| # taz.de -- Klimaprozess in Oslo: Anklage gegen Norwegens Reichtum | |
| > Am Mittwoch geht ein „Jahrhundertprozess“ in die letzte Instanz: Das | |
| > Urteil könnte Förderung von Öl und Gas von Europas größtem Produzenten | |
| > beenden. | |
| Bild: Vor dem Aus? Norwegische Ölplattform in der Nordsee | |
| Stockholm taz | „Fatale oder fantastische Konsequenzen“ werde das Urteil | |
| haben, sagt Therese Hugstmyr Woie. Sie ist die Vorsitzende der norwegischen | |
| Umweltorganisation Natur og Ungdom, eine der Klägerinnen in einer | |
| Verfassungsklage, den diese Nichtregierungsorganisation für den | |
| „wichtigsten Prozess des Jahrhunderts“ hält. Am Mittwoch geht die | |
| Klimaklage, „die die Weichen für die Lebensbedingungen künftiger | |
| Generationen“ stellen könnte, in die letzte Instanz. Es geht um die | |
| Ölpolitik Norwegens, Europas größtem Öl- und Gasproduzenten. | |
| Formal dreht sich das Verfahren mit dem Aktenzeichen 20-051052SIV-HRET vor | |
| dem Høyesterett, dem obersten Gerichtshof in Oslo, um einen im Juni 2016 in | |
| Kraft getretenen Beschluss der Regierung, mit dem eine „23. | |
| Konzessionsrunde“ für die Zuteilung von Offshore-Ölbohrlizenzen | |
| ausgeschrieben wurde. Auf dessen Grundlage wurden dann an 13 Ölkonzerne | |
| Lizenzen für insgesamt 40 Fördergebiete erteilt. | |
| Alle gelegen in Regionen der Barentssee, für die Oslo bis dahin ein | |
| Vierteljahrhundert lang keine neuen Lizenzen erteilt hatte. In arktischen | |
| Gewässern also, deren Umwelt die Ölförderung besonders gefährden könnte. | |
| Die Pläne seien ein „eklatanter Verstoß gegen das Recht künftiger | |
| Generationen auf eine sichere Umwelt“ und eine „bodenlose Heuchelei“, fand | |
| schon damals Greenpeace Norwegen. Der Zuschlag erfolgte, nur wenige Tage | |
| nachdem Oslo das Pariser Klimaabkommen unterzeichnet und sich damit zum | |
| Ziel bekannt hatte, den globalen Temperaturanstieg auf möglichst 1,5, | |
| maximal aber 2 Grad zu begrenzen. | |
| ## Norwegen erstes Land mit „Umweltartikel“ | |
| Der Gedanke an eine Verfassungsklage wurde geboren. Norwegen hatte sich als | |
| eines der weltweit ersten Länder schon 1992 einen „Umweltartikel“ gegeben. | |
| Dieser Artikel 112 garantiert „jedermann“ das Recht zu einer Umwelt, „die | |
| der Gesundheit und einer natürlichen Umgebung förderlich“ ist. Der Staat | |
| wird ausdrücklich zu einem Umgang mit natürlichen Ressourcen verpflichtet, | |
| „die dieses Recht auch für zukünftige Generationen sichern werden“. | |
| Mit der Erschließung neuer Lagerstätten, so das zentrale Argument des im | |
| Oktober 2016 begonnenen norwegischen Klimaprozesses, habe Oslo gegen diesen | |
| Verfassungsartikel verstoßen. Denn schon mit der Ausbeutung der global | |
| bereits erschlossenen Lagerstätten für Kohle, Öl und Gas würden so viele | |
| Klimagase freigesetzt, dass die Einhaltung des 2-Grad-Ziels des Pariser | |
| Klimaabkommens illusorisch sei. | |
| Für die gegen den norwegischen Staat gerichtete Klage taten sich die | |
| skandinavische Sektion von [1][Greenpeace] und „[2][Natur og Ungdom]“ | |
| („Umwelt und Jugend“) mit „[3][Besteforeldrenes Klimaaksjon]“, der | |
| „Klimaaktion der Großeltern“ und dem Naturschutzverband | |
| „[4][Naturvernforbundet]“ zusammen. Gemeinsam repräsentieren sie fast | |
| 60.000 Mitglieder. | |
| Knapp eine halbe Million Menschen unterstützten außerdem per Unterschrift | |
| die Klage. Darunter der Schriftsteller Jostein Gaarder: „Jeder weiß, dass | |
| unsere Zivilisation nicht überleben kann, wenn wir weiterhin alle Kohle, | |
| alles Öl und Gas, das es auf der Erde gibt, fördern und verbrauchen.“ | |
| ## Konkrete Rechte und Pflichten ableitbar? | |
| Die Klage betrat juristisches Neuland. War der fragliche Verfassungsartikel | |
| vielleicht nur eine bloße programmatische Erklärung, aus der sich konkrete | |
| Rechte gar nicht ableiten lassen, wie RegierungsjuristInnen abzuwiegeln | |
| versuchten? Oder ergaben sich aus ihm tatsächlich konkrete | |
| Handlungspflichten oder -verbote, an denen die Regierung ihre Beschlüsse | |
| messen lassen musste? Das im Januar 2018 ergangene erstinstanzliche Urteil | |
| bejahte dies, wies die Klage aber trotzdem ab. | |
| Für den CO2-Ausstoß des exportierten Öls sei Norwegen nicht verantwortlich: | |
| „Es ergibt sich aus dem Völkerrecht, dass jedes Land für den | |
| Klimagasausstoß seines eigenen Territoriums verantwortlich ist.“ Und die | |
| allein durch die bloße Ölförderung in Norwegen freigesetzten Klimagase – | |
| ein Zehntel der exportierten – würden nicht die von den Klägerinnen | |
| befürchteten Auswirkungen haben. | |
| Im Anfang 2020 verkündeten zweitinstanzlichen Urteil errangen Greenpeace & | |
| Co einen Teilerfolg. Norwegen habe bei politischen Entscheidungen im | |
| Bereich seiner Öl- und Gaspolitik sehr wohl „den gesammelten | |
| Klimagasausstoß zu berücksichtigen, sowohl was dieser bei der Förderung als | |
| auch beim Verbrennen an schwerwiegenden Auswirkungen für Klimaänderungen“ | |
| haben könne, entschied das Berufungsgericht: Alle möglichen Umweltschäden | |
| seien dabei in Betracht zu ziehen. | |
| Was aber die konkrete Frage, nämlich die Verfassungsmäßigkeit der „23. | |
| Konzessionsrunde“ angehe, könne zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht bejaht | |
| werden, dass Oslo gegen seine Verpflichtung aus Artikel 112 verstoßen habe, | |
| meinte das Gericht. Denn es sei noch zu unsicher, welche Folgen die | |
| Entscheidung haben werde. Ein möglicher Verfassungsverstoß könne erst | |
| beurteilt werden, wenn eine Förderung und damit ein möglicher | |
| Klimagasausstoß „nahe bevorsteht“. Aufgrund der erteilten Lizenzen kommt | |
| die Förderung vielleicht erst in den 2030er Jahren in Gang. Vielleicht gebe | |
| es bis dahin eine Technik, die die Klimagasemission „unschädlicher“ mache. | |
| In ihrem Revisionsantrag zum Høyesterett stellen die klagenden NGOs eine | |
| solche zeitliche Perspektive infrage. Wolle man sie aber doch | |
| berücksichtigen, habe der Staat die Beweislast. Er müsse darlegen, warum | |
| die nach jetzigem Wissensstand zu erwartenden Auswirkungen auf das Klima | |
| nicht befürchtet werden müssten. Bei der Lizenzerteilung 2016 habe der | |
| Staat aber überhaupt keine Abwägungen zum Klima vorgenommen. | |
| ## Ökonomische Konsequenzen für Norwegen | |
| Der eigentliche Knackpunkt der auf zwei Wochen terminierten Verhandlung vor | |
| dem obersten Gerichtshof wird sein, ob die 15 RichterInnen – 4 Frauen und | |
| 11 Männer – die von der Vorinstanz aufgestellte verfassungsgemäße | |
| Verpflichtung des Staats zu umfassender Prüfung potenziell | |
| umweltschädlicher Beschlüsse auch im Hinblick auf die Klimaauswirkungen | |
| bestätigen. Dies dürfte die Erschließung neuer Öl- und Gasvorkommen auf | |
| norwegischem Territorium so gut wie unmöglich machen. | |
| Welche ökonomischen Konsequenzen hätte das für Norwegen? Das hat das | |
| staatliche Statistikamt SSB in einer am Mittwoch veröffentlichtem | |
| [5][Studie] berechnet. Resultat: Würde der Staat ab sofort keine neuen | |
| Lizenzen für Öl- und Gasprospektierung mehr erteilen, was zu einem | |
| langsamen Auslaufen der Produktion führte, würde das Bruttoinlandsprodukt | |
| bis 2050 um insgesamt ein Prozent sinken. Vergebe man nicht nur keine neuen | |
| Lizenzen mehr, sondern beseitige auch die Steuersubventionen, die für die | |
| Ölkonzerne die Produktion besonders profitabel machten, könnten es 1,5 | |
| Prozent werden. „Eine im Vergleich zu dem für diesen Zeitraum zu erwarteten | |
| Wirtschaftswachstum bescheidene Folge“, urteilt die Behörde. „Was allen | |
| Horrorgemälden, die das Ende des Wohlfahrtsstaats vorhersagen wollen, die | |
| Basis entzieht“, sagt Silje Lundberg vom Naturvernforbundet. | |
| Als Norwegen vor fünf Jahrzehnten an der Schwelle vom armen Fischerland zur | |
| reichen Ölnation stand, schrieben die damaligen PolitikerInnen ihren | |
| künftigen KollegInnen etwas ins Stammbuch: „Es ist möglich, dass die | |
| Erdölaktivitäten bis weit in das nächste Jahrhundert hinein ein wichtiger | |
| Faktor für die norwegische Wirtschaft sein werden“, heißt es 1974 in den | |
| Materialien zum ersten „Petroleumgesetz“: „Trotzdem muss man sich schon | |
| jetzt Gedanken über die Zeit nach dem Ende der eigentlichen | |
| Erdölaktivitäten machen.“ | |
| 2 Nov 2020 | |
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| [1] https://www.greenpeace.org/norway/ | |
| [2] https://nu.no/ | |
| [3] https://www.besteforeldreaksjonen.no/ | |
| [4] https://naturvernforbundet.no/ | |
| [5] https://www.ssb.no/nasjonalregnskap-og-konjunkturer/artikler-og-publikasjon… | |
| ## AUTOREN | |
| Reinhard Wolff | |
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