# taz.de -- Gorleben wird nicht Atommüll-Endlager: Vierzig Jahre ist zu lang | |
> Am Ende triumphierte die Anti-AKW-Bewegung. Gibt es Gemeinsamkeiten mit | |
> der erfolgreichsten Protestbewegung der Gegenwart, Fridays For Future? | |
Bild: Ein von der Polizei aufgelöstes Anti-Atom Camp bei Gorleben 1994 | |
Dieser Pass ist gültig, solange sein Inhaber noch lachen kann“, so steht es | |
– dreisprachig – in meinem Wendenpass mit der Nummer 1562413. Ausgestellt | |
wurde das Dokument der Republik Freies Wendland am 25. Mai 1980. Das | |
Bohrloch 1004 zur untertägigen Erkundung des Salzstocks nahe Gorleben war | |
von Anti-AKW-Bewegten besetzt, das Hüttendorf errichtet. Die Bewohnerinnen | |
und Bewohner, einige Hundert an den Wochentagen, einige Tausend an den | |
Wochenenden, waren bestens versorgt durch eine geradezu überbordende | |
Solidarität der regionalen Bevölkerung. Die Sonne schien „ohn’ Unterlass�… | |
jedenfalls in der Erinnerung. Kurz, das mit dem Lachen war kein Problem. | |
Und ist es heute, mehr als 40 Jahre danach, auch nicht. Spätestens seit dem | |
vergangenen Montag, als die Bundesgesellschaft für Endlagerung | |
(groteskerweise schon in einem früheren Stadium des Suchverfahrens als | |
erwartet) das Endlagerprojekt Gorleben nach mehr als 40 Jahren schließlich | |
in den Orkus schickte. | |
Zugegeben, hätten wir damals geahnt, wie lang der Weg werden würde vom | |
Rechthaben zum Rechtbekommen, wäre die Gültigkeit des Passes vermutlich bei | |
vielen von uns auf der Stelle ausgelaufen. Vier Jahrzehnte, und was für ein | |
Aufwand! Wir waren ja nicht nur AKW-Gegnerinnen und AKW-Gegner, wir waren, | |
so muss man es sagen, auch Gegnerinnen dieses Staates, Gegnerinnen des | |
kapitalistischen Systems und pflegten (auch optisch) die größtmögliche | |
Distanz zur Mehrheitsgesellschaft – weshalb wir von der Unterstützung der | |
lokalen Bevölkerung umso mehr überwältigt, aber keineswegs verunsichert | |
waren. Die taz übrigens war gerade ein Jahr alt. | |
Dies vorweg, weil es in diesem Text nach dem historischen Erfolg vom | |
Wochenanfang um die Frage gehen soll, ob es Verbindungen, vielleicht sogar | |
Gemeinsamkeiten gibt zur erfolgreichsten Protestbewegung der Gegenwart, | |
Fridays For Future. Und wenn ja, welche? | |
## Gorleben war plötzlich überall | |
Die handelnden Personen im Hüttendorf damals sahen sich selbst | |
(mehrheitlich) als Revolutionäre, solidarisch eigentlich nicht mit | |
Landwirten im Landkreis Lüchow-Dannenberg, sondern mit Befreiungsbewegungen | |
in Afrika und Südamerika. Der Klimawandel: unbekannt. (Fast) niemand unter | |
den aus den Metropolen angereisten Linken hegte irgendwelche Sympathien für | |
den real existierenden, preußischen Sozialismus jenseits der nahen | |
Grenzanlagen. Ironischerweise war deren Nachbarschaft ein zentrales Motiv, | |
weshalb nicht nur der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht | |
(CDU), sondern die westdeutsche Politik insgesamt es für eine gute Idee | |
hielten, den verlorenen Zipfel BRD an der innerdeutschen Grenze bar jeder | |
wissenschaftlichen Basis als Endlagerstandort für den hochradioaktiven | |
Strahlenmüll ausrufen zu können. Da, so das unbekümmerte Kalkül, würde es | |
schon ruhig bleiben. | |
Ein fundamentaler Irrtum. Denn [1][Gorleben war binnen Kurzem wirklich | |
überall], wurde nach Wyhl in Baden-Württemberg zum wichtigsten | |
Kristallisationspunkt einer westdeutschen Bewegung, die im Wendland, wie | |
nirgends sonst, ihre Gründergeneration weit überdauerte. Zuletzt | |
protestierten die Enkel gegen ein Projekt, gegen das ihre Großeltern | |
aufgestanden waren – gemeinsam mit den Staatsfeinden aus den Städten. | |
Gibt es Gemeinsamkeiten mit Fridays for Future? Mit einer Jugendbewegung, | |
die 40 Jahre später binnen Monaten geradezu spielerisch das schaffte, woran | |
sich die in Deutschland professionell wie fast nirgends sonst agierende | |
Umweltbewegung mit ihren eingeübten Empörungsritualen über zwei Jahrzehnte | |
die Zähne ausbiss, ebenso wie Generationen besorgter Klimawissenschaftler? | |
Plötzlich ist da eine Bewegung, so wirkmächtig wie die Anti-AKW-Generation | |
in ihren besten Zeiten. | |
Die Jugendlichen und Kinder, moralisch unangreifbar, weil betroffen, aber | |
