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# taz.de -- Tierbeobachtung aus dem All: Intelligenter Sensor Tier
> Mit dem weltraumbasierten System „Icarus“ werden Tiere auf ihren Reisen
> zu Datensammlern. Es ist der Beginn einer neuen Ära in der Erderkundung.
Bild: Wildgänse rauschen gen Süden
Modernste Daten- und Kommunikationstechnik hilft Ornithologen und
Verhaltensforschern derzeit, die Tierbeobachtung zu revolutionieren. Vor
wenigen Wochen ist das deutsch-russische Forschungsprojekt „Icarus“, bei
dem Vögel mit Minisendern ausgestattet werden, in seine Hauptphase
gestartet. Dabei kommt auch die Internationale Raumstation (ISS) zum
Einsatz, die bei ihrer Flugbahn um die Erde die Daten der gefiederten
Sensoren sammelt und zur Erde funkt.
Das weltraumbasierte Tierbeobachtungssystem Icarus („International
Cooperation for Animal Research Using Space“) ist ein gemeinsames
Forschungsprojekt des Konstanzer Max-Planck-Instituts für
Verhaltensbiologie und der Universität Konstanz, das in Kooperation mit der
russischen Raumfahrtbehörde Roskosmos und dem Deutschen Zentrum für Luft-
und Raumfahrt (DLR) durchgeführt wird. Mit dem System können
Wissenschaftler erstmals eine große Zahl von Tieren auf ihren Reisen rund
um den Globus beobachten, und zwar über Monate und Jahre hinweg, rund um
die Uhr.
„Die intelligentesten Sensoren sind Tiere“, sagt Projektleiter Martin
Wikelski, Direktor am Konstanzer Max-Planck-Institut für
Verhaltensbiologie. „Wenn wir die Sensorik zusammenschalten, haben wir ein
globales System, das uns über das Leben auf der Erde Auskunft gibt.“
Damit beginnt für die Forscher eine neue Ära in der Erkundung der Erde.
Zunächst mit Vögeln, später auch mit Tieren am Boden. Das Pilotprojekt der
Konstanzer Ornithologen ist eine Studie zum Zugverhalten von über 2.000 mit
Sendern bestückten Amseln und Drosseln in Europa, Russland und Nordamerika,
die das Zugverhalten der Vögel und ihre Überlebensstrategien untersuchen
wird. Weitere 16 wissenschaftliche Projekte russischer Forscher gehen in
den kommenden Monaten an den Start.
## Spezialantenne an der Raumstation
Technisches Herzstück von Icarus sind vier Gramm schwere Minisender, die
den Vögeln umgeschnallt werden. Sie sind kombiniert mit Sensoren, die
sowohl das Verhalten der Tiere, ihre Flugrichtung und Geschwindigkeit, als
auch die Umweltbedingungen, wie Temperatur und Luftfeuchtigkeit messen.
Eine drei Meter lange Spezialantenne an der Raumstation ISS, die vor
einiger Zeit von russischen Kosmonauten in einer spektakulären
Außenbordaktion im Orbit montiert wurde, kann die Daten aus allen Winkeln
der Erde empfangen.
Icarus ist auch ein herausragendes Projekt im Rahmen des Wettbewerbs
„Brücken für die deutsch-russische Hochschulzusammenarbeit“, der von den
Außenministerien beider Länder ausgerichtet wurde. Die Preisverleihung fand
im September in Berlin statt.
Allerdings musste nach der ersten Inbetriebnahme 2019 der ISS-Testbetrieb
zunächst unterbrochen werden, um einen defekten On-Board-Computer
auszutauschen. Mit neuem Rechner konnte die viermonatige Testphase im
Frühjahr 2020 dann fortgesetzt werden. „Die Datenübertragung vom Boden zur
ISS funktioniert zehn- bis fünfzehnmal besser als gedacht“, stellte
Wikelski nach Abschluss der Testphase fest.
Alle erhobenen Daten laufen in der öffentlichen, frei zugänglichen
Datenbank Movebank für Tierbewegungen zusammen und können auch über die
kostenlose App Animal Tracker empfangen werden. Die erfassten Daten sind
von hoher Relevanz für Zoologie und Ökologie. Rund 150 Forschungsprojekte
wollen das Icarus-System nutzen.
