. Dazu Anmerkungen, offenbar von Hannig. „Der verarscht
uns“, lautet eine. Oder: „Das glaubt keiner.“ Auch dazu wird Stephan E.
befragt. Und er beteuert erneut, dass es Hannig war, der H. als Schützen
ins Spiel brachte – um diesen zu einer Aussage zu provozieren.
[5][Vehement blieb Stephan E. dabei, dass er zwar geschossen habe, aber
auch Markus H. am Tatort war.] Irmgard Braun-Lübcke fragt ihn nach weiteren
Mittätern. Stephan E. verneint: „Es gab keine anderen Personen.“ Dafür
nennt er den Mord noch einmal eine „furchtbare Tat“, die nicht
wiedergutzumachen sei. „Ich verstehe das gesellschaftliche Misstrauen mir
gegenüber sehr gut.“ Er wolle an einem Aussteigerprogramm teilnehmen, um
„weg von den extremen Ansichten“ zu kommen.
Richter Sagebiel beruft schließlich eine Beratungspause ein. Dann verkündet
er, dass sein Senat nun doch wieder „sehr viele Fragen“ habe. Stephan E.
liefere „immer wieder neue, situativ angepasste Einlassungsfetzen“. So habe
dieser erst behauptet, eine Waffe von Markus H. dauerhaft überlassen
bekommen zu haben, dann nur ab und an. Bei dem Treffen an einer Tankstelle,
wo er mit H. angeblich den Mordplan schmiedete, will er mal mit Karte, dann
in bar gezahlt haben. Man müsse den Tatablauf „noch einmal grundsätzlich“
klären, erklärt Sagebiel. Ein Urteil im Dezember, wie ursprünglich mal
geplant, werde es daher nicht geben.
3 Dec 2020
## LINKS
[1] /Toedlicher-Schuss-auf-Walter-Luebcke/!5600568
[2] /Mord-an-CDU-Politiker-Walter-Luebcke/!5692952
[3] https://www.spiegel.de/panorama/justiz/mord-an-kasseler-regierungspraesiden…
[4] /Prozess-um-Mord-an-Walter-Luebcke/!5705925
[5] /Prozess-zum-Luebcke-Mord/!5690124
## AUTOREN
Konrad Litschko
## TAGS
Schwerpunkt Mordfall Walter Lübcke
Rechtsextremismus
Landgericht Frankfurt
Schwerpunkt Rechter Terror
Schwerpunkt Rechter Terror
Marco Wanderwitz
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