nicht verantwortlich, demonstrieren für die Rettung der Welt und ihrer | |
selbst, der ersten von der Klimakrise existenziell bedrohten Generation. | |
Systemwechsel ist der überwiegenden Mehrheit offensichtlich kein | |
vorrangiges Anliegen. Wie auch, in diesen Zeiten ohne reale oder auch nur | |
imaginierte Alternativen? Das postsowjetische Russland, die | |
Populistenriegen von Ungarn bis Großbritannien, die Absolutisten in China | |
oder die beklagenswerte einstige Führungsmacht des freien Westens unter | |
einem Präsidenten außer Rand und Band? | |
Es ist nicht so einfach, den Erfolg von Gorleben nach mehr als 40 Jahren | |
als Motivationshilfe für die engagierte Jugend des Jahres 2020 in Stellung | |
zu bringen. Im Gegenteil, deren Protagonisten wissen sehr genau, dass es | |
ihr Untergang wäre, würde die Klimawende vergleichbar lange dauern wie die | |
Gorlebenwende. | |
Immerhin, in beiden Fällen sind die Katastrophenrisiken, um die es geht, | |
für die Betroffenen von existenzieller Dimension, wobei ihre konkrete | |
Realisierung unterschiedlicher kaum sein könnte: Die Klimaerhitzung | |
eskaliert ohne eine radikale Minderung der Treibhausgase mit | |
naturgesetzlicher Erbarmungslosigkeit. Hier handelt es sich eben nicht um | |
ein Restrisiko mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit. Die Hoffnung auf | |
ein gnädiges Schicksal, dass es gar nicht, später oder woanders passiert, | |
gibt es nicht im globalen Treibhaus. Die Dynamik der Erderhitzung bedeutet, | |
dass die Klimaschutzbewegung keine 40 Jahre Zeit hat, sondern lange vorher | |
gesiegt haben muss. | |
Ein wie auch immer gearteter Systemwechsel, der geeignet wäre, die Sache | |
rechtzeitig zu richten, ist nirgends in Sicht. Die Hoffnung der | |
Jugendlichen richtet sich folglich nicht auf revolutionäre Umwälzungen, | |
sondern auf die Einsicht robuster Mehrheiten, die die Entscheider überall | |
und systemunabhängig treiben – und die gleichzeitig selbst anstreben, | |
Entscheider zu werden. Voraussetzung für den Erfolg ist nicht der lange | |
Marsch durch die Institutionen, sondern ein möglichst kurzer. | |
Selbst im besten denkbaren Fall wird der Umschwung dauern, bleibt die | |
Generation Greta angewiesen auf die europäische und mehr noch eine globale | |
Dynamik Gleichgesinnter. Denn eines verbindet radioaktive Isotope und | |
Treibhausgase: Die Bedrohung, die sie auslösen, geht nicht mehr weg. | |
Auch weil die Jugendlichen das offenbar besser verstanden haben als ihre | |
Elterngeneration, gibt es eine Gemeinsamkeit mit den Gorlebenkämpfern von | |
einst: Die Klimakrise wird diese Generation politisch prägen, wie zuletzt | |
der Konflikt um die Atomenergie eine (oder zwei) politische Generationen in | |
Deutschland geprägt hat. | |
## Protestbewegungen müssen sich ausdifferenzieren | |
Der späte [2][Erfolg der Anti-AKW-Bewegung] hat aber auch noch etwas | |
anderes gezeigt: Eine Protestbewegung ist (erst) dann erfolgreich, wenn sie | |
sich in ihren Protestformen nicht normieren lässt, wenn sie sich | |
ausdifferenziert. Sie funktioniert nicht, wenn sie die Politik nur von der | |
Straße aus zu treiben versucht und gleichzeitig politische Macht verachtet. | |
Sie funktioniert ebenso wenig, wenn sie die Macht der Straße geringschätzt, | |
besonders wenn die Zeit drängt. | |
Die freien Wenden im Hüttendorf von Gorleben, verkündete Niedersachsens | |
damaliger Innenminister Egbert Möcklinghoff (CDU), verstießen gegen das | |
Baugesetz, das Waldgesetz, das Seuchengesetz und das Meldegesetz. Eine | |
wirklich beeindruckende Liste schwerer Vergehen. Mit ihr wurde die Räumung | |
durch 7.000 Polizisten und Bundesgrenzschützer am 4. Juni 1980 begründet. | |
Wäre [3][Greta Thunberg] freitags zur Schule gegangen und samstags für | |
Klimaschutz auf die Straße, sie wäre gleichwohl eine bewundernswerte und | |
wohl auch bewunderte junge Frau geworden – an ihrer Schule in Stockholm. | |
Das wussten die freien Wenden am Bohrloch 1004 im Mai 1980 auch schon: | |
Politischer Druck geht nicht ohne Regelverletzung. | |
2 Oct 2020 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Gerd Rosenkranz | |
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zumute. |