# taz.de -- Terrorprozess in München: Knast für türkische Kommunisten | |
> Paragraf 129b macht’s möglich: Das Oberlandesgericht München verurteilt | |
> zehn Mitglieder einer Terrorgruppe, die in Deutschland gar nicht verboten | |
> ist. | |
Bild: Demonstranten solidarisieren sich mit den Angeklagten vor dem Oberlandesg… | |
MÜNCHEN taz | Es war das, wofür man gern die frühzeitliche Fauna als | |
Metapher bemüht: Mit rund 270 Verhandlungstagen, Hunderten von Anträgen und | |
allein Übersetzungskosten in Millionenhöhe darf das Verfahren gegen Müslüm | |
Elma und neun weitere getrost als Mammut-Prozess bezeichnet werden. Ein | |
Aufwand, der etwas verwundert für ein Verfahren, bei dem die Angeklagten | |
die geforderten Höchststrafen schon in der Untersuchungshaft größtenteils | |
abgesessen hatten und in dem Kritiker eine reine Gefälligkeit für den | |
türkischen Staatspräsidenten [1][Recep Tayyip Erdoğan] sehen. | |
Am Dienstag endete nun nach vier Jahren dieser Prozess gegen eine Gruppe | |
türkischer Kommunisten: Das Oberlandesgericht München verurteilte die | |
Angeklagten zu mehrjährigen Haftstrafen, deren Höhe nur knapp unter dem | |
Antrag der Bundesanwaltschaft blieb. Müslüm Elma, der Hauptangeklagte, | |
bekam wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung im | |
Ausland sechseinhalb Jahre Haft, die übrigen wegen Mitgliedschaft in einer | |
terroristischen Vereinigung im Ausland Haftstrafen zwischen zwei Jahren | |
neun Monaten und fünf Jahren. | |
Der Vorwurf: Die neun Männer und eine Frau sollen für die 1972 gegründete | |
Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) | |
Veranstaltungen organisiert, Mitglieder geworben und Geld gesammelt haben. | |
Damit hätten sie sich, so die Bundesanwaltschaft, „an einer Vereinigung im | |
Ausland beteiligt, deren Zwecke und deren Tