Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Eine westfälische Ikone: Das ist das Gesicht von Jesus
> Das „Heilige Antlitz Christi“ aus der Berliner Gemäldegalerie soll das
> wahre Gesicht von Jesus zeigen. Wer davor betete, kam schneller in den
> Himmel.
Bild: Das wahre Gesicht Jesu, hier ein Ausschnitt, hängt in der Berliner Gemä…
Mysteriöse Abdrucke des Gesichts von Jesus Christus erscheinen seit dem 6.
Jahrhundert in den christlichen Traditionen. Aber erst im 14. Jahrhundert
wurde der Kult um Veronika und ihr Schweißtuch zum populären Phänomen in
der Westkirche. Die Jesus-Porträts sind der Überlieferung nach in einem
Kopierprozess entstanden, als ein Stück Tuch gegen das heilige Gesicht oder
den Körper von Christus gedrückt wurde. Insgesamt gibt es fünf oder sechs
dieser außergewöhnlichen Bilder. Sie gelten als acheiropoietisch, nicht von
menschlicher Hand, sondern durch ein Wunder geschaffen, das Wunder der Vera
Ikon, des „Wahren Bilds“.
In der Figur Veronikas sind die Fäden der unterschiedlichen
Entstehungsmythen der wahren Bilder miteinander verknüpft: Der Mythos der
mitfühlenden Frau, [1][die Jesus das schwere Kreuz auf seinem Rücken tragen
sah], ihm den Schweiß von der Stirn wischte und danach das Abbild Jesu auf
dem Tuch vorfand, wurde mit jener Frau in Verbindung gebracht, die zwölf
Jahre lang unter ständigen Menstruationsblutungen gelitten hatte (eine
besonders spektakuläre männliche Fantasie), bis sie den Saum von Jesu
Gewand berührte. Im apokryphen Nikodemus-Evangelium wurde sie Berenike,
lateinisch Veronika, genannt.
Einer anderen Geschichte zufolge hatte Veronika ein Porträt von Jesus malen
wollen, erhielt von ihm aber einen auf wundersame Weise entstandenen
Abdruck seines Gesichts auf einem Stück Stoff. Mittels einer etymologischen
Verdrehung wurde später der Name „Veronika“ auf „Vera Ikon“ zurückgef…
Lange vor der Verehrung des Schweißtuches im Westen wurde das „Christusbild
von Edessa“, auch „Mandylion“ genannt, im Jahr 944 vom byzantinischen
Kaiser Romanos I. als Beute nach Konstantinopel gebracht. Es wurde vielfach
kopiert und in der byzantinischen Kunst zu einer populären Ikone. Der
Legende nach geht das Tuch auf König Abgar von Edessa zurück, der ein
Zeitgenosse Jesu war. Einer der Jünger des Gottessohns hatte dem König das
Tuch mit dem Porträt gebracht und es hatte Abgar von der Lepra geheilt.
Eine auf zwei Tafeln aus Zypressenholz gemalte Kopie, die als getreue
Wiedergabe des ursprünglichen Mandylions galt, wurde im Jahr 1249 aus Rom
in einen Konvent nahe der nordfranzösischen Stadt Laon geschickt. Von dort
gelangte sie im 18. Jahrhundert in die Kathedrale von Laon, wo sie noch
heute angebetet wird. Die Reise dieser Kopie des Mandylions von Ost nach
West ging der Verehrung des „Schweißtuchs der Veronika“, auch „Sudarium�…
genannt, voraus. Dieses Tuch, das ebenfalls einen Abdruck des Heiligen
Gesichts trägt, wird neben der Reliquie des „Wahren Kreuzes Christi“ noch
heute in der Basilika St. Peter verehrt.
