# taz.de -- Proteste gegen toxische Strukturen: Spektakuläre Freiheit | |
> Reproduktion, Syndikat-Kneipe, Kohle: In Berlin häufen sich die Proteste. | |
> Ein guter Moment, auch von der antifaschistischen Vergangenheit zu | |
> lernen. | |
Bild: Keine rechtsoffene Demo: Berliner Anarchist*innen im Juli 1927 | |
„Lügenpresse“-Skandierende, Verschwörungsfantast*innen, Yoga-Begeisterte, | |
dazu Reichs- und Regenbogenfahnen. Eine seltsame selbsternannte Avantgarde | |
zog da am vergangenen Wochenende durch Mitte. Als Hauptstadt musste Berlin | |
wieder einmal als Bühne herhalten. Zu den Überzeugten kamen die | |
Skeptiker*innen, die Labilen und Frustrierten hinzu, denen das propagierte | |
„Ende der Pandemie“ nach langen und angespannten Monaten vielleicht ein – | |
wenn auch nur simuliertes – Aufatmen sein konnte. | |
Dass auch [1][Reichsbürger*innen und organisierte Neonazis] mitliefen, darf | |
nicht wirklich überraschen. Konstitutiv setzt sich die NS-Ideologie auch | |
aus „widerständigen“, aus alternativen und esoterischen Elementen zusammen. | |
Wie damals ist auch heute eine Krise der Nährboden für [2][Antisemitismen] | |
der gefährlichsten Art. Und die Gefahr, die eine Covid-19-Infektion für | |
besonders gefährdete Menschen bedeutet, schlicht zu leugnen, kann als | |
Spielart des Sozialdarwinismus gelten. | |
Es mag sich gut anfühlen, über angebliches Wissen zu verfügen, das andere | |
nicht haben, und große Zusammenhänge zu sehen, wo andere sich mit schnöder | |
Detailkritik abmühen. Es mag entlasten, Ethik und politische Diskussion | |
durch „Natur“ zu ersetzen und das „Recht der Stärkeren“. Es mag Spaß | |
machen, plötzlich Herr über eine Welt zu sein, die man nach eigenen Regeln | |
beschreibt. Das jedoch ist nicht freiheitlich, sondern elitär. | |
Von Rosa Luxemburg ist der Ausspruch überliefert: „Laut zu sagen, was ist, | |
bleibt die revolutionärste Tat.“ Wo das Lautsprechen sich freimacht von den | |
Fakten, sind wir verloren. | |
Fakt ist, dass rassistische Übergriffe zunehmen und patriarchale Strukturen | |
sich verfestigen. Was eigentlich „Reproduktionsarbeit“ ist und was | |
„toxische Männlichkeit“ und was diese Phänomene mit Kapitalismus zu tun | |
haben, darüber informiert eine Vortragsreihe des Vereins Phia. Im Zuge | |
dieser Reihe wird bis zum 27. August eine Gruppenausstellung in der | |
[3][Galerie der Zukunft] am Ostkreuz zu sehen sein, die sich künstlerisch | |
mit dem Thema „Körper“ auseinandersetzt, einer der Schnittstellen von | |
Natur, Kultur und Politik also. Die Veranstaltung findet im Freien statt, | |
damit die Abstandsregeln eingehalten werden können (Mittwoch, 5. August, 16 | |
Uhr, Vernissage, 19 Uhr, Vortrag, Laskerstraße 5). | |
## Lange Nacht der Weisestraße | |
Fakt ist, dass am 7. August nach 35 Jahren die Kiezkneipe Syndikat für | |
immer schließen soll. Der Schillerkiez würde damit einen freiheitlichen Ort | |
der nachbarschaftlichen Begegnung und Organisierung verlieren. „Wir laden | |
euch ein, am Abend vor der angekündigten Zwangsräumung, mit uns und vielen | |
solidarischen Nachbar:innen, zusammen die [4][‚Lange Nacht der | |
Weisestraße‘] zu begehen“, heißt es im Aufruf zu einer nächtlichen | |
Kundgebung. Videos, Redebeiträge, Dia-Shows und Musik sollen die Nacht über | |
für Unterhaltung sorgen (Donnerstag, 6. August, ab 20 Uhr, Weisestraße 56). | |
„Das Kohleausstiegsgesetz der Bundesregierung kommt in seinen Zielen nicht | |
einmal an die Empfehlungen der eigens eingesetzten Kohlekommission heran, | |
ganz zu schweigen vom 1,5°C Ziel des Pariser Klimaabkommens“, heißt es in | |
einem Demoaufruf für Sonnabend. Und weiter: „Lasst uns gemeinsam für eine | |
klimagerechte antikapitalistische Welt kämpfen.“ (Samstag, 8. August, 11 | |
Uhr, Rosa-Luxemburg-Platz). | |
## Erinnern an die FAUD | |
Zu den wirklich freiheitlichen, spektakulären Aktionen der Freien Arbeiter | |
Union Deutschlands (FAUD) gehörten der Protest gegen die Auslieferung ihrer | |
verfolgten Genoss*innen an die italienischen Faschisten, der Kampf für ein | |
modernes Asylrecht und das Eintreten des syndikalistischen Frauenbundes für | |
den „Gebärstreik der Arbeiterfrauen“. | |
1931 organisierte die FAUD eine der großen antifaschistischen Kundgebungen, | |
um den Aufstieg der NSDAP zu verhindern. Neukölln gehört zu den | |
Stadtteilen, in denen seit 1893 anarchistische Gruppen bestanden. In der | |
Kaiserzeit tarnten sie sich als Skatvereine, um nicht der staatlichen | |
Repression ausgesetzt zu sein. Bei einer Fahrradtour der [5][Gustav | |
Landauer Initiative] soll an dieses Erbe erinnert werden (Samstag, 8. | |
August, 14 Uhr, Hohenstaufenplatz/„Zickenplatz“). | |
5 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Polizeieinsatz-bei-Demos-in-Berlin/!5699853 | |
[2] /Juedisches-Forum-ueber-Corona-Protest/!5705160 | |
[3] https://zukunft-ostkreuz.de/ | |
[4] https://syndikatbleibt.noblogs.org/post/2020/07/20/lange-nacht-der-weisestr… | |
[5] https://gustav-landauer.org/content/fahrradtour-anarchismus-neukoelln-auf-d… | |
## AUTOREN | |
Stefan Hunglinger | |
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