# taz.de -- Anstieg der Corona-Infektionen: Wann ist Corona-Notstand? | |
> Die Neuinfektionen in Deutschland steigen weiter an, das Virus breitet | |
> sich in der Fläche aus. ExpertInnen sind besorgt: Wie lang kann das gut | |
> gehen? | |
Bild: Ein Mitarbeiter vom Bayerischen Roten Kreuz beim Einsatz an der A 8 | |
BERLIN dpa | Lange schien die Ausbreitung des Coronavirus in Deutschland | |
unter Kontrolle: Schulen werden wieder geöffnet, selbst [1][Urlaub im | |
Ausland ist wieder möglich]. Von Hotspots ist im August kaum noch die Rede. | |
Doch ein anderer Trend bereitet Wissenschaftlern Sorge: [2][Langsam breitet | |
sich das Virus in der Fläche aus] – und die Zahl der Neuinfektionen steigt. | |
Doch wie viele solche Fälle hält das Gesundheitssystem auf Dauer aus? | |
Die Zahl der Kreise, die in den vergangenen sieben Tagen keine neuen | |
Coronafälle meldeten, lag Mitte Juli noch bei 125. Etwa einen Monat später | |
sind es nach RKI-Angaben nur noch rund 20 Kreise. „Dadurch dass sich die | |
Menschen in den letzten Wochen viel mehr bewegen und in den Urlaub reisen, | |
kommt es zu einer Streuung des Virus im ganzen Land“, erklärt der Mediziner | |
Max Geraedts, der an der Universität Marburg das Institut für | |
Versorgungsforschung und Klinische Epidemiologie leitet. | |
Viel mehr Gemeinden und Landkreise bekommen das Coronavirus daher nun zu | |
spüren. Geraedts Sorge ist, dass dieser Trend dazu führen könnte, dass dann | |
vielerorts viele Menschen gleichzeitig in Quarantäne müssten. „Doch die | |
bräuchten wir eigentlich an vielen Stellen in unserer Gesellschaft – ob als | |
Lehrerin, Kitamitarbeiterin oder Pflegekraft“, betont der Professor. | |
Längst hat auch die Politik die Lage erkannt. Bundeskanzlerin Angela Merkel | |
(CDU) und die Ministerpräsidenten der Länder wollen am kommenden Donnerstag | |
über das weitere Vorgehen beraten. Im Juni hatten sie sich das letzte Mal | |
über den Kurs in der Coronakrise abgestimmt. Merkel bezeichnete die | |
ansteigenden Fallzahlen zuletzt als besorgniserregend, aber noch | |
beherrschbar. | |
## Zuletzt 1.427 Neuinfektionen binnen eines Tages | |
Die Gesundheitsämter in Deutschland meldeten zuletzt 1.427 Neuinfektionen | |
binnen eines Tages, wie das RKI am Freitag mitteilte. Am Donnerstag meldete | |
das RKI mit 1.707 Fällen den höchsten Wert seit Ende April. Von dem | |
bisherigen Höhepunkt mit mehr als 6.000 täglichen Neuansteckungen zwischen | |
Ende März und Anfang April ist dieser aber noch entfernt. | |
Eines der wichtigsten Mittel, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, ist | |
die Kontaktnachverfolgung. Es sei ein „sehr, sehr mächtiges Instrument“, | |
sagt Viola Priesemann, Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Dynamik | |
und Selbstorganisation in Göttingen – insbesondere dann, wenn die | |
Verfolgung schnell ausgeführt werde. | |
Die Gesundheitsämter nehmen bei der Nachverfolgung eine zentrale Rolle ein. | |
Steigende Infektionszahlen und die Testungen der Reiserückkehrer sorgten | |
zuletzt bereits für ein stärkeres Arbeitsaufkommen in den Ämtern, | |
bestätigte die Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte im | |
öffentlichen Gesundheitsdienst (BVÖGD), Ute Teichert, Anfang August. | |
Noch liege das Pensum nicht auf dem Niveau wie im März oder April. Das | |
Problem sei aber nach wie vor die Personalsituation. Hilfskräfte etwa aus | |
der Verwaltung seien mittlerweile meist an ihre eigentlichen Arbeitsorte | |
