# taz.de -- Die Wahrheit: O Schreck! Opa ist weg! | |
> So überaus vergesslich kann nur eine Familie unterwegs in die Ferien | |
> sein. Eine wundersame Urlaubsgeschichte von der Autobahn. | |
Bild: Wie konnte das nur passieren? Im Kofferraum war Opa auch nicht | |
Mirko merkte es als Erster: „Papa, wir haben Opa vergessen!“ | |
Sandro machte einen auf entgeistert: „Wie bitte?!“ | |
Viel lieber hätte er allerdings ganz kurz mal nach hinten gelangt und dem | |
Jungen eine geknallt. Musste der Bengel denn alles vermasseln? Sie waren | |
noch keine 20 Minuten unterwegs, waren gerade erst auf die Autobahn | |
gefahren. Obendrein begann nun auch noch Jennifer zu quengeln: „Opa... wo | |
ist Opa?“ | |
Sandro gab sich unbeirrt scheinheilig: „Was weiß denn ich? Ich dachte, er | |
sitzt bei euch hinten.“ | |
Nur Mandy roch den Braten. Sie fauchte ihn vom Beifahrersitz aus an: „Tu | |
nicht so. Du hast ihn mit Absicht zu Hause vergessen.“ | |
Ja, verdammt, seine Frau hatte recht – jedenfalls zum Teil. Mit Absicht? | |
Ja. Aber zu Hause? Gut, sie konnte ja nicht ahnen, dass er seinen Vater | |
heute früh, als alle noch schliefen, auf den Aldi-Parkplatz gebracht hatte. | |
Mit einem Zahlenschloss hatte er den zeternden Alten samt Rollstuhl an den | |
Unterstand für die Einkaufswagen gekettet. Vor Montagmorgen würde ihn dort | |
niemand finden. Aber er hatte gehofft, dass Mandy und die Kinder erst | |
hinter der Grenze was merkten. Und darauf spekuliert, dass sie dann keine | |
Böcke mehr hätten, die ganze Strecke zurückzujuckeln. Nur wegen Opa. | |
## Toter Mann spielen | |
„Halt an, Papa, wir müssen umdrehen“, rief Mirko. „Opa muss mit in die | |
Ferien! Er kann so gut Toter Mann.“ | |
„Opa, Opa“, greinte Jennifer. | |
„Was bist du für ein herzloses Schwein“, zischte Mandy. | |
Verflucht! Mandy hatte gut reden. Sie kümmerte sich nie um irgendwas – und | |
das nicht erst seit Corona. Schon vorher war es ausschließlich an ihm | |
gewesen, seinen Vater dreimal täglich zu füttern und ihn regelmäßig | |
spazieren zu fahren. Ihn jeden Morgen aus dem Bett zu heben und ihm auf das | |
Klo zu helfen. Ihm abends die Familienanzeigen und Sportergebnisse | |
vorzulesen. Und sich dazu noch seine Vorhaltungen wegen Mutter anzuhören. | |
O, wie hatte Sandro sich gewünscht, das alles nicht mehr an der Backe zu | |
haben. Es wäre zu schön gewesen. | |
Aber noch gab er sich nicht geschlagen, versuchte Zeit zu gewinnen: „Hört | |
mal, Kinder! Ich kann mich zwar nicht erinnern. Aber vielleicht habe ich | |
Opa in den Kofferraum gepackt“, sagte er. „Ich fahre am nächsten Rastplatz | |
raus, dann schauen wir mal nach, okay?“ | |
Sandro überlegte fieberhaft. Was sollte er tun, wenn ihn nun Mandy und die | |
Kinder zur Umkehr zwängen? Was, wenn sie dann seinen Vater zu Hause gar | |
nicht anträfen? Andererseits war genau das seine Chance. Er würde völlig | |
überrascht tun: Nanu, wo mag Opa sein? Und dann mutmaßen, dass sein Vater | |
alleine in den Urlaub gefahren sei. Annehmen, dass er gar nicht mit ihnen | |
habe verreisen wollen, er mal Abstand von der Familie brauche – auch wegen | |
dieser Sache neulich, als Mirko die Fernbedienung verbaselt hatte und sein | |
Vater zwei Tage lang kein Fernsehen mehr gucken konnte. | |
Letztlich bist du schuld, Mirko, dass Opa keinen Bock mehr auf uns hat, so | |
würde er es dem Bengel vorhalten. Das könnte funktionieren, dachte Sandro | |
– und glaubte doch selbst nicht dran. Ein 88 Jahre alter, beinamputierter | |
Diabetiker, der zudem halb blind und fast taub war und im Rollstuhl saß, | |
ging plötzlich ganz allein auf Reisen – und das auch noch mitten in der | |
Coronazeit? Das würde selbst Mandy etwas spanisch vorkommen. | |
## Alte Frau mit Rollator | |
Doch es fügte sich alles zu Sandros Gunsten. Als er, wie versprochen, den | |
nächsten Rastplatz anfuhr, hätte er die alte Frau fast übersehen. Sie stand | |
da an ihren Rollator geklammert auf dem Seitenstreifen der | |
Rastplatzauffahrt, und nur durch eine Vollbremsung konnte er einen | |
Zusammenstoß verhindern. Während sich Sandro die Lackschäden ausmalte, die | |
der Aufprall an seinem GX3 hätte verursachen können, waren Mandy und die | |
Kinder aus dem Wagen gestürmt. | |
„O, ist die süß“, rief Mirko, nachdem er ihr erstaunlich behutsam den | |
fleckigen Mund-Nase-Schutz heruntergeschoben hatte. | |
„Und sie hat noch Beine“, rief Jennifer. | |
Sie durchwühlten, wie sie’s bei Oma immer gedurft hatten, die Handtasche | |
der alten Frau. Und fanden prompt was zu schlickern: ein paar Werther’s | |
Echte. Jetzt gab es kein Halten mehr. | |
„Bitte, bitte, Papa. Dürfen wir die Oma mit in die Ferien nehmen?“ | |
Nach ihrem Opa im Kofferraum gucken wollten die Kinder jedenfalls nicht | |
mehr. Auch Mandy war von der alten Dame ganz angetan. Sie löste die | |
Hundeleine, mit der sie an die Leitplanke angebunden war, und geleitete sie | |
zum Wagen. | |
„Was denkst du?“, fragte sie Sandro und machte ihren berühmten Schmollmund, | |
mit dem sie normalerweise mit allem durchkam bei ihm. Doch Sandro wand | |
sich: „Ich weiß nicht. Müffelt sie nicht ’n bisschen?“ | |
„Sie müffelt? Iiih, woher denn?“ | |
„Na, kölnisch Wasser ist das jedenfalls nicht“, sagte Sandro und verzog das | |
Gesicht. Doch dann: „Na gut. Aber nur, wenn ihr euch um sie kümmert.“ | |
Die Kinder jubelten. Und Mandy gab Sandro einen Kuss. | |
„Wir können sie ja auf der Rückreise wieder irgendwo rauslassen“, raunte | |
sie später Sandro zu. „Zwei Pflegefälle im Haus sind mir dann doch einer zu | |
viel.“ Sandro nickte stumm. Als ob Mandy in Sachen Altenpflege etwas zu | |
viel werden könnte. Aber trotzdem. Er würde ihr das mit Vater irgendwann | |
beichten müssen. | |
7 Aug 2020 | |
## AUTOREN | |
Fritz Tietz | |
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