Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Betrüger, Bankrotteure, Bigamisten
> Ein ausgefallener Gast für eine ausgefallene Buchmesse: Die etwas andere
> Literaturgeschichte Kanadas zeigt ein Land großer Fantasie.
Bild: Selbst die Hände sind falsch im literarischen Kanada
Das Gastland der Frankfurter Buchmesse 2020 ist Margaret Atwood. Pardon,
Kanada! Allerdings wird „die Vielfalt, Kreativität und Einzigartigkeit der
kanadischen Literatur- und Kulturszene“ in der Tat durch Kanada, Quatsch:
durch Margaret Atwood geprägt.
Pünktlich vor und zur Buchmessezeit führen die Veranstalter ihres
„Ehrengastauftritts zur Special Edition 2020“ auf, was alles frisch auf den
Buchmarkt gehoben wird: In der Rubrik „Romane“ beginnt die Liste mit
Margaret Atwood: „Die Zeuginnen“ und Margaret Atwood: „Survial“, in der
Rubrik „Lyrik“ mit Margaret Atwood: „Die Füchsin“, und in der Rubrik
„Graphic Novel“ mit Margaret Atwood: „Der Report der Magd“, die
selbstverständlich auch in Sammelbänden wie „Kanadische
Gegenwartsliteratur“, herausgegeben von Sebastian Domsch, oder „Gefährliche
Ferien – Kanada“, herausgegeben von Christine Stemmermann, vertreten ist;
und in dem Interviewband „Aus dem Wald herausfinden“ interviewt der Autor
Caspar Shaller wen? Richtig.
Gewiss gibt es Literatur in Kanada neben Margaret Atwood. Ja, es gab sogar
welche vor Margaret Atwood! Nur fand sie nicht aus dem Wald heraus, sondern
in ihn hinein. Auch waren es weder echte Kanadier, die sie schrieben, noch
war, was sie schrieben, ganz echt – wie im Fall Frederick Philip Grove
(1879–1948), der aber als ein Klassiker der kanadischen Literatur gilt.
In seinen Romanen „Over Prairie Trails“ (1922), „Settlers of the March“
(1925), „A Search for America“ (1927) und „Fruits of the Earth“ (1933)
beschrieb er die Landschaft des nordamerikanischen Westens, schilderte das
harte Leben der Siedler und ihren Kampf gegen die ungezähmte Natur, womit
er zu jenem Bild von den Pionieren beitrug, das in der kollektiven
Erinnerung Kanadas fortdauert.
## Flunkernder Holzfäller
Dass dieses Bild der Wirklichkeit entsprach, dafür bürgte der Autor:
Geboren als Sohn schottisch-schwedischer Eltern, wanderte Grove 1892 nach
Kanada aus und verdingte sich als Holzfäller im kanadischen Westen, bevor
er sich als Farmer niederließ, dann Dorflehrer und 1922 endlich
Schriftsteller wurde und seine Erlebnisse literarisch verwertete. So konnte
man es in seiner Autobiografie „In Search of Myself“ lesen.
1973, 25 Jahre nach seinem Tod, flog alles auf. Frederick Philip Grove
hieß in Wahrheit Felix Paul Greve, stammte aus dem westpreußischen Radomno
und wuchs in Hamburg auf, wo sein Vater Straßenbahnschaffner war. Er trieb
sich in der Schwabinger Boheme herum, versuchte sich erfolglos als Lyriker,
Bühnenautor und Romancier und landete 1903 wegen Betrugs im Gefängnis,
weil er ein Privatdarlehen nicht zurückgezahlt hatte. Wegen fortdauernder
Überschuldung täuschte er seinen Gläubigern 1909 Selbstmord vor und floh
nach Nordamerika. 1912 tauchte er in der kanadischen Provinz Manitoba auf,
nannte sich fortan Frederick Philip Grove, arbeitete, dieses Detail
stimmte, brav als Lehrer und heiratete, obwohl seit 1907 verehelicht,
weniger brav 1914 ein zweites Mal.
Mit neuer Identität ausgestattet, erwarb der Betrüger, Bankrottier und
Bigamist die kanadische Staatsbürgerschaft und stieg zu einem Pionier
weniger der Landnahme als der kanadischen Literatur auf, der mit seinen
Prärieromanen ein Modell schuf, an dem sich spätere ebenso fantasiebegabte
Autoren orientieren konnten.
