# taz.de -- Zwei Maler, zwei Ideen, ein Bild: Ein Zoom aus der Ferne | |
> „Die Darbringung Christi im Tempel“ stammt von Mantegna, Bellini pauste | |
> das Bild ab. Beide sind in der Berliner Gemäldegalerie zu sehen. | |
Bild: Andrea Mantegnas „Darbringung Christi im Tempel“ (Ausschnitt) entstan… | |
Als Maria und Josef den neugeborenen Jesus in den Jerusalemer Tempel | |
brachten, möglicherweise um das Kind beschneiden zu lassen, hatten sie laut | |
Lukasevangelium (2,21–39) ein Taubenpaar als Opfergabe dabei. Aber weder | |
das Tieropfer noch Details des Altars oder des Tempels sind in dem dichten | |
Bild Andrea Mantegnas zu sehen. Mantegna, der als Sohn eines Zimmermanns | |
vermutlich 1431 in der Nähe von Padua geboren wurde und 1506 in Mantua als | |
gefeierter Hofmaler der Gonzaga starb, hatte die damals herrschenden | |
malerischen Konventionen für seine Interpretation des religiösen Themas | |
hinter sich gelassen. | |
Wie jeder Künstler in Padua dürfte Mantegna das Fresko Giottos gekannt | |
haben, das gemäß den damaligen darstellerischen Normen ebenfalls „Die | |
Darbringung Christi im Tempel“ zeigt. Giotto stellte um 1303 die heilige | |
Szene in der Scrovegni-Kapelle mit vielen Protagonisten innerhalb einer | |
architektonischen Komposition dar. Mantegna hingegen schnitt seine Figuren | |
ab der Hüfte ab, drängte sie auf einem engen, durch einen gemalten | |
Marmorrahmen begrenzten Raum vor dunklem Hintergrund wie in einem Zoom | |
zusammen. | |
Und obwohl Mantegna dafür bekannt war, als einer der ersten | |
Renaissancekünstler die Technik der perspektivischen Verkürzung von Räumen | |
und Körpern virtuos zu beherrschen, lässt die dichte Konzentration der | |
Gruppe die Bildebene fast zweidimensional erscheinen. Im Vordergrund seines | |
1454 entstandenen Gemäldes ist Simeon als Weiser in feierlicher Haltung und | |
mit würdigem Gesichtsausdruck zu sehen. Sorgfältig und fein gemalt, jedes | |
einzelne seiner Barthaare ist mit dünnen Linien aus Eitempera dargestellt, | |
ergreift Simeon die Füße von Jesus, in dem er laut Lukas den Messias | |
erkannt hatte. | |
Die zärtlich abgebildete Geste der betrübten Mutter, an deren bleiches | |
Profil sich die Silhouette des Babys wie ein Puzzlestück schmiegt, verweist | |
auf die Ambiguität der mütterlichen Sorge um das Kind und die Anerkennung | |
(oder Ablehnung) seiner zukünftigen Rolle. Anders als die Maria Giottos | |
scheint sie das Kind mit beiden Armen von Simeon wegzuziehen, als ob sie | |
Jesus in seiner leiblichen Dimension bei sich behalten und vor seinem | |
Schicksal retten wollte. | |
## Das Gemalte ist die Leinwand | |
Das Baby weint. Vielleicht aus Angst, seiner Mutter entwunden zu werden, | |
vielleicht in Vorausschau seines Leidens am Kreuz. Semitransparente | |
Streifen weißen Leinens scheinen das Kind wie ein Verband zu umwickeln, ein | |
fesselndes Bilddetail, das die Tücher mit der Leinwand gleichzusetzen | |
scheint, auf der sie gemalt sind. | |
Die Leinwand wird durch weggeschabte Farbe bloßgelegt und leiht ihr | |
gewebtes Raster der Darstellung der Textur des Wickeltuchs, das einem | |
Leichentuch ähnelt. So ähnlich ist es bei „Madonna und Kind“, einem ander… | |
in Berlin hängenden Bild Mantegnas. Ob gewollt oder nicht, manifestiert die | |
Leinwand ihre eigene Präsenz, das Bild ist Abbildung und Objekt zugleich. | |
Das Marmorfenster, in dem sich die Szene abspielt, könnte auf Jesu Grab | |
vorausweisen. | |
## Ein erfinderischer Künstler | |
Mantegnas Bild wird derzeit von einem Doppelgänger begleitet. Eine etwas | |
größere und kompositorisch verlängerte Version der „Darbringung“ von | |
Bellini, die sonst in der Fondazione Querini Stampalia in Venedig | |
ausgestellt wird, hängt direkt neben Mantegnas Bild für die Dauer der | |
