# taz.de -- Geflüchteter klagt gegen Asylablehnung: Plötzlich nicht mehr „u… | |
> Das Erdoğan-Regime hat 2019 deutsche Asylunterlagen erbeutet. Der Kurde | |
> Sefkan S. geriet dadurch in Gefahr – vielleicht zu seinem großen Glück. | |
Bild: Im August 2017 lehnte das BAMF den Asylantrag des in Istanbul geborenen K… | |
Berlin taz | Sefkan S. ist ein schmächtiger junger Mann. Sein Auftritt ist | |
freundlich und zurückhaltend. Eigentlich ist an ihm nichts Besonderes. Der | |
22-Jährige ist bloß einer der vielen aus der Türkei geflohenen Kurdinnen | |
und Kurden, denen der deutsche Staat die Anerkennung als politischer | |
Flüchtling verweigert. Doch in seinem Fall könnte sich das jetzt ändern. | |
In seinem Blick ist eine Mischung aus Verunsicherung und Traurigkeit, als | |
er am Donnerstag den Saal 4203 des Verwaltungsgerichts Berlin betritt. Seit | |
mehr als drei Jahren kämpft Sefkan S. nun bereits um eine Bleibeperspektive | |
in der Bundesrepublik. Die zermürbende Ungewissheit, nicht doch wieder | |
zurück in die Türkei abgeschoben zu werden, ist ihm anzusehen. | |
Allerdings haben sich seine Aussichten inzwischen deutlich verbessert. Das | |
hängt mit einem Vorfall vor rund einem Jahr in der Türkei zusammen. | |
Unter dem fadenscheinigen Vorwurf der Spionage wurde am 17. September 2019 | |
[1][der Rechtsanwalt Yilmaz S. in Ankara verhaftet]. Eine höchstbrisante | |
Festnahme, denn bis dahin war Yilmaz S. zwei Jahrzehnte lang als | |
„Kooperationsanwalt“ für die Deutsche Botschaft tätig. | |
Vom Auswärtigen Amt war er damit beauftragt, Informationen für | |
Asylverfahren von türkischen Staatsbürger:innen in Deutschland einzuholen. | |
Seine Aufgabe war, die Angaben von aus der Türkei geflohenen Menschen zu | |
überprüfen, die dort mutmaßlich politisch verfolgt werden. Was er genau | |
gemacht hat, darüber verweigert die Bundesregierung selbst dem Bundestag | |
mit Verweis auf „schutzwürdige Interessen“ die Auskunft. | |
## Deutsche Gerichtsunterlagen in türkischer Hand | |
Fest steht allerdings, dass [2][Yilmaz S. für seine Arbeit umfangreiche | |
Unterlagen aus Asylverfahren von den deutschen Behörden] erhalten hat. Wie | |
viele davon bei Hausdurchsuchungen im Zuge seiner Verhaftung in die Hand | |
des türkischen Staates gelangt sind, unterschätzte die Bundesregierung | |
zunächst grandios. | |
Völlig naiv ging sie davon aus, dass die Ermittlungsbehörden am Bosporus | |
nur „von den Anfragen Kenntnis erlangt haben, mit denen der | |
Kooperationsanwalt zum Zeitpunkt seiner Festnahme betraut war und die er | |
noch nicht beantwortet hatte“, wie die Bundesregierung Ende Januar 2020 auf | |
eine [3][Kleine Anfrage der Linksfraktion] antwortete. Dabei hätte es sich | |
um Vorgänge zu 59 Asylverfahren gehandelt, die insgesamt 113 Personen | |
beträfen. Die Betroffenen seien allesamt entsprechend informiert worden. | |
Tatsächlich entsprach das nur dem Bruchteil der Beute, die das | |
Erdoğan-Regimes hatte machen können. In seiner [4][Antwort auf eine | |
Schriftliche Frage] der grünen Bundestagsabgeordneten Luise Amtsberg musste | |
das Auswärtige Amt am 21. August das wahre Ausmaß des Desasters einräumen: | |
„Nach derzeitigem Erkenntnisstand haben die türkischen Behörden | |
Informationen zu insgesamt circa 900 Anfragen erhalten, die Herrn S. im | |
Zeitraum von 2017 bis zu seiner Verhaftung im September 2019 von der | |
Deutschen Botschaft Ankara zu Recherchezwecken im Rahmen von | |
