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# taz.de -- Der Ethikrat: Das traurige Los alternder Hummeln
> Sind wir mehr als unsere biologischen Determinanten? Und wenn ja, was?
> Der Ethikrat lässt dazu die falschen Stimmen zu Wort kommen.
Bild: Ist das gerecht? Je erfahrener die Hummel, desto gefährlicher die Flüge…
Ich vermisste den Ethikrat, als ich in November-Bitternis fiel. Aber der
Rat kommt dann, wenn er es für richtig hält. Er besteht aus drei älteren
Männern von geringer Größe, die mir [1][Handreichungen für meinen ethischen
Alltag] geben. Ich traf ihn unvermutet, als ich im Kinderzimmer staubsaugen
wollte, wo Katzenflöhe eingezogen sind.
Der Ratsvorsitzende und seine beiden Kollegen trugen Anzug und Fliege,
neben ihnen stand ein junger Mann mit Topknot und einem Hemd von mittlerer
Lässigkeit. „Guten Abend“, sagte ich. „Erlaubt es Ihnen Ihre Zeit, bei m…
vorbeizuschauen?“
„Aber ja doch“, sagte der Ethikrat-Vorsitzende und neigte seinen Kopf. „W…
haben uns erlaubt, einen Praktikanten mitzubringen.“
Er zeigte auf den jungen Mann, der ihn weit überragte. Der Praktikant hob
nachlässig die Hand. „Setzen Sie sich doch“, sagte ich und deutete auf die
Kinderstühle. „Haben Sie eine Frage an uns?“, sagte der Ratsvorsitzende,
während seine Kollegen die Playmobilkiste durchsuchten. Der Praktikant
blieb stehen. Er erinnerte mich an jemand Unangenehmes, aber ich kam nicht
darauf, an wen.
Ich hatte kürzlich im Theater ein Stück über die Abwertung der alternden
Frau in unserer Gesellschaft gesehen. Sechs Frauen um die 50 und ein Mann
waren krakeelig auf der Bühne herumgelaufen, sie hatten ihre Nacktheit in
Nahaufnahmen ausgestellt und damit die Schulklasse neben mir befremdet. Es
gab auch einen Theorieteil, in dem sie die These vertraten, dass die Frau
im Kapitalismus der häuslichen Sphäre und der Reproduktion zugeordnet sei
und alternd als wertlos aussortiert werde.
Ich ging ratlos nach Hause. Wenn es vor allem um wirtschaftliche
Nützlichkeit ging, müssten nicht auch die alten Männer aussortiert werden?
Ich sprach mit meiner Schwester darüber, die Biologin ist und Verächterin
sowohl der Geisteswissenschaften als auch gegenwärtiger
Theaterinszenierungen.
„Wie dämlich ist das“, sagte sie. „Ein Hummelforscher hat es sehr viel
besser erklärt.“ Der Forscher hatte beschrieben, dass bei den Hummeln die
alten weiblichen Tiere die gefährlichsten Erkundungsflüge übernehmen, weil
dem Hummelvolk das Überleben der jungen fortpflanzungsfähigen Hummeln
wichtiger ist als das der erfahrenen alten. Was die alternden Frauen ins
Aus befördere, sei so betrachtet der Verlust der Gebärfähigkeit.
An all das dachte ich, während die beiden Ratsmitglieder ihre Ledertaschen
abstellten, in denen sie die Nachschlagewerke mit sich führen. Sie
begannen, den Pferdehof aufzubauen, und es schien, als ob sie sich nicht
einig werden könnten, wer das Palominopferd spielen dürfe.
„Muss man bei der Betrachtung gesellschaftlicher Verhältnisse unsere
biologischen Determinanten stärker in Rechnung ziehen?“, fragte ich in
Richtung Ratsvorsitzenden. „Und wie ließe sich das Prestige der Erfahrung
der Alten stärken?“
„Darf ich?“, sagte der Praktikant und baute sich vor mir auf. „Hey“, sa…
er, „da ist der aktuelle Diskurs wohl an dir vorübergegangen.“
„Ich wüsste nicht, dass wir uns duzen“, antwortete ich, aber der Praktikant
überging das. „Mit Biologismus wollen wir erst gar nicht anfangen“, sagte
er und wandte sich in Richtung Playmobilkiste. „Holen Sie mal den Allen
raus.“ Die Ratskollegen bauten an einem Sprungparcours und schienen ihn
nicht zu hören.
Der Praktikant straffte sich. „Oder anders“, sagte er. „Bring dich mal
selber ein: Was ist deine Sprecherinnenposition als nicht so junge,
diskursferne Frau?“
„Nee, da bringe ich mich mal nicht ein“, sagte ich, aber dann fiel mir
nichts weiter ein. Der Vorsitzende strich etwas in seinem Notizbuch durch
und räusperte sich. „Ich möchte mich stellvertretend entschuldigen.“ Er
raunte mir zu: „Wir haben uns durch die Fortschrittlichkeit seiner Frisur
täuschen lassen.“
Der Ethikrat verließ das Zimmer, der Praktikant folgte mit Abstand und
während er mich gekonnt übersah, ließ ich das Palominopferd in seine Tasche
gleiten in der Hoffnung, dass man es gegen ihn verwenden würde.
22 Nov 2020
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## AUTOREN
Friederike Gräff
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