Ausstellung „Mantegna und Bellini. Meister der Renaissance“. Das ist nicht | |
nur eine historische Gegenüberstellung, sondern eine Befreiung. | |
Denn damit wird Mantegnas zarte „Darbringung“ von ihrem permanenten | |
Hängungsort tief im Südflügel erlöst, wo die filigranen Details des schon | |
etwas verblichenen, stellenweise übermalten Gemäldes auch durch die | |
Beleuchtung eher verborgen als präsentiert werden. Nun, adäquat | |
beleuchtet, kann man sich leicht vorstellen, welch strahlenden, | |
verdichteten Effekt es einmal gehabt haben muss. | |
## Die Paarung der Bilder | |
Bis 2018 waren die beiden Gemälde noch nie zusammen zu sehen. Nun hängen | |
sie am Eingang der so gelehrten wie imposanten und einfühlsamen | |
Sonderausstellung, die in Zusammenarbeit mit der Londoner National Gallery | |
kuratiert wurde. Sie zeigt Arbeiten der beiden Meister der frühen | |
Renaissance, die aus Sammlungen in der ganzen Welt stammen. Die Paarung | |
dieser beiden Bilder zeigt, was die Ausstellung als Ganze akribisch | |
verfolgt: wie intensiv der jeweilige Einfluss der beiden auf das Werk des | |
anderen war und wie stark sich ihre Arbeitsweisen und künstlerischen | |
Programme unterschieden. | |
Darüber hinaus demonstriert die Schau die Dichotomien, mittels deren die | |
beiden Künstler in einem ewigen Wettbewerb darum, wer denn nun der Bessere | |
gewesen sei, über Jahrhunderte hinweg kategorisiert wurden. Es zeigt sich, | |
dass die angeblichen Gegensätze, die die konkurrierenden Werke | |
charakterisieren, nicht zu erfassen vermögen, was es hieß, im 15. | |
Jahrhundert ein maßgeblicher und erfinderischer Künstler zu sein. | |
## Die Malerei triumphiert über das Wort | |
Im Jahr 1504 schrieb ein venezianischer Kunsthändler an Isabella d’Este, | |
die Mäzenin beider Maler war: „Niemand kann Herrn Andrea Mantegna in | |
Hinblick auf seinen Erfindungsreichtum schlagen, wo er höchste Exzellenz | |
erreicht hat, aber wenn es um Farbe geht, ist Giovanni Bellini | |
vortrefflich.“ | |
Der Vater des Malers Raffael war selbst Hofmaler des Herzogs von Urbino, | |
der seinerseits der wichtigste Mäzen Piero de la Francescas war. Laut der | |
Aussage von Raffaels Vater sei der Herzog angesichts von Mantegnas Bildern | |
„stupefatto“, sprachlos, gewesen. Damit implizierte er nicht nur, dass | |
Mantegna der größte aller italienischen Maler inklusive Piero de la | |
Francesca war, sondern dass in seinem Werk die Malerei über das Wort | |
triumphiert. | |
## Von innen beleuchtet | |
Der Kunsthistoriker Roberto Longhi schließlich ging Anfang des 20. | |
Jahrhunderts so weit, die Geburt Bellinis, des in Wirklichkeit jüngeren | |
Schwagers Mantegnas, zehn Jahre vorzuverlegen, um Bellini als den | |
originelleren Maler von beiden zu installieren – gegen den herrschenden | |
Konsens. Über Jahrhunderte hinweg wurden die beiden so ähnlichen und doch | |
inhärent verschiedenen Versionen der „Darbringung Christi“ oft Mantegna | |
zugeschrieben. Heute wissen wir nicht nur, dass Bellini sein Bild gut | |
zwanzig Jahre nach Mantegna gemalt hat, sondern auch, wie man im Zug der | |
Vorbereitung dieser Ausstellung herausgefunden hat, dass Bellini das Werk | |
seines Schwagers abgepaust hat. | |
In seinem Bild fügte Bellini zwei weitere Personen hinzu und entkleidete | |
seine Protagonisten der feinen Heiligenscheine, die in Mantegnas Bild als | |
Ikonenreste über den Köpfen der Heiligen schweben. Aus Mantegnas Rahmen | |
wurde eine Brüstung. Das Bild scheint von innen beleuchtet zu sein und ist | |
etwas lieblicher, als ob es mit einem sanfteren Pinsel gemalt worden sei. | |
Es ist harmonischer, seine Figuren erscheinen weniger drastisch. Mantegna | |
malte mit Eitempera auf Leinwand, Bellini mit Öl auf Holztafel. Bellini | |