Aushilfeersuchen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und | |
der Verwaltungsgerichte übermittelt worden waren.“ | |
## Achtstündiges Verhör durch den Staatsschutz | |
Sefkan S. war im Mai 2017 nach Hamburg geflohen. Drei Monate später lehnte | |
das BAMF den Asylantrag des in Istanbul geborenen Kurden ab. Kein | |
ungewöhnlicher Vorgang: Im selben Jahr wurden von 6.808 Asylanträgen | |
türkischer Staatsangehöriger mit kurdischen Wurzeln [5][5.533 als | |
„unbegründet“ und 393 als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt]. | |
Die gängige Ablehnungspraxis lässt sich nicht unbedingt mit fehlender | |
politischer Verfolgung rechtfertigen, sondern folgt offenkundig nicht | |
selten politischen Opportunitäten. Darauf jedenfalls deutet der Umgang mit | |
Sefkan S. hin. Nach seinen Angaben hatte er sich in der Türkei als | |
15-Jähriger der Yurtsever Devrimci Gençlik Hareketi, kurz YDG-H, | |
angeschlossen. | |
Die Organisation, die die Neue Züricher Zeitung als [6][“Öcalans militante | |
Jugendbrigade“] bezeichnet, war 2013 von jugendlichen | |
PKK-Sympathisant:innen gegründet worden. In der Türkei wird die YDG-H | |
mittlerweile als Terrororganisation eingestuft, die Mitgliedschaft ist | |
strafbar. Bis zu seiner Flucht im Mai 2017 lebte Sefkan S. eine Zeit lang | |
im Untergrund. | |
Der deutsche Staatsschutz nahm Sefkan S. sehr ernst und ermittelte bereits | |
kurz nach seiner Einreise gegen ihn. Die Befürchtung: Er könnte sich auch | |
in Deutschland entsprechend betätigen. Der Jugendliche wurde einem | |
achtstündigen Verhör unterzogen, in dem er umfassend aussagte. | |
Schließlich wurden die Ermittlungen gegen Sefkan S. eingestellt. Der | |
Staatsschutz befand, seine früheren militanten Aktivitäten seien für die | |
Türkei, aber nicht für Deutschland relevant. | |
## Der erster Verhandlungstag | |
Das BAMF hielt die Aussagen von Sefkan S. jedoch für unglaubwürdig und | |
wollte ihn nicht als politischen Flüchtling anerkennen. „Durch die | |
Ermittlungen des Staatsschutzes wusste das Bundesamt ganz genau, was mein | |
Mandant in der Türkei getan hat“, empört sich Anwalt Mahmut Erdem. | |
„Trotzdem hat es seinen Asylantrag erstmal abgelehnt.“ So blieb nichts | |
anderes, als gegen den Ablehnungsbescheid zu klagen. | |
Am 29. Januar 2019 fand der erste Verhandlungstag vor dem | |
Verwaltungsgericht Berlin statt. Sefkan S., dessen Bruder Hakan am 25. Mai | |
2018 bei Gefechten der PKK mit der türkischen Armee im nordkurdischen | |
Şemzînan getötet worden war, sagte erneut umfänglich zu seinen früheren | |
Aktivitäten in der Türkei aus. | |
Doch das reichte dem Verwaltungsgericht nicht. Der damals zuständige | |
Richter stellte zur Überprüfung ein „Amtshilfeersuchen in Asyl- und | |
Rückführungsangelegenheiten“ an das Auswärtige Amt. Das leitete die | |
entsprechenden Unterlagen samt der kompletten Aussage von Sefkan S. in die | |
Türkei weiter – entweder an Yilmaz S. oder an einen anderen, später | |
ebenfalls verhafteten „Kooperationsanwalt“. Dann ging erstmal viel Zeit ins | |
Land. | |
Am 15. Januar 2020 kam die dürftige Antwort des Auswärtigen Amtes. Mehr als | |
ein paar bekannte wie dürftige Allgemeinheiten zur YDG-H hatte das | |
zweiseitige Schreiben, das der taz vorliegt, nicht zu bieten. Immerhin | |
bestätigte es die Verfolgung von Menschen, die im Verdacht stehen, für | |
diese Organisation aktiv zu sein: „In zahlreichen Strafverfahren wurden | |
Angeklagte wegen Mitgliedschaft in der Terrororganisation YDG-H und wegen | |
