| # taz.de -- Ärzte als Maskengegner: Nein zur Kanzelkultur | |
| > Auch Mediziner sind nur Menschen. Sie rauchen und trinken, ernähren sich | |
| > schlecht und haben komische Ansichten. Sollen sie doch. | |
| Bild: Mein Orthopäde ist ein Arschloch, ja, na und? | |
| Der Orthopäde, der meinen Fuß untersucht, trägt seinen Mundnasenschutz | |
| demonstrativ schlampig. Ich selbst bräuchte keinen anzulegen, sagt er, „das | |
| ist doch eh alles Quatsch, diese Masken bringen überhaupt nichts“. | |
| Er flucht und brummelt, murmelt und hetzt. Kurz verspüre ich den Drang, auf | |
| der Stelle zu gehen. So ein Spinner – der will ein Arzt sein? Doch dann | |
| besinne ich mich. Auch Mediziner sind nur Menschen. Sie rauchen und | |
| trinken, ernähren sich schlecht und haben komische Ansichten. Man denke nur | |
| an die Unterzeichner der „Great Barrington Declaration“, die 700 „Ärzte … | |
| Aufklärung“, die in ihren Praxen mit Handzetteln vor „Impfzwang“ warnen, | |
| oder jene mittlerweile so sprichwörtlich wie die zwölf Apostel gewordenen | |
| 107 Lungenärzte, die sich für die Segnungen des Feinstaubs fast bis zur | |
| öffentlichen Selbstverbrennung in die Bresche warfen. | |
| Psychiater wiederum haben manchmal eine gepflegte Meise, wenngleich längst | |
| nicht so oft, wie es ihnen ein böswilliger Volksmund andichtet. Und | |
| Orthopäden sind, wie Chirurgen, ohnehin eher eine Art Klempner. | |
| Ich will jedenfalls nicht mehr Leute pauschal für ihre Haltung abstrafen. | |
| Das ist doch überhaupt nicht meine Art. Kritisieren ja, aber nicht | |
| ruinieren. So halte ich auch nach dreißig Jahren meinem Friseur die Treue, | |
| obwohl er mir im Grunde herzlich unsympathisch ist. Seine fachlichen | |
| Qualitäten sind bescheiden – ich sehe hinterher meist aus wie ein frisch | |
| ausgewürgtes Greifvogelgewölle, und einmal hat er mir fast das Ohr | |
| abgeschnitten –, doch die menschlichen sind noch viel schlimmer. Sobald ich | |
| unter meinem Frisierumhang gefangen bin, ballert er mich nonstop mit | |
| fremdenfeindlichen Witzen der schlimmsten Sorte zu. | |
| Aber darum wechsle ich noch lang nicht den Salon. Sonst würde er denken, | |
| dass ich ihn nur wegen seiner Äußerungen wirtschaftlich vernichten will. | |
| Das wäre doch nicht fair. Viele Kunden hat er eh nicht mehr. Mit so einer | |
| Cancel Culture will ich nichts zu tun haben. | |
| Und zwar weniger, weil ich Angst hätte, wie in solchen Fällen üblich, vom | |
| Bürgerfeuilleton mit neunmalklugen bis rechts offenen Politbelehrungen | |
| zugeschissen zu werden. Das würde nicht passieren, denn uns kennt kein | |
| Schwein, weder mich noch den Friseur. Nein, ich bin einfach nur | |
| sensibilisiert, weil ich oft genug am eigenen Leib erfahren habe, wie es | |
| sich anfühlt, gecancelt zu werden. Und zwar auf der ganzen Linie. | |
| Jedes meiner jüngsten Bücher wurde von sage und schreibe 7,77 Milliarden | |
| Menschen boykottiert. Nur weil es ihnen nicht gefällt, sie es nicht kennen | |
| oder mich nicht kennen, verweigern sie den Kauf. Das muss man sich mal | |
| vorstellen, das ist doch eine konzertierte Hexenjagd! | |
| Einigen halte ich zugute, dass ihnen gar nicht bewusst ist, was für ein | |
| Zerstörungswerk sie in meiner Seele anrichten. Und die eine oder andere | |
| wird vielleicht nicht daran denken, dass ja auch ich von irgendetwas leben | |
| muss. Dafür, dass ich schreibe, was ich denke, und oft auch mal das | |
| Gegenteil oder irgendwas dazwischen, überziehen sie mich mit ihrem | |
| Vernichtungsfeldzug. Dabei beweisen doch stets ein paar hundert treue | |
| Käufer, dass es durchaus möglich ist, das Werk nicht für die Privatmeinung | |
| des Autors büßen zu lassen, oder genauer, für das, was sie für seine | |
| Meinung halten. | |
| In der Praxis seufze ich ergeben und blicke dem Orthopäden tief in seine | |
| müden gelben Augen. Er ist ein Arschloch, ja, na und? Wer bin ich, ihn | |
| deshalb ins Elend zu stoßen? Freilich bleibt noch immer eine Restlust, ihm | |
| anschließend wenigstens auf Jameda eins überzubraten. | |
| 27 Nov 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Uli Hannemann | |
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