# taz.de -- Bolsonaro und die Pandemie: Im Fahrwasser von Corona | |
> Brasiliens Präsident ist so populär wie seit seinem Amtsantritt nicht | |
> mehr. Und das, obschon das Land in einer tiefen wirtschaftlichen Krise | |
> steckt. | |
Bild: Jair Bolsonaro trägt die Maske unterm Kinn, damit man ihn lächeln sieht | |
Mit mehr als 110.000 Toten und 3 Millionen Infizierten versinkt Brasilien | |
im Coronachaos. Verantwortlich ist dafür vor allem ein Mann: [1][Präsident | |
Jair Bolsonaro]. Er nennt das Virus eine „kleine Grippe“, verspottet Kranke | |
und wettert gegen Isolationsmaßnahmen, die von den Landesregierungen | |
verhängt wurden. Er mischt sich ohne Maske in Menschenmengen, schüttelt | |
Hände und verspeist sorglos Hotdogs auf der Straße. | |
Mit seinen Verharmlosungsstrategien und Provokationen stellt er in der | |
Krise selbst sein großes Idol Donald Trump noch in den Schatten. Nach jedem | |
neuen Auftritt tönt es: Er ist verrückt geworden! Jetzt ist er endgültig zu | |
weit gegangen! Nun hat er sein eigenes Grab geschaufelt! Bolsonaro gilt als | |
irre, dumm und wahlweise auch mal als schlicht überfordert. Ein | |
ordentliches Maß an politischer Inkompetenz und Größenwahn ist sicherlich | |
nicht zu leugnen, trotzdem führt dieser Diskurs ins Leere. | |
Denn Bolsonaro folgt einem gnadenlosen Kalkül und ist damit gerade in | |
Zeiten der Pandemie erschreckend erfolgreich. Die Strategie des | |
brasilianischen Präsidenten ist allzu offensichtlich. Kaum eine Gelegenheit | |
lässt er aus, um gegen staatliche Maßnahmen, wie Lockdowns, zu wettern, | |
Masken als Eingriff in die persönliche Freiheit zu geißeln und lautstark | |
eine Wiedereröffnung von Geschäften und Fabriken zu fordern. Sein Mantra: | |
Die Wirtschaft darf nicht stillstehen! | |
Dass Bolsonaro plötzlich den Liberalismus für sich entdeckt, mag auf den | |
ersten Blick verwundern. Man hätte erwarten können, dass er, wie andere | |
autoritäre Staatschefs, die Krise nutzen würde, um mit rigiden | |
Isolationsmaßnahmen seine Macht auszuweiten. Was bei der Debatte um den | |
rechten Hardliner jedoch häufig untergeht: Seine Politik unterliegt einem | |
ultraliberalen Wirtschaftsverständnis. | |
Bereits im Wahlkampf genoss Bolsonaro die Rückdeckung von weiten Teilen der | |
Unternehmer*innen, darunter viele deutsche in Brasilien ansässige, und | |
des Finanzkapitals. Auch beim mächtigen Agrobusiness stößt der Ex-Militär | |
auf große Popularität. Mit all diesen Kräften will es sich Bolsonaro in der | |
Pandemie nicht verscherzen. Zwar wurde auf Druck der linken Opposition ein | |
Notfalleinkommen für informell Beschäftigte verabschiedet. | |
## Bolsonaro verfolgt eine ultraliberale Wirtschaftspolitik | |
Doch Bolsonaro und sein [2][Wirtschaftsminister, der erzliberale Paulo | |
Guedes], nutzen die Krise, um die neoliberale Politik voranzutreiben. Neben | |
der Wirtschaft, die keinen Schaden durch Corona nehmen sollte, kämpfte | |
Bolsonaro für die Wiedereröffnung der Kirchen, die er per Dekret als | |
„notwendige Dienstleistungen“ einstufen lassen wollte. Das Dekret wurde | |
letztlich von der Justiz kassiert, doch die Botschaft kam bei der frommen | |
Wählerschaft an. | |
Im größten katholischen Land der Welt genießen insbesondere evangelikale | |
Kirchen regen Zulauf. Meinungsforscher*innen rechnen damit, dass die | |
Bibeltreuen im Jahr 2032 die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Bolsonaro, | |
der von Hause aus katholisch ist, suchte im Wahlkampf die Nähe zu den | |
reaktionären Pfingstkirchen, ließ sich medienwirksam im Jordan taufen, war | |
umjubelter Stargast bei evangelikalen Veranstaltungen und wurde vom | |
Promipastor Silas Malafaia mit seiner dritten Ehefrau vermählt. | |
## Notfalleinkommen lässt Arme umdenken | |
Evangelikale Prediger bezeichneten das Virus als „Werk Satans“. Durch den | |
wachsenden Einfluss der Kirchen sinkt das Vertrauen vieler | |
Brasilianer*innen in die Wissenschaft. Auch Bolsonaro geriert sich | |
seit jeher und besonders in Zeiten der Pandemie als Wissenschaftsskeptiker. | |
So musste [3][ein Gesundheitsminister gehen, weil er den Empfehlungen der | |
WHO folgen wollte und ein zweiter], weil er sich gegen die Verwendung eines | |
umstrittenen Malaria-Medikaments zur Bekämpfung von Covid-19 aussprach. | |
Bolsonaro mahnte sein Volk, die Pandemie „wie ein Mann“ durchzustehen und | |
verspottete Maskenträger*innen als „Schwuchteln“. Selbst als er positiv auf | |
Covid-19 getestet wurde, spielte er die Gefahren des Virus herunter. | |
Brasiliens Präsident treibt eine gefährliche Melange aus Machismus und | |
religiösem Wahn an. Sein Verhalten wider jeder Vernunft beruht auch immer | |
wieder auf Verschwörungsmythen. | |
In Regierungskreisen kursieren Gerüchte darüber, dass der Klimawandel eine | |
„marxistische Erfindung“ sei, und auch, dass das Coronavirus aus | |
kommunistischen Laboren stamme. Dieses Narrativ ist nicht nur ein wirres | |
Hirngespinst, es erfüllt zudem eine klare Funktion: Der Antikommunismus ist | |
zu einem wichtigen Bindeglied für die brasilianische Rechte geworden. | |
Obwohl das größte Land Lateinamerikas kaum von einer kommunistischen | |
Machtübernahme bedroht ist, nutzt die Rechte diesen Diskurs für eine | |
Trennmauer. | |
Das Bolsonaro-Lager teilt die Gesellschaft in [4][Freund*innen] und | |
Feind*innen ein: Wer nicht bedingungslos hinter Bolsonaro steht, gilt | |
automatisch als Kommunist*in. Sogar rechte Politiker*innen, wie der | |
Gouverneur von São Paulo, wurden zur Zielscheibe von Bolsonaros | |
fanatisierter Basis. Ziel der orchestrierten Hetze ist es, Debatten zu | |
ersticken und einen demokratischen Ausgleich zu verhindern. Durch seinen | |
Coronakurs musste Bolsonaro Unterstützung einbüßen. | |
Er ist politisch zunehmend isoliert, viele ehemalige Verbündete haben sich | |
abgewendet und internationale Firmen machen Druck. Und trotzdem: Bolsonaro | |
schafft es, sich mit seinen ständigen Provokationen geschickt in Szene zu | |
setzen. Es gelingt ihm, die Gesellschaft weiter zu spalten und seine | |
Anhänger*innen in Stellung zu bringen. Sie verehren ihren als „Mythos“ | |
gerufenen Präsidenten mit beinah religiösem Eifer. | |
Und durch das Notfalleinkommen unterstützen nun auch immer mehr [5][Arme] | |
den Rechtsaußen-Präsidenten. So erklärt es sich, dass Bolsonaros | |
Umfragewerte während der ganzen Pandemie stabil blieben und zuletzt sogar | |
deutlich angestiegen sind – nicht trotz, sondern wegen der Skandale. Für | |
Staatschefs wie Bolsonaro sind Krisen ein Segen. | |
20 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Brasiliens-Praesident-Bolsonaro-hat-Covid-19/!5698551&s=bolsonaro/ | |
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[3] /Coronakrise-in-Brasilien/!5683829/ | |
[4] /Gegen-Fake-News-bei-Facebook-und-Twitter/!5703823&s=bolsonaro/ | |
[5] /Coronakrise-in-Brasilien/!5686681/ | |
## AUTOREN | |
Niklas Franzen | |
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