Noch kanadischer und gleich auch ein Held der frühen Umweltbewegung war der
indianische Trapper Wa-Sha-Quon-Asin, was „Graue Eule“ heißt. Im
Hirschlederanzug mit langen Fransen und in Mokassins, einen Bärenzahn am
Kragen, ein Messer im Gürtel und das Haar zu zwei Zöpfen geflochten,
berichtete er seinem Publikum in den zwanziger und dreißiger Jahren des
zwanzigsten Jahrhunderts vom Leben in der kanadischen Wildnis, schimpfte
über die weißen Holzfäller und schalt die Pelztierjäger, die den Biber an
den Rand der Ausrottung brachten.
## Fanternder Indianer
„Er ist die erste Rothaut, die tatsächlich wie ein Indianer aussieht“,
befand 1931 ein Reporter und schwärmte: „Seine hoch aufgeschossene sehnige
Physis, seine ausgeprägten Züge, seine kühnen Augen zeugen von dem Erbe
seiner stolzen, ungebändigten Vorfahren.“ Die allerdings waren keine
sehnigen, kühnen Indianer, sondern Engländer: Die Graue Eule war aus
Hastings zugeflogen und hieß richtig Archibald Belaney.
1906 war er nach Kanada ausgewandert und hatte als Verkäufer in einem
Warenhaus in Toronto gearbeitet, bevor es ihn in den Westen zog. Er ließ
sich als Ranger anstellen, freundete sich mit dem Stamm der Ojibwa an, der
ihm den indianischen Namen gab, und nahm eine Indianerin zur Frau. 1915
meldete er sich zur kanadischen Armee, kämpfte als Scharfschütze in
Flandern und heiratete 1917, ohne geschieden zu sein, wie Greve/Grove ein
zweites Mal, seine Jugendfreundin Connie Holmes. Die Ehe hielt ein paar
Jahre, aber nach seiner Rückkehr nach Kanada wurde die 17-jährige Gertrude
Bernhard alias „Anahareo“ vom Stamm der Mohawk seine Lebensgefährtin. 1931
brachte er sein erstes Buch („The Men of the Last Frontier“) heraus, ging
1936/37 in vollem Indianerkostüm auf Vortragsreise in Großbritannien, und
bis zuletzt gelang es dem Verlag, die wahre Identität der Grauen Eule unter
dem Deckel zu halten, um den kommerziellen Erfolg nicht zu gefährden.
1938 starb der Möchtegernindianer an Lungenentzündung in seinem Blockhaus
am Ajawaan-See. Obwohl ein Schlawiner, Schwindler und Aufschneider, hat
sich Archibald Belaney alias Wa-Sha-Quon-Asin verdient gemacht: Nicht nur,
weil er die Sehnsucht nach dem einfachen Leben bediente, sondern indem er
das öffentliche Bewusstsein für die Umwelt weckte, auf die Abholzung des
Urwalds und die Bedrohung der Tierwelt aufmerksam machte. Schade bloß, dass
seine und Groves Bücher nurmehr als Kindle-Ausgabe erhältlich sind. Na ja,
müssen die Literaturfreunde halt … wie war der Name … tja, müssen Sie eben
die Dingens lesen.
13 Oct 2020
## AUTOREN
Peter Köhler
## TAGS
Literatur
Kanada
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
Deutsche Sprache
Sprachkritik
Sprachkritik
Winfried Kretschmann
Sprachkritik
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Die Zügel eines Autokraten
Neues von der Sprachkritik: Wenn es im Deutschen hoch, weit und verspult
hergeht, dann wird es gern eng, schwach und lose.
Die Wahrheit: Dem Dativ zum Gruße
Neues von der Sprachkritik: Nach dem Genitive muss auch dem Wemfall
gehuldigt werden, bevor er endgültig dem Tode verfällt.
Die Wahrheit: Da de di do dum so dumm
Neues von der Sprachkritik: Des Genitivs Schönheit betört nicht alle
Sprachnutzer gleichermaßen. Beliebter sind hässliche Hilfskonstruktionen.
Die Wahrheit: Großväterchen Dudelsack
Schurken, die die Welt beherrschen wollen – heute: Winfried „Kompromiss“
Kretschmann, die grüne Antwort auf die quäkende Biene Willi.
Die Wahrheit: Auf massiv dünnem Eis
Neues von der Sprachkritik: Im Meer der vielen Widersprüche, wo sind da
Zeit und Sinn, wo sind sie hin, wo sind sie hin?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.