zurückgekehrt. „Wenn die Zahlen wieder ansteigen, brauchen die | |
Gesundheitsämter daher wieder mehr Personal, die bei der Verfolgung der | |
Infektionsketten helfen“, sagte Teichert. | |
## Kipppunkt im System | |
Denn eines soll möglichst verhindert werden: dass die Zahl der | |
Neuinfektionen die Kapazität der Gesundheitsämter übersteigt. Dies sei ein | |
Kipppunkt im System, sagt Priesemann. „Wenn dieser Kipppunkt eintritt, dann | |
läuft das Wachstum der Fallzahlen noch schneller ab und das Virus lässt | |
sich noch schwieriger wieder einfangen“, erklärt die Forscherin. Denn die | |
Nachverfolgung sei dann nicht mehr so effektiv wie vorher. „Das ist so wie | |
beim Tauziehen, wenn einer plötzlich nicht mehr mitziehen kann.“ | |
So weit ist es aber nach Ansicht der Experten noch nicht. „Diesen Kipppunkt | |
haben wir aber noch nicht erreicht, denn noch befinden wir uns nicht in der | |
Phase eines explosionsartigen Wachstums“, sagt Geraedts. Doch lässt sich | |
abschätzen, wie weit es bis dahin ist? | |
„Niemand weiß genau, wo der Kipppunkt liegt, an dem die Situation nicht | |
mehr gut beherrschbar ist. Es gibt nicht die eine Zahl von Neuinfektionen, | |
ab der die Kontakte nicht mehr nachverfolgt werden können“, erklärt | |
Priesemann, die sich mit Strategien zur Eindämmung des Coronavirus | |
beschäftigt. Neben der Kapazität der Gesundheitsämter hänge die weitere | |
Entwicklung auch vom Verhalten der Bevölkerung ab. | |
„Denn mit Technologie wie Kontaktnachverfolgung und Testen können wir die | |
Ausbreitungsdynamik – nach unseren Modellberechnungen – nur ein Stück weit | |
ausgleichen“, sagt Priesemann. Stattdessen könne jeder Einzelne einen | |
Beitrag leisten: „Wenn man Symptome hat, bleibt man zu Hause. Und wenn man | |
dann tatsächlich positiv getestet wurde, kann man eventuell auch selbst die | |
Freunde und Bekannten, mit denen man Kontakt hatte, informieren.“ | |
## Noch keine „bedrohliche Situation“ | |
Auch auf den Intensivstationen haben die steigenden Corona-Fallzahlen noch | |
nicht zu einem signifikanten Anstieg bei der Auslastung geführt. Die | |
Kliniken seien von einer „bedrohlichen Situation“ daher noch weit entfernt, | |
sagt der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für | |
Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Uwe Janssens. | |
Ein Grund sei, dass sich zurzeit vor allem jüngere Menschen mit dem Virus | |
anstecken, die weniger schwer an Covid-19 erkranken. Außerdem vergingen | |
nach einer Infektion in der Regel 13 bis 14 Tage, bis ein Schwerkranker auf | |
einer Intensivstation lande. „Bis wir den Anstieg der aktuellen Coronafälle | |
auf den Intensivstationen zu spüren bekommen, dauert es daher noch etwa ein | |
bis zwei Wochen“, so Janssens. | |
Dem Intensivmediziner bereiten die aktuell steigenden Fallzahlen eher mit | |
Blick auf den Herbst und Winter Sorge. „Wir müssen auch bedenken, es gibt | |
ja nicht nur das Coronavirus. Wir wissen, es kommt der Herbst, der Winter | |
mit der Influenza und dem Norovirus“, erklärt der Chefarzt. | |
Die dann zunehmenden Erkrankungen der oberen und unteren Atemwege werde es | |
schwer machen, diese von Covid-19 zu unterscheiden. „Das wird uns vor | |
zusätzliche Herausforderungen stellen“, ist sich Janssens sicher. Alles, | |
was daher jetzt dazu diene, den Anstieg der Infektionszahlen zu | |
entschleunigen, sei hilfreich für den Herbst. | |
21 Aug 2020 | |
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