## Ein fotografisches Bild
Das „Schweißtuch der Veronika“ ist ein Relikt und ein fotografisches Bild
zugleich. Es sagt das mechanische Bild voraus, das nicht von Hand gemacht,
sondern Ergebnis eines Kontakts ist. Es sucht die Fotografie heim als ein
Bild, das ein Souvenir oder die Spur eines Ereignisses ist. Diese Reliquien
aus Stoff, die Zeugnis von der Menschwerdung Gottes ablegen wollen, zeigen
allerdings wenig. Nur die schwache Ahnung einer Figur ist auf ihnen zu
sehen. Sie verweist vor allem auf das Material des Objekts selbst – ein
zerknittertes Textil, ein Taschentuch – eine Art Leinwand.
Mittelalterliche Bilder des Heiligen Antlitzes haben daher einen seltsamen
Status. Sie werden als „wahr“ erachtet, verhalten sich aber wie bloße
Repliken (oder wie Kopien der Replik). In der Behauptung, diese Abbilder
seien göttlichen Ursprungs, bricht sich der menschliche Wunsch Bahn, die
Verbergung zu überwinden, die jede Repräsentation mit sich bringt.
Stattdessen soll ein Bild geschaffen werden, das keine Darstellung ist,
sondern das Heilige Wort gegenwärtig werden lässt.
Auf der westfälischen Vera Ikon, die auf Eichenholz gemalt [2][in der
Berliner Gemäldegalerie zu sehen ist], schwebt der körperlose Kopf von
Jesus Christus frei über einer goldenen „Mandorla“, einer mandelförmigen
Umrahmung, die für mittelalterliche Ikonen typisch ist. In einem dunklen
Ring aus Bart und Haaren zeichnet sich ein Gesicht mit tiefbraunen Augen
ab; der Blick ist nach innen und zugleich auf die Betrachter gerichtet.
Ein simples Sfumato, eine Technik in der Ölmalerei, Konturen weich
verschwimmen zu lassen, genügt, um das Gesicht lebendig und im Vergleich
zur üblichen grafischen Darstellungsweise von Ikonen ausdrucksvoll
menschlich erscheinen zu lassen.
Viele Charakteristika dieses Heiligen Gesichts stimmen mit einer
Beschreibung von Jesus überein, die sich im Lentulus-Brief findet, einem
Bericht, den Publius Lentulus, ein römischer Prokurator von Judäa,
angeblich für den Senat von Rom verfasst hat. „Sein Haar hat die Farbe
einer völlig reifen Haselnuss, bis zu den Ohren beinahe glatt, von da
abwärts etwas gelockt über seine Schultern wallend und nach Sitte der
Nazarener in der Mitte gescheitelt. Der Bart ist wenig stark, in der Farbe
zu den Haaren passend, von nicht sehr großer Länge.“
Zahlreiche deutsche und niederländische Gemälde des Heiligen Antlitzes vom
14. Jahrhundert an entsprechen der Beschreibung des Lentulus, wobei
Historiker die Existenz dieses römischen Prokurators nicht verifizieren
konnten und den frühesten Zeitpunkt der Entstehung des ihm zugeschriebenen
Briefs auf das 13. Jahrhundert datiert haben.
Unabhängig von der Frage, ob der gefälschte Brief die Echtheit der Bilder
bestätigen sollte oder die Bilder vielmehr den Brief beglaubigen, erfüllt
diese standardisierte Beschreibung des Heiligen Gesichts ihre Absicht:
eine unsichtbare Welt ins Sichtbare zu übersetzen. Wie ein Traum, der erst
nachträglich durch seine Beschreibung gesehen werden kann, deuten Bild und
Text auf einen Prototyp, dessen Fehlen sie kompensieren sollen.
Wie oft auf solchen Bildern befindet sich auch auf der westfälischen Ikone
eine Inschrift in gotischer Textur. Innerhalb der goldenen Mandorla umgibt
die Inschrift das Antlitz von links nach rechts wie ein Heiligenschein. Sie
offenbart die Worte des Erlösers und bezieht sich auf den ersten und
letzten Buchstaben des griechischen Alphabets, auf die Sprache als Mittel
der Schöpfung: „Ego sum alpha et o(mega) deus et homo.“ Ich bin Alpha und
Omega, der Anfang und das Ende, Gott und Mensch.
## Die Blutungen der Veronika
Das Heilige Gesicht ist mehrfach umschlossen; es wird gerahmt von den
dunklen gelockten Haaren und dem Bart, von der Inschrift, von der goldenen
Mandorla, von den Rändern der Tafel, wo sich jeweils drei Engel mit
individuellen Zügen aus jeder der vier Ecken über Jesu Antlitz beugen, und
schließlich von einem weiteren Rahmen, der blutrot bemalt und mit
Medaillons verziert ist, die jeweils eine Blume umranden.
Könnte es sein, dass die nicht endenden Blutungen der mit Veronika
assoziierten Frau aus dem Evangelium des Matthäus und die Abdrücke von Jesu
Schweiß und Blut auf dem roten Rahmen der westfälischen Tafel
fortexistieren? Verbindet das Blut die Passion Christi mit der Enthauptung
der Medusa? Es gibt keine buchstabengetreue Rechtfertigung für diese
Inszenierung – eines körperlosen, androgynen, den Gorgonen ähnlichen Kopfs,
der über einer planen Oberfläche schwebt – und doch kommt sie in vielen
Versionen des Heiligen Gesichts vor.
Die magischen, Glück bringenden Qualitäten, die Reliquien zugeschrieben
werden, leben in der Rahmung dieser Vera Ikon fort. Von der Renaissance bis
zur Avantgarde der Moderne umgeben Bilderrahmen das Gezeigte wie ein
Fenster, durch das ein Stück der Welt sichtbar wird. Während diese Rahmen
die mimetische Natur des Gezeigten verstärken und zugleich einen einzigen
subjektiven Standpunkt der Kognition unterstellen, definiert der Rahmen der
Ikone hingegen eine Welt, die vollkommen von der Realität getrennt ist.
## Die Aufenthaltsdauer im Fegefeuer
Das westfälische Heilige Antlitz ist eine der wenigen vollständig
erhaltenen Ikonen in Mitteleuropa. Selbst die beiden auf der Rückseite
befestigten schmiedeeisernen Aufhänger sind wahrscheinlich original. Sie
weisen darauf hin, dass solche Bilder in Häusern aufgehängt wurden, um vor
ihnen zu beten. Eine Verkürzung der Aufenthaltsdauer im Fegefeuer wurde
jedem gewährt, der vor einem wahren Bild mit dem Antlitz Christi das Gebet
„Salve sancta facies nostri redemptoris“ sprach, das am Ende der Tage
Eingang in den Himmel verspricht.
Je größer der Wert des gewährten Ablasses im Lauf der Zeit wurde (er stieg
von zehn Tagen im 13. Jahrhundert auf 10.000 Tage im späten 15.
Jahrhundert), desto populärer wurde auch der Kult um Veronika.
Im Verlauf dieses Prozesses tat sich eine Kluft auf, die so alt ist wie der
Streit über den Tanz um das goldene Kalb in der Bibel, der die Natur von
Gottes Erscheinung und sein Bild betrifft. Der Widerspruch zwischen dem
Verlangen, Gott zu sehen, und dem Gebot, das die Anbetung von Götzen oder
Bildern untersagt, hat jede der drei monotheistischen Religionen, aber auch
die Entwicklung der westlichen Bildproduktion wesentlich geprägt.
Es gibt kein Gottesbild, und vielleicht kein Bild überhaupt, das nicht
diesen Riss in sich trägt. Er drückt sich auch im Widerspruch zwischen den
jedem Bild innewohnenden Eigenschaften aus, entweder eine Anwesenheit oder
eine Abwesenheit in der Welt zu sein.
## Die Beschaffenheit der Wirklichkeit
Als Kasimir Malewitsch in einer Ausstellung im Dezember 1915 in Petrograd
das „Schwarze Quadrat“ enthüllte, platzierte er das Werk hoch oben in einer
Ecke des Raums, dem heiligen Ort, an dem in einem russischen Heim die Ikone
hängen würde. „Ich habe die nackte Ikone meiner Zeit gemalt“, schrieb er
1918 in einem Brief an seinen Freund, den Verleger Alexandre Benois.
Malewitsch (1879–1935) lehnte jegliche Referenten, also reale
Bezugsobjekte, in der visuellen Sprache unerbittlich ab und betonte
stattdessen die materiellen Qualitäten des Gemäldes: Textur, Farbe und
räumlicher Illusionismus „als solcher“. Zugleich aber nannte er sein System
der Malerei „neuer malerischer Realismus“ und erklärte, sein Ziel sei
nicht, auf die Welt der Gegenstände zu verzichten, sondern im Gegenteil der
wahren Beschaffenheit der Wirklichkeit näherzukommen.
Spätestens seit Édouard Manet wurde in der modernen Kunst die „Verbindung
zur Realität“ wieder von der Ähnlichkeit des Abbilds getrennt.
Möglicherweise konnten die Illusionen, welche die Malerei herzustellen
gelernt hatte, nicht mehr den Glauben an die Realität bedienen, die sie auf
so besessene Weise zu reflektieren versuchte; mit diesem Rückzug von der
Ähnlichkeit machte die Malerei den Weg für die Fotografie frei, ist
behauptet worden.
## Die Ikone imitiert nicht
Malewitsch führte die Malerei zur Frage zurück, wie sie etwas zeigen kann,
ohne es abzubilden. In dieser Frage ist ein Zweifel an der einfachen
binären Unterscheidung zwischen Figuration und Abstraktion angelegt; sie
scheint Malewitschs „Schwarzes Quadrat“ mit den Ikonen des Heiligen
Gesichts zu verbinden.
Ikon (vom griechischen „eikon“) bedeutet Bild, Ähnlichkeit. Ein Abbild
scheint einen Referenten vorauszusetzen, das heißt, dass ein Bild als
solches ein Ergebnis ist, das Imitation bedingt. Die Fixierung auf
Ähnlichkeit in der Malerei wurde vielleicht erst mit der Erfindung der
Fotografie aufgelöst oder zumindest verwandelt.
Die Ikone dagegen kopiert kein Objekt aus der äußeren Welt, sie imitiert
nicht. Sie will uns Gott sehen lassen. Die Ikone interessiert sich nicht
für die Illusion von Wahrheitsnähe. Sie kümmert sich nicht um ihren
Betrachter, der jedenfalls kein „Zuschauer“ ist. In der Tat sehen
Betrachter das „Wahre Bild“ weniger, als sie vielmehr selbst dem Blick des
Bildes unterworfen werden.
11 Oct 2020
## LINKS
[1] /Auferstanden-oder-aufgestanden/!5586970
[2] /!t5482010
## AUTOREN
Tal Sterngast
## TAGS
Serie „Alte Meister“
Gemäldegalerie
Kunst
Religion
Malerei
Serie „Alte Meister“
Serie „Alte Meister“
Serie „Alte Meister“
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ausstellung zu Hugo van der Goes: Doch es ist ein frotzelnder Troll
Hugo van der Goes verband Irdisches mit Himmlischem. In Berlin ist zu
sehen, wie die Kunstgeschichte ihr Bild von dem niederländischen Maler
schuf.
Heroische Landschaftsmalereien: Die Natur als Protagonist
Ruinen, Menschen, Engel: Nicolas Poussins Gemälde „Landschaft mit Matthäus
und dem Engel“ von 1640 erzählt uns von der göttlichen Ordnung der Dinge.
Zwei Maler, zwei Ideen, ein Bild: Ein Zoom aus der Ferne
„Die Darbringung Christi im Tempel“ stammt von Mantegna, Bellini pauste das
Bild ab. Beide sind in der Berliner Gemäldegalerie zu sehen.
Altdorfers „Landschaft mit Satyrfamilie“: Sehnsucht nach dem Wilden Mann
Albrecht Altdorfer war der erste Landschaftsmaler in Europa. Seine
„Landschaft mit Satyrfamilie“ erzählt von der Zuneigung zum
Unzivilisierten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.