| # taz.de -- Der Ethikrat: Wo die Kraft fehlt | |
| > Muss man sich mit dem ewigen Scheitern abfinden? Der Ethikrat sieht eine | |
| > gewisse Traurigkeit im Spiel und gibt sich Mühe mit der Weihnachtsfeier. | |
| Bild: Der Ethikrat in seiner Umsicht hatte Weihnachtskugeln mitgebracht | |
| Als ich kürzlich auf den Balkon ging, um den Badezimmerteppich | |
| auszuschütteln, traf ich den Ethikrat. Ich war überrascht, ihn dort zu | |
| finden, denn der Balkon ist sehr klein und im Dezember kein angenehmer | |
| Aufenthaltsort. Der Ethikrat besteht aus drei älteren Herrn von geringer | |
| Größe, die mich gelegentlich [1][aufsuchen], um mir Hinweise in Sachen | |
| praktischer Ethik zu geben. Der Rat saß auf sehr kleinen Klappstühlen und | |
| hatte einen Heizpilz aufgebaut. | |
| „Wir möchten auch unter diesen pandemischen Bedingungen so etwas wie eine | |
| Weihnachtsfeier mit denen begehen, die wir auf ihrem Erkenntnisweg | |
| begleiten“, sagte der Ethikratsvorsitzende und wies einladend auf einen | |
| Teller mit Lebkuchen. Ich war gerührt und ein bisschen verlegen, | |
| üblicherweise neigt der Ratsvorsitzende nicht zu Gefühlsüberschwang. | |
| „Wie werden Sie Weihnachten verbringen?“, fragte ich in der Hoffnung, etwas | |
| über die familiäre Situation der Ratsmitglieder zu erfahren. „Mein Kollege | |
| war so freundlich, sowohl meine Mutter und mich als auch unseren Kompagnon | |
| zu sich einzuladen“, sagte der Ratsvorsitzende und nickte dem Ratsmitglied | |
| zu, das gerade eine Engelsgirlande am Balkongitter befestigte. „Und | |
| selbst?“ | |
| „Wir reisen dieses Jahr nicht zur Großfamilie“, sagte ich, „wir bleiben | |
| einfach hier.“ Deshalb war ich zuvor allein zu einem Besuch zu meiner | |
| Mutter gefahren. Es war ein schöner Besuch gewesen, nur davon unterbrochen, | |
| dass ich wiederholt ungefragt Ratschläge zur Lebensführung meiner Mutter | |
| gegeben hatte, die sie gefasst hatte vorüberziehen lassen. Ich aß einen | |
| Lebkuchen und dachte an die Kette von ethisch-moralischen Unebenheiten der | |
| letzten Zeit. | |
| ## Keine Spur von einem Erkenntnisweg | |
| Die Lüge gegenüber einer besorgten Besucherin über den angeblichen Erfolg | |
| unseres Kampfs gegen die Katzenflöhe. Der Obdachlose, bei dem ich keine | |
| Zeitung gekauft habe, kurz nachdem ich unfassbar viel Geld für einen Pulli | |
| ausgegeben hatte. Die Abwesenheit nennenswerten Engagements für die | |
| Allgemeinheit. Lappalien und Nicht-Lappalien, die in ihrer öden Häufung | |
| zeigen, dass von einem Erkenntnisweg nicht die Rede sein konnte. Dabei war | |
| ich nicht einmal zu den tiefer gehenden Unebenheiten vorgedrungen. | |
| „Wir könnten etwas singen“, sagte das Ethikratsmitglied, das gewöhnlich | |
| schwieg, und zog eine Flöte aus seiner Tasche. „Ich möchte noch eine Frage | |
| stellen“, unterbrach ich ihn. „Es ist doch philosophischer Konsens, dass es | |
| in der moralischen Bewertung von Handlungen weniger um den Erfolg als um | |
| die Absicht geht.“ Der Vorsitzende nickte, während er aus einem Beutel | |
| Kunstschnee holte, mit dem er die Balkonbrüstung bestäubte. „Aber was ist | |
| der Maßstab dafür, ob die Absicht mit genügend Nachdruck verfolgt wurde?“, | |
| sagte ich. „Man weiß doch nicht einmal selber, wo die Kräfte enden.“ | |
| Der Ethikrat schien vertieft in die Schönheit seiner Weihnachtsdekoration, | |
| das dritte Ratsmitglied, das bislang vor allem Lebkuchen gegessen hatte, | |
| hing nun blaue und goldene Kugeln auf. „Ich werde mein Leben lang einen | |
| allwissenden Erzähler vermissen“, sagte ich.„Jemand, der mir sagen kann: | |
| Das kannst du leisten, das nicht. Für das Straßenmagazin sollte es reichen | |
| und auch für ein bisschen Tun über den eigenen Tellerrand hinaus.“ Das | |
| Ratsmitglied spielte leise ein paar traurige Flötentöne. „Mir doch egal, ob | |
| das unmündig ist“, fügte ich hinzu, bevor es jemand anderes sagen konnte. | |
| ## „Wir müssen uns mit der Traurigkeit abfinden“ | |
| Der Ratsvorsitzende sah mich mit einem Blick an, den ich nicht deuten | |
| konnte, aber inzwischen staubte es auf dem Balkon wegen des Schnees, den | |
| der Wind in meine Richtung blies. „Der Weg der Philosophie ist steinig“, | |
| sagte er. „Wir müssen uns auf die Traurigkeit des Scheiterns gefasst | |
| machen.“ „Aber wie?“, fragte ich. Doch da begann das andere Ratsmitglied | |
| „Es kommt ein Schiff geladen“ zu flöten und ich verstummte. Der Rat sang | |
| alle Strophen mit großer Innigkeit. Dann verabschiedete er sich. | |
| Als ich am nächsten Morgen auf den Balkon ging, fand ich neben einem | |
| Häufchen Kunstschnee einen Umschlag mit roter Schleife. Darin lag eine | |
| Urkunde, auf der in krakeliger Schrift stand: „Der Ethikrat bescheinigt | |
| Frau F. Gräff philosophisches Bemühen im vergangenen Jahr.“ | |
| 7 Dec 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
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