war einer der Ersten in Italien, die die neue Technik, die jenseits der | |
Alpen entwickelt worden war, übernahmen. | |
## Favorit der intellektuellen Elite | |
In der zweiten Reihe der Gruppe auf Mantegnas Bild erstrahlt der Kopf | |
Josefs, der stirnrunzelnd und mit Ehrfurcht auf Simeon blickt. Zwei Figuren | |
ohne Heiligenschein sind auf den Seiten zu sehen: eine junge Frau zur | |
Linken, vermutlich stellt sie Mantegnas Frau dar, und ein junger Mann zur | |
Rechten, der halb vom Rahmen verdeckt wird. Er starrt abwesend in den | |
Bildraum. Er wurde spätestens seit dem 19. Jahrhundert mit Mantegna selbst | |
identifiziert. | |
Mantegna war 23 oder 24 Jahre alt, als er 1454 „Die Darbringung Christi“ | |
malte. Er war damals bereits der berühmteste Künstler Norditaliens, Favorit | |
der intellektuellen Elite. Vermutlich malte er das Bild anlässlich seiner | |
Vermählung mit Nicolosia und der Geburt ihres Sohns im Jahr der Entstehung | |
des Gemäldes. Sosehr das Bild die Idee des Opfers in einer Darstellung | |
fasst, die an Andachtsbilder erinnert, schimmern in ihm doch auch eine | |
gewisse Intimität und Nähe auf. Es wurde wahrscheinlich für die Familie | |
gemalt. | |
Nicolosia, Mantegnas Frau, war Giovanni Bellinis Halbschwester, die Tochter | |
von Jacopo, dem Pater familias der erfolgreichsten Künstlerfamilie | |
Venedigs. Jacopo mag geplant haben, das Wunderkind Mantegna als kostenlosen | |
Mitarbeiter seiner Werkstatt gewinnen zu können, aber dieser hatte andere | |
Pläne. Im Jahr 1459 wurde Mantegna der Hofmaler der Herzöge von Mantua, | |
wohin er mit seiner Familie zog und wo er bis zu seinem Tod arbeitete. | |
## Wie mit dem Teleobjektiv herangeholt | |
Der Effekt des Bildes ist dual. Dem Prinzip der autorlosen Ikone folgend, | |
von der Mantegna wahrscheinlich die Beschreibung seiner Figuren in einer | |
Art Nahaufnahme entliehen hat, die zugleich intim und streng formal ist, | |
bleibt uns sein Bild fern und ist zugleich seltsam innig. Wie bei einem mit | |
Teleobjektiv aufgenommenem Foto erscheint der Bildraum komprimiert. Das | |
Geschehen in der Ferne wird uns näher gebracht, wir sehen seine | |
Einzelheiten und beobachten die Szene doch weiterhin aus der Distanz. | |
Auch der Marmorrahmen, aus dem die als Malerei gekennzeichneten Figuren in | |
die Welt des Betrachters herauszutreten scheinen, definiert die Grenze des | |
Bildes auf erfinderische Weise. Das gilt besonders für das Jesuskind, das, | |
auf einem Kissen stehend, gehalten wird und auf dem Marmorrahmen ruht – wie | |
Marias Ellbogen, der auf den Betrachter zeigt. Ein Trompe-l’Œil, das den | |
Betrachter einerseits ins Bild hineinzieht, andererseits die Grenzen des | |
Bildes in die Realität hinaus verschiebt. | |
## Das Elend der fleischlichen Existenz | |
„In seinem Leben zeigt sich Mantegna beinahe mehr als Humanist denn als | |
Künstler“, schrieb Roger Fry im Jahr 1905. „Wir hören von ihm fast nur, | |
dass er ein kranker Nachbar, ein unglücklicher Vater, ein indiskreter, | |
gealterter Liebhaber sei.“ Insofern sei bemerkenswert, dass dieser stolze, | |
streitsüchtige und ehrgeizige Mann die zärtlichsten Bilder von der Madonna | |
und ihrem Kind in der christlichen Kunst gemalt habe. | |
Ohne darauf zu verzichten, in einem peniblen Realismus die Erniedrigung, ja | |
das Elend der fleischlichen Existenz kenntlich zu machen, zeigt sich in | |
seiner Madonna und ihrem Kind ein Rätsel. Sie leben ein Leben, dessen | |
Gefühle uns unbekannt sind, intensiver, aber auch zu unruhig, um heiter | |
oder göttlich zu sein. Es ist ein Realismus, der anders als der flämische, | |
der Mantegna sicher beeinflusst hat, unerwartet mystisch ist. | |
4 May 2019 | |
## AUTOREN | |
Tal Sterngast | |
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