# taz.de -- Rassismus und Klassismus: Eng verwandt | |
> Linke denken Klassenverhältnisse nicht genügend mit. Denn | |
> Klassenausbeutung und Rassismus greifen ineinander und sind keine | |
> Gegensätze. | |
Bild: Rassismus ist historisch eng verwandt mit dem Klassismus | |
Die amerikanische Linke konzentriere sich zu sehr auf Rassismus und zu | |
wenig auf Klassenausbeutung. Das behauptete bei einem Treffen der | |
einflussreichen New Yorker Abteilung der Democratic Socialists of America | |
der afroamerikanische Politikwissenschaftler Adolph L. Reed. Damit | |
provozierte er wütenden Widerspruch. Und er feuerte eine wichtige Debatte | |
an, die derzeit in den USA geführt wird und die auch für Deutschland | |
wichtig ist. | |
Alle Positionen innerhalb dieser Debatte nachzuzeichnen wäre zwar | |
interessant, aber langwierig. Darum beschränke ich mich hier auf eine | |
Einsicht, die sich mir beim Nachlesen aufgedrängt hat: Rassismus und | |
Klassenverhältnisse waren schon immer miteinander verwoben. Sie sind | |
„ineinandergreifende Systeme“, wie es die Literaturwissenschaftlerin und | |
antirassistische Aktivistin Bell Hooks formuliert. Wie diese Systeme | |
konkret im Alltag ineinandergreifen, zeigt Hooks teils autobiografisch in | |
ihrem aktuell auf Deutsch erschienenen Buch „Die Bedeutung von Klasse“. | |
[1][Rassismus] ist historisch eng verwandt mit dem [2][Klassismus], also | |
der Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft. Es ist | |
bezeichnend, dass der Begriff „Rasse“ zu Beginn seiner Karriere nicht | |
ethnisch, sondern ständisch definiert wurde. Schon 1438 beschrieb ein | |
spanischer Priester Ritter und Bauern als verschiedene „Rassen“, deren | |
Eigenschaften sich per Geburt vererbten. Ethnisiert und | |
verwissenschaftlicht wurde der Rassismus erst im kolonialen 19. | |
Jahrhundert. Mit ihm wurde die brutale Ausbeutung der Kolonien | |
gerechtfertigt. Engländer, Franzosen und Deutsche begriffen sich unter | |
anderem in Afrika als Teil einer modernen Aristokratie, die „den Wilden“ | |
Zivilisation brächte. | |
Die Verwandtschaft von Rassismus und Klassismus zeigt sich deutlich bei dem | |
[3][rechten Autor Thilo Sarrazin]. In seinem Bestseller „Deutschland | |
schafft sich ab“ beschreibt er „die Unterschicht“ sowie „Türken und Ar… | |
mit fast identischen Begriffen. Beide seien faul und unproduktiv und nur | |
gut im Kinderkriegen und im Sozialbetrug. Auch die Ergebnisse der aktuellen | |
„Mitte-Studie“ belegen, dass die offene Abwertung von Langzeitarbeitslosen | |
genauso weit verbreitet ist wie die von Asylbewerbern. Ein zentrales | |
Argument von Reed ist, dass Armut der Faktor sei, der die Tötung von | |
Schwarzen Menschen durch die amerikanische Polizei hauptsächlich erklärt, | |
und nicht deren Hautfarbe. | |
## Rassismus erzeugt Armut | |
Teilweise hat Reed recht: Die Wahrscheinlichkeit, in einer armen | |
Nachbarschaft von der Polizei getötet zu werden, ist viermal so groß wie in | |
wohlhabenden Nachbarschaften. Gleichzeitig ist Rassismus aber der | |
Hauptgrund dafür, dass so viele Afroamerikaner*innen arm sind. Auch nach | |
Beendigung der Sklaverei wurden Afroamerikaner*innen systematisch | |
ausgebeutet und benachteiligt. Der Süden führte die „Black Codes“ ein, | |
Gesetze, die verfügten, dass die meisten ehemaligen Sklaven sich nicht frei | |