Teilnahme an verschiedenen Aktionen der Organisation verurteilt.“ | |
Aber Erkenntnisse zu Sefkan S. enthielt es nicht. | |
## Die Wende im Asylverfahren von Sefkan S. | |
Am 17. August 2020 schickte das Auswärtige Amt jedoch ein zweites Schreiben | |
an das Verwaltungsgericht. Es liegt der taz ebenfalls vor. Der knappe wie | |
heikle Inhalt: „Im Nachgang zu unserem Schreiben vom 15.01.2020 kann nun | |
anhand von neuen Erkenntnissen des Auswärtigen Amts mitgeteilt werden, dass | |
die türkischen Behörden Kenntnis von Ihrer o.g. Anfrage bzw. den ggf. | |
beigefügten Unterlagen haben.“ | |
Der Brief schlägt ein wie eine Bombe. Denn damit räumte das Auswärtige Amt | |
explizit ein, dass Sefkan S. zu den Hunderten Geflüchteten gehört, die von | |
der Verhaftung der zwei für die Deutsche Botschaft in Ankara arbeitenden | |
„Kooperationsanwälte“ betroffen sind. Das ist die Wende. | |
Nach mehr als eineinhalb Jahren fand nun am Donnerstag der zweite | |
Verhandlungstag über die Klage von Sefkan S. gegen die Bundesrepublik | |
Deutschland statt. Das sei „alles sehr unglücklich“, sagte gleich zu Beginn | |
Richterin Constanze von Roeder, die inzwischen das Verfahren übernommen | |
hat. Es müsse davon ausgegangen werden, dass Sefkan S. in seinem Heimatland | |
alleine schon aufgrund seiner an die türkischen Behörden gelangten, sich | |
selbst belastenden Aussagen ein Verfahren drohe. Dabei sei angesichts der | |
politischen Tatvorwürfe „nicht davon auszugehen, dass rechtsstaatliche | |
Standards eingehalten werden“. | |
In Anbetracht der Umstände könne man aus ihrer Sicht „jetzt tatsächlich von | |
einer Verfolgung ausgehen“, konstatierte die Richterin. Aufgrund der | |
Vorfälle sei nach ihrer vorläufigen bisherigen Einschätzung ein | |
Abschiebeverbot „das Mindeste“, sagte sie in Richtung des | |
Prozessbevollmächtigten des BAMF. | |
BAMF-Jurist Guido Kröger tat sich schwer – wohl aus Angst vor einem | |
Präzedenzfall. Ihm sei klar, „dass das eine sehr sensible und sehr | |
schwierige Sache ist“, sagte er. Aber trotzdem dürfe es „keinen | |
Automatismus“ geben, Sefkan S. nun Asyl zu gewähren. Allerdings machte es | |
nicht den Eindruck, dass sich Kröger wirklich wohl in seiner Haut fühlte. | |
Nach knapp eineinhalbstündiger Verhandlung gab der Prozessbevollmächtigte | |
denn auch endlich sein hartleibiges Lamentieren auf und signalisierte ein | |
Einlenken. | |
Bis zum 15. Oktober hat das BAMF nun vom Gericht Zeit bekommen, seine | |
bisherige ablehnende Haltung offiziell zu korrigieren. Falls es dazu doch | |
nicht kommt, werde sie innerhalb einer Woche ein Urteil sprechen, kündigte | |
Richterin von Roeder an. Dass es zugunsten von Sefkan S. ausfallen würde, | |
daran ließ sie keinen Zweifel. | |
Als Sefkan S. das Gerichtsgebäude verlässt, zündet er sich als erstes eine | |
Zigarette an. Ein kurzes Lächeln huscht über sein Gesicht. | |
2 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Spionagevorwuerfe-der-Tuerkei/!5640294/ | |
[2] /Ausspaehungen-durch-den-tuerkischen-Staat/!5661562/ | |
[3] https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/168/1916825.pdf | |
[4] https://luise-amtsberg.de/wp-content/uploads/2020/09/SF-8-159-MdB-Amtsberg.… | |
[5] https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/097/1909704.pdf | |
[6] https://www.nzz.ch/international/europa/buergerkieg-in-der-suedosttuerkei-o… | |
## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
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