Zuallererst die Vogelflugforscher, die den Mechanismus der alljährlichen
globalen Wanderung in der Luft über Tausende von Kilometern noch immer
nicht vollständig verstanden haben. Bekannt ist, dass die Zahl der Zugvögel
gegenwärtig dramatisch abnimmt. „Aber wir wissen oft weder, wo sie
verschwinden und warum“, stellt Wikelski fest. „Wenn wir hier nicht schnell
Antworten bekommen, damit wir Gegenmaßnahmen ergreifen können, dann wird es
für viele Arten zu spät sein.“
Im Zeitalter von Corona kommt den medizinischen Forschungsprojekten
besondere Bedeutung zu. So soll mit Hilfe der Bewegungsdaten untersucht
werden, wie Tiere bestimmte Krankheitserreger verbreiten. Wie kommt die
Vogelgrippe nach Europa? In welchen Tieren kommt das Ebolavirus vor?
Dies sind Fragen, denen die Wissenschaftler nachgehen wollen. „Künftig
wollen wir deshalb mit Icarus die Flugrouten von Wasservögeln in Asien und
Flughunden in Afrika verfolgen, denn beide gelten als mögliche Überträger
der Erreger“, erklärt der Konstanzer Forscher.
## Frühwarnsystem für Naturkatastophen
Als eine weitere mögliche Anwendung könnte Icarus auch als Frühwarnsystem
für Naturkatastrophen eingesetzt werden. Seit Langem ist bekannt, dass sich
Tiere vor Erdbeben oder Vulkanausbrüchen ungewöhnlich verhalten und unruhig
werden. Mit den entsprechenden Sendern ausgestattet, könnten die Signale
dieser „lebenden Seismografen“ in Echtzeit erfasst werden und Warnungen an
die Menschen in diesen Regionen verschicken.
„Wenn wir diese Fähigkeiten der Tiere hieb- und stichfest belegen können,
könnte dies in Zukunft Hunderttausenden Menschen das Leben retten“, hält
Wikelski für möglich.
Mit Sicherheit wird das System expandieren. In zehn Jahren werde Icarus
nicht nur auf der ISS, sondern auch auf mehreren Satelliten stationiert
sein, erwarten die Konstanzer Forscher. Damit ließen sich dann auch die
Gebiete erfassen, die Icarus im Moment nicht abdecken kann.
„Mit zusätzlichen Satelliten können wir vor allem die wissenschaftlich
besonders interessanten Regionen über dem 55. Breitengrad in Europa, Asien
und Nordamerika erschließen“, bemerkt Wikelski.
In Konstanz wird durch Icarus auf jeden Fall die Grundlagenforschung
beflügelt. Das Projekt ist ein tragender Bestandteil des neuen
Forschungsbereichs „Collective behaviour“ zur Erforschung von Schwarm- und
Kollektivverhalten an der Universität Konstanz.
Das neue Spitzenforschungszentrum Center for Visual Computing of
Collectives (VCC) ist derzeit im Bau und soll 2021 fertiggestellt sein. In
sieben Speziallaboren werden die 120 Biologen und Informatiker dort
gemeinsam Daten von Tiergruppen erheben und tierisches Kollektivverhalten
erforschen können.
## Mit Amseln zum Next-Generation-Internet?
Noch gar nicht absehbar ist indes, wie die Icarus-Forschungstechnik aus dem
Tierbereich womöglich in das Alltagsleben der Menschen „diffundieren“
könnte. Der Konstanzer Wissenschaftler verweist auf die Entwicklungsdynamik
der Digitalisierung die dahinter steht: „Unser Icarus-System schickt ohne
Zutun des Menschen kleine Datenpakete überall auf der Welt hin und her –
ähnlich wie es bei der immer weiter voranschreitenden Vernetzung von
Alltagsgegenständen der Fall sein wird, dem sogenannten Internet der
Dinge.“
Vor diesem Hintergrund stelle Icarus auch „ein völlig neues digitales
Kommunikationssystem dar“, sagt Martin Wikelski. Bleibt zu hoffen, dass die
augenzwinkernde Abkürzung für das Wissenschaftsprojekt Icarus keine
Berührung mit dem Namensgeber aus der griechischen Mythologie findet. Denn
mit diesem Ikarus nahm es kein gutes Ende: Beim fliegenden Fluchtversuch
kam er mit seinen durch Wachs stabilisierten Federflügeln im Höhenflug der
Sonne zu nahe – und stürzte ab ins Meer.
24 Oct 2020
## AUTOREN
Manfred Ronzheimer
## TAGS
Vögel
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Tauben
Die Wahrheit
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