bewegen durften und so für ihre alten „Herren“ weiterschuften mussten. Sie | |
wurden schlechter bezahlt und auf verschiedene Weisen wirtschaftlich | |
ausgebeutet. Später kamen Gesetze dazu, die die „Rassen“trennung | |
formaljuristisch regelten. | |
1964 und 1965 wurden durch den Druck der Bürgerrechtsbewegung die | |
Bürgerrechte endlich auch für schwarze Menschen eingeführt. Aber auch | |
danach wurden in Wirtschaftskrisen zuerst Afroamerikaner entlassen, und sie | |
blieben länger arbeitslos. Der Versuch, sozial aufzusteigen, wurde ihnen | |
außerdem durch eine rassistische Stadtpolitik erheblich erschwert. Heute | |
ist die Arbeitslosenquote von Schwarzen doppelt so hoch wie die von Weißen. | |
Sie wohnen in schlechteren Gegenden, gehen auf die schlechteren Schulen, | |
können ihren Kindern vielfach nicht das gute College bezahlen, ohne dessen | |
Besuch der ökonomische Aufstieg in den USA kaum möglich ist. | |
Rassismus erzeugt Armut. Armut bedeutet Mangel an Ressourcen, die falschen | |
Kontakte und das falsche Wissen. Sie verursacht außerdem Stress, der es | |
den Betroffenen ungleich schwerer macht, ihr Leben auf die Reihe zu | |
bekommen. Heute ist es, neben dem institutionalisierten Rassismus, ganz | |
wesentlich auch der „normale“ neoliberale Kapitalismus, der es auch weißen | |
Menschen aus der Unterschicht und unteren Mittelschicht enorm erschwert, | |
ökonomisch aufzusteigen. | |
## Entscheidend sind faire Löhne und Bildung | |
Auch in Deutschland greifen Klassenausbeutung und Rassismus ineinander. | |
Menschen mit arabischen und türkischen Namen werden auf dem Wohnungs- und | |
Arbeitsmarkt diskriminiert. Dazu kommt aber eben auch | |
Klassenbenachteiligung: Die türkischen Einwanderer der sechziger und | |
siebziger Jahre – die [4][sogenannten Gastarbeiter] – beispielsweise waren | |
großenteils Arbeiter und gering qualifizierte Menschen. Und Arbeiterkinder | |
haben generell unter hohen Hürden und Mangel an Ressourcen für den sozialen | |
Aufstieg zu leiden. | |
Die rassistische Klassenausbeutung ist überall sichtbar. In Deutschland | |
sind 8 Millionen Menschen im Niedriglohnsektor gefangen. Das ist jeder | |
vierte abhängig Beschäftigte. 40 Prozent dieser Jobs werden von Zuwanderern | |
übernommen. Und das, obwohl sie häufig überqualifiziert sind. Innerhalb | |
dieser Gruppe werden wiederum Flüchtlinge und Arbeitsmigranten aus | |
Nicht-EU-Staaten besonders brutal ausgebeutet, wie an den Exzessen in der | |
Fleischindustrie in den vergangenen Monaten deutlich wurde. Hungerlöhne und | |
exzessive Arbeitszeiten, das Fehlen von Ruhetagen, mentaler und sexueller | |
Missbrauch sowie die Beschneidung von Freiheitsrechten sind die Regel. | |
Reeds Behauptung, die Linke konzentriere sich zu sehr auf Rassismus, ist | |
falsch, denn Rassismus ist sehr wirkmächtig. Womit er aber recht hat: Viele | |
Linke denken Klassenverhältnisse nicht genügend mit. Rassismus und | |
Klassenunterdrückung sind in der Tat ineinandergreifende Systeme. | |
Polizeireformen sind wichtig für den Kampf gegen rassistische | |
Diskriminierung. Entscheidend sind aber auch gute Löhne und ein faires | |
Bildungssystem. | |
31 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Houssam Hamade | |
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