# taz.de -- Der Ethikrat: Was wir den Eltern schulden | |
> Die Jungelternschaft ist sehr besorgt um ihre Kinder und nur wenig um die | |
> alten Eltern. Ist das legitim? Der Ethikrat äußert sich dazu nur | |
> indirekt. | |
Bild: Alle Kraft fürs Kinderglück. Aber was ist mit den Eltern der Eltern? | |
Als ich kürzlich im Café saß, erzählte neben mir eine Frau, dass sie jetzt | |
täglich ihre Mutter anriefe, der die Coronazeiten zu schaffen machten. | |
Diese Anrufe seien sehr anstrengend für sie, sagte die Frau und dann | |
erklärte sie ausführlich, warum und wie sie den Geburtstag ihres kleinen | |
Sohnes gleich zweimal feierte, jetzt, zu Coronazeiten. | |
Manchmal, zu selten, gelingt es mir, nichts zu sagen und so trank ich | |
schweigend meinen Kaffee und radelte nach Hause. In meinem Zimmer fand ich | |
den Ethikrat vor, der auf dem Bett saß und in alten Fotoalben blätterte. | |
Der Rat besteht aus drei älteren Männern von geringer Größe, die mich | |
gelegentlich [1][aufsuchen], um mir Handreichungen im Bereich praktischer | |
Ethik zu geben. | |
„Die Alben sind eher privat“, sagte ich und vermied es, auf das Bild zu | |
sehen, das meinen trostlosen Abiball dokumentiert. „Wir wollen uns ein | |
möglichst vollständiges Bild von Ihnen machen“, sagte der | |
Ethikratsvorsitzende, während sein Kollege auf ein Bild deutete, das mich | |
als Möhre auf einer missratenen Faschingsparty zeigt. | |
„Wie ist eigentlich Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern?“, fragte ich den | |
Ethikrat, denn ich war es leid, dass immer nur meine Person und ihre | |
Unzulänglichkeiten ans Licht gezerrt wurden. „Haben Sie eine grundsätzliche | |
Frage zum Thema?“, sagte der Vorsitzende des Rats und blätterte eine | |
weitere Seite des Fotoalbums um. | |
„Warum ist das Kind-Eltern-Verhältnis heutzutage so eine Einbahnstraße?“, | |
fragte ich und wartete nicht auf die Antwort, weil mir eine weitere Szene | |
aus dem Café einfiel, das ein Treffpunkt aller undankbarer Söhne und | |
Töchter mittleren Alters in Hamburg zu sein scheint. Neben mir hatte eine | |
Frau ihrer Freundin voller Stolz erzählt, dass sie ihren Eltern bei | |
Besuchen jetzt immer Aufgaben zuteile, Haushalt, Kinderbetreuung, was auch | |
immer, das sei viel besser. | |
„Ist es philosophisch gesehen nicht illegitim, Menschen zu Funktionen zu | |
degradieren“, sagte ich, „das steht doch auch bei Kant.“ „Wir kennen Ka… | |
sagte der Ethikratsvorsitzende verstimmt und nahm ein weiteres Fotoalbum | |
aus dem Regal. „Ach, lassen Sie doch die Alben“, rief ich und zog ein | |
dickleibiges Märchenbuch unterm Bett hervor und reichte es dem | |
Vorsitzenden. „Kennen Sie das Märchen vom alten Vater?“, fragte ich. „Ich | |
kenne es“, sagte der Vorsitzende und wandte sich an seine Kollegen. „Ist es | |
Ihnen auch vertraut?“ Die beiden schüttelten den Kopf. | |
„Es geht um ein Paar, das den alten Vater vom Tisch verbannt, nur weil er | |
zittrig geworden ist“, sagte ich. „Das Paar gibt ihm hölzernes Geschirr, | |
weil er das gute zerbrechen könnte, und lässt ihn allein in der Ecke essen. | |
Irgendwann sieht die Mutter, wie ihr kleiner Sohn etwas schnitzt und fragt | |
ihn, was er tue.,Ich schnitze einen Löffel für dich, wenn du alt bist', | |
antwortet er. Sie weint und holt den alten Mann zurück an den Tisch.“ | |
„Viele Märchen verhandeln das Motiv der herzlosen Mutter und der ihr | |
ausgelieferten Kinder“, sagte der Ethikratsvorsitzende und drehte sich zu | |
seinen Kollegen, die ihm ein Bild vom Wolf zeigen wollten. Dabei fiel ihm | |
etwas aus seinem Jackett, aber ich war zu aufgebracht, um ihn darauf | |
hinzuweisen. | |
„Na und“, sagte ich stattdessen. „Die Gegenwart ist voller Jungeltern, die | |
alles für ihre überversorgten Ichmachemeinenlebensentwurfkomplett-Kinder | |
tun und nichts für ihre eigenen Eltern, es sei denn, sie brauchen | |
Kinderbetreuung.“ „Sind Sie hier noch sachlich?“, fragte der | |
Ethikratsvorsitzende und betrachtete mich interessiert. „Mir doch egal“, | |
rief ich unsachlich. „Glauben diese Leute wirklich, dass ihre Kinder sich | |
einmal um sie kümmern, bei dem Vorbild, das sie selbst liefern?“ | |
Der Ethikrat verabschiedete sich. Das Ratsmitglied, das fast immer schwieg, | |
das mit dem blauen Einstecktuch, tätschelte mir den Unterarm, als es ging. | |
Später fand ich ein zerknicktes Foto in den Tiefen der Bettwäsche: ein | |
kleiner alter Mann neben einer winzigen uralten Frau im Rollstuhl, die | |
lächelnd seine Wange küsst. | |
7 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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