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# taz.de -- 40 Jahre Bremer Schlachthof: Der Star ist die Halle
> Unser Autor hat als Mitarbeiter im Bremer Kulturzentrum Schlachthof viel
> über das Verhältnis von Gegenkultur und Subkultur gelernt. Ein Rückblick.
Bild: Publikumsnähe in der Kesselhalle: die Hamburger Band Tocotronic im Jahr …
Bremen taz | Auf der ewig zugigen Bürgerweide, vom Bremer Bahnhof westwärts
strampelnd oder stiefelnd, ist jedes Mal wieder dieses Kribbeln im Bauch.
Auch über zwanzig Jahre, nachdem ich den Weg nicht mehr täglich mache,
sondern nur hin und wieder. Mit Blick auf die magische Silhouette. Turm und
Schornstein erinnern mich an Kopf und Schwert vom Roland. Der steht in
Bremen für die vor 600 Jahren erkämpften Marktrechte und Freiheit vom
Reich.
Da, wo der Roland sein Schild trägt, hängt vom Schlachthof-Turm seit paar
Wochen ein riesiges Transparent. „Keine Panik“ steht drauf. Was sich wie
ein Aufruf zur Hysterie-Vermeidung in Coronazeiten liest, ist das Motto
eines Festivals, das der Schlachthof schon lange vor Ausbruch der Pandemie
geplant hatte und dessen doppelbödiger Untertitel „Wir wachsen weiter“
lautet. Die große Party zum 40. Jubiläum musste aufs kommende Jahr
verschoben werden, Diskussionsrunden, Kunstprojek te und Kurzfilme zu
„Krise, Nachhaltigkeit und gutem Leben“ konnten stattfinden.
Im Büro herrscht trotzdem der Blues. Den Grund verrät ein Blick ins
Booking-Buch: Es ist bis zur letzten Zeile mit Veranstaltungen gefüllt, die
gecancelt wurden – zuletzt das Stoppok-Konzert für kommende Woche. Siebzig
Besucher*inne dürfen wieder in die Kesselhalle – keine Zahl, mit der sich
vernünftig wirtschaften lässt. Wenn man in dem Buch weiterblättert, sieht
man, dass gefühlt alle Bands, Orchester, Theatergruppen,
Kongressveranstalter der Welt hoffen, spätestens im Frühjahr wieder
loslegen zu können. Aber wer weiß schon, unter welchen Umständen. Die
Unsicherheit drückt mehr als die Kurzarbeit.
Auch das Projekt, das mich beruflich noch mit dem Schlachthof verbindet,
ist schon zweimal verschoben worden und besetzt nun zwei Tage in dem dicht
gedrängten Termin-Buch. „Drei Tage im März“ heißt das dokumentarische
Musiktheaterstück, das die Deportation von 300 Sinti und Roma aus
Nordwest-Deutschland von eben diesem Ort im Jahr 1943 ins Vernichtungslager
Auschwitz-Birkenau thematisiert. Die Uraufführung war im letzten Jahr, im
kommenden März wollen wir – die Schauspieler*innen, Musiker*innen und ich
als Autor – es noch mal auf die Bühne bringen. Eigentlich.
Bis 1995 wusste niemand von uns damaligen Schlachthof-Mitarbeiter*innen von
der historischen Bedeutung dieses Ortes für die Verfolgungsgeschichte der
Sinti und Roma. Dann kam der Bremer Sinti-Verein mit dem Wunsch auf uns zu,
eine Gedenktafel anzubringen. Schnell war klar, dass wir diese neue
Verbindung ausbauen wollen, und planten eine gemeinsame
Veranstaltungsreihe. Das abschließende Konzert mit Sinti-Swing war gerade
beendet, als einige Roma-Musiker im Publikum, die vor dem Krieg im
ehemaligen Jugoslawien nach Bremen geflohen waren, darum baten, ebenfalls
auftreten zu dürfen. Die Bühnentechniker wollten schon abbauen, aber da war
der damals schon über 70-jährige Vorsitzende des Sinti-Vereins, Ewald
Hanstein, bereits nach Bremen-Nord unterwegs, um ein Keyboard zu holen. Um
kurz vor zwölf war er zurück, kein*e Zuschauer*in war gegangen.
„Keine Panik“ – auch dieses Transparent über der Arena hätte die
Angehörigen der Sinti-Community vor genau fünf Jahren nicht dazu bewogen,
hierher zum Open-Air-Konzert des gemeinsam geplanten dritten
Gypsy-Festivals zu kommen. In Hamburg war eine Nazi-Demo aufgelöst worden
und es gab Gerüchte, dass sich die versprengten Teilnehmer*innen nach
Bremen zum Hauptbahnhof in Bewegung gesetzt hätten. Dass so eine Nachricht
bei den Nachfahren der Überlebenden des Nazi-Terrors auch heute noch eine
Angst auslöst, die sie dazu bewegt, lieber in der Sicherheit ihrer
Wohnungen und Familien zu bleiben, war eine der traurigsten Erfahrungen,
die ich an diesem Ort gemacht habe.
Ein anderer bitterer Moment, der bei mir selbst zu Panik führte, brachte
mir im Nachhinein den größten Lerneffekt über das vertrackte Verhältnis von
Gegen- und Subkulturen. Im Herbst 1992 organisierten wir zusammen mit
anderen norddeutschen Kulturzentren eine Tournee des Londoner
Hip-Hop-Projekts „Raw Material“. Die jugendlichen Rapper aus der Black
Community suchten hier den Kontakt zu ähnlichen Projekten. Auch in Bremen
waren seit Ende der Achtziger in einigen Stadtteilen Hip-Hop-Szenen
entstanden, die kreativ mit ihren Marginalisierungserfahrungen umgingen.
Dann gingen die Bilder der Menschenjagd in Rostock-Lichtenhagen um die
Welt, und die Londoner Jugendlichen erklärten uns, warum sie in dieser
Situation nicht nach Deutschland kommen wollten. Klar, hatten wir dafür
Verständnis, doch einige der Jugendlichen, die den Besuch mit uns
vorbereitet hatten, reagierten trotzig: Dann machen wir das eben allein. In
Verbindung mit Rapper*innen, Sprayer*innen und Nachwuchsveranstalter*innen
der sogenannten „New School“ – politisierte Jugendliche, die den Hip-Hop
als Protestform entdeckten – entstand ein Veranstaltungskonzept, das das
Herz des Soziokultur-Arbeiters höher schlagen ließ: Neben einem Konzert,
Graffity- und Breakdance-Aktionen auch noch eine kleiner Kongress. Diese
Jugendlichen wollten nicht nur musikalisch protestieren, sie wollten auch
noch diskutieren.
Als mich einer der Türsteher nachmittags warnte, dass die geplante
Ordnerbesetzung nicht reicht, wollte ich davon nichts wissen: Was sollte
schon passieren, die hatten doch sogar einen Kongress veranstaltet. Ich
hätte den Warner ernster nehmen sollen, auch die Tatsache, dass auf dem
Kongress die Gruppe der „New School-Rapper“ aus dem Viertel weitgehend
unter sich geblieben war. Die jungen Leute aus den abgelegenen Stadtteilen
ließen sich erst beim Konzert sehen. Eine kleine Gruppe bedrohte in der
Halle und draußen andere Besucher*innen, ein Sprayer wurde
zusammengeschlagen. Bis spätabends drohte die Eskalation und wir
telefonierten kurzfristig zusätzliche zwei kampfsporterprobte Ordner
herbei.
Erst als sich die Wogen geglättet hatten, dämmerte mir, was schiefgelaufen
war. Hip-Hop in seiner an amerikanischen, an Getto-Erfahrungen angelehnten
Form war eben eine Stadtteilkultur, in der Jugendliche sich verteidigten,
abgrenzten, rivalisierten, ihr Terrain absteckten. Hier, auf dem
Präsentierteller Bürgerweide, in einem kulturellen Zentrum, wurde er
erstmals zur Stadtkultur, in der die Claims völlig neu abgesteckt werden
mussten, in dem die rivalisierenden Gruppen sich ohne schützende
Gemeindegrenzen gegenüberstanden. Da wurden alte Rechnungen beglichen, da
gab es den Zwang, sich zu profilieren. Mit der Erfahrung würde man heute
wohl die Zentren und Treffs in den Stadtteilen in solche Projekte
einbinden.
Wer am Schlachthof eine Bühne besteigt, will von der ganzen Stadt gesehen
werden. Für die Punks aus der Anfangszeit war das immer klar. Sie wollten
nie ins Getto, sondern immer ins Zentrum, auf den Marktplatz. Mit diesem
großspurigen Ansatz waren sie hier genau richtig und wurden zu einem
wichtigen Teil der Gründergeneration – in einem, im Nachhinein betrachtet
gar nicht so merkwürdigem Bündnis mit Teilen der alten Arbeiterbewegung.
Die wollte in den euphorischen Achtzigern ja auch noch die Verhältnisse
umkrempeln.
Als 1977 der Bremer Schlachthof seinen Betrieb nach Oslebshausen verlegte,
entstand zunächst ein stadtweites Bündnis von Gruppen, das weit über die
linke Szene hinausging und das Gelände als Gesamtensemble als Bürgerzentrum
erhalten wollte. Der Bremer Senat plante allerdings schon damals, auf der
Bürgerweide ein Kongress- und Veranstaltungszentrum zu errichten. Nach
zähen Verhandlungen verabschiedete er eine Lösung, die nur den Erhalt der
großen Fleischmarkthalle und des Turmkomplexes vorsah. Der Abriss des
Restes erfolgte im August 1978.
Vor allem Kulturgruppen blieben am Ball und vertrauten auf die Zusage des
Senats, den verbliebenen Rest zu sanieren und bespielbar zu machen. Eine
spektakuläre Kostprobe der Möglichkeiten zeigte das Bremer Theater mit
einer Inszenierung von „Richard III.“ von Hans Henny Jahn. Als Höhepunkt
der spektakulären Inszenierung, die sogar in der Zeit besprochen wurde,
ließ Regisseur Frank-Patrick Steckel lebende Pferde durch die ehemalige
Schlachthalle galoppieren.
Der Senat hielt sich allerdings – angeblich aus Kostengründen – nicht an
die Zusage und ließ in den Semesterferien 1980 auch noch die
Fleischmarkthalle abreißen. Große Teile der Besetzer*innen der
Fleischmarkthalle verließen enttäuscht die Bürgerweide Richtung Viertel, wo
fast zeitgleich das Kulturzentrum Lagerhaus gegründet wurde. Im
verbliebenen Restgebäude nahm der „Verein Kulturzentrum Schlachthof“ die
Arbeit auf. Die Folgen dieser Spaltung waren noch Jahre später in Bremens
Kulturszene atmosphärisch spürbar.
Ich kam dazu, als Mitte der Achtzigerjahre Künstler und Architekten den
Schlachthof entdeckten, um gestalterisch gegen die Ödnis auf der
Bürgerweide vorzugehen. Der „pflegliche Umgang mit einer Ruine“ wurde zum
frühen Gegenentwurf einer spekulativen Baupolitik, die im Schnellverfahren
gutachtengestützte Hallen hochzieht und dann lange auf Veranstalter und
Besucher wartet. Im Schlachthof waren die Leute immer schon da und mussten
lange auf die Fertigstellung der Räumlichkeiten warten.
Für die Spekulanten ist Kultur im Wesentlichen ein Standortfaktor, der
Betten und Ladenkassen voll machen soll. Der Gegenentwurf sagt: Der
Standort ist ein Kulturfaktor. Wer kulturell überzeugen will, muss sich mit
seinem Standort auseinandersetzen, ihm die Themen und Formen abgewinnen.
Im Zuge des langsamen Ausbaus, der wie das Kulturprogramm bis weit in die
1990iger-Jahre fast ausschließlich mit ABM- und Projektmitteln
bewerkstelligt wurde, entstanden offene Kulturwerkstätten in den Bereichen
Video, Zeitung, Theater, Musik und Gestaltung, die diese Themen bis heute
aufspüren und bearbeiten. Und auch über das Schlachthofgelände hinaus
Spuren im Stadtbild hinterlassen haben: Die ersten Pläne für den
Ostkurvensaal im Weserstadion entstanden hier mit Fußballfans, die
Skateboard-Anlage auf dem Vorplatz ist jeden Tag neu Ausdruck sich selbst
organisierender Jugendkultur.
Ich verließ den Schlachthof Mitte der 1990er-Jahre genau zu dem Zeitpunkt,
als der erste Haushaltstitel erstritten war (der vom rot-grün-roten Senat
gerade erhöht wurde) und die ersten festen Stellen geschaffen werden
konnten. Nachdem die Auseinandersetzungen um die nötigen Mittel bislang mit
dem Senat geführt wurden, war der Konflikt jetzt nach innen verlagert. Ich
weiß die genauen Zahlen nicht mehr, aber wir waren gezwungen, aus etwa
zwanzig ABM-Stellen etwa acht feste zu machen. Als lupenreine
Baisdemokrat*innen hatten wir keine eingespielten Strukturen, um über
inhaltliche Schwerpunktsetzungen zu entscheiden – zwischen
Veranstaltungsplanung, Video, Zeitung, Theater, Gestaltung,
Stadtteilarbeit, Kinderprogramm, Ausstellungen, Mädchenbands, Haustechnik,
Bühnentechnik, Buchhaltung, Finanzen, Öffentlichkeitsarbeit, Empfang und
anderes.
## Flucht ins Freie
Es ging dabei für jeden auch um den eigen Job. Mir fehlten für diese
Selbstkannibalisierung zu der Zeit Nerven und Konfliktfähigkeit, ich trat
die Flucht ins Freie an. Mein Lebensthema „Erinnerungskultur“ habe ich
mitgenommen – und bin als freier Autor und Kulturmacher weiter auf die
Offenheit und professionelle Unterstützung der soziokulturellen Häuser
angewiesen, heißen sie nun Kulturpunkt Barmbek, Bürgerhaus Wilhelmsburg,
Nunatak, Brodelpott, Theater im Volkshaus, Lagerhaus oder Schlachthof.
Allein in Bremen sind dreißig dieser Häuser im Verein Stadtkultur e. V.
zusammengeschlossen.
Inhaltlich geht es meist nicht mehr um Gegenentwürfe, sondern um den
Zusammenhalt der Gesellschaft. Zusammenrücken statt Verbreitung ist
angesagt. Mit Rassismus und rechten Angriffen hatten alternative
Kulturzentren auch früher zu tun, mit sozialer Spaltung und Gentrifizierung
auch. Die Dynamik, in der sich diese Entwicklungen mit neuen, gefährlichen
Bewegungen verbinden, ist neu – und stellt auch Fragen an die eigene Arbeit
der letzten Jahrzehnte. „Das vermittelnde Konzept von Soziokultur ist
inzwischen selbstverständlich, eine Kunst nur für die Elite als Erinnerung
verblasst“, schreibt die Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren in
einem Text. Und was, wenn die Soziokultur heute mancherorts selbst als Teil
der Elite wahrgenommen wird, der sie den Kulturbegriff einmal entreißen
wollte?
## Der bunte Haufen von Autodidakten tritt ab
In dieser Grundstimmung tritt die Generation der Verstetiger*innen langsam
ab. Nachrücken wird kein bunter Haufen aus Autodidakt*innen mit krummen
Lebenswegen. Dieser hat in den letzten Jahren selbst
Veranstaltungskaufleute, Bühnentechniker*innen und Medienpädagog*innen
ausgebildet, die in den Startlöchern stehen. Der Begriff der Soziokultur
klingt für sie möglicherweise wie Telefon, Fernsehen und Udo Lindenberg.
Das kann nützlich dabei sein, nicht gleich in den Blues der Alten
einzustimmen, sondern neue Fragen zu stellen und Verbindungen herzustellen.
Zu dem, was in der Stadt und vor der eigenen Nase passiert. So wie es das
„Keine Panik“-Festival am Schlachthof gerade wieder getan hat. So wichtig
sie ist – in der öffentlichen Wahrnehmung hat es diese themenbezogene
Kultur-Arbeit immer schwer, sich gegen die Strahlkraft der Event-Kultur
durchzusetzen.
Auch auf der Bürgerweide ist die Halle der Star. Die Kesselhalle natürlich,
deren Tribünen einst von Berufsschüler*innen zusammengeschweißt wurden, und
deren Konzerte – egal ob von Fugazi oder dem Ensemble Modern – mich für
alle anderen Konzertorte versaut haben. Es war allerdings nicht Campino von
den Toten Hosen, sondern – ich kann nichts dafür – Hartmut Engler, der
Sänger der Gruppe Pur, der hier vor dreißig Jahren die Bühne betrat, vor
einer Zuschauerrinnen*innenzahl, die das Corona-bedingte Hygienekonzept
locker zugelassen hätte, sich erstaunt umsah und aus tiefstem Herzen
seufzte: „Was für ein schöner Saal!“ Daran hat sich nichts geändert.
14 Sep 2020
## AUTOREN
Ralf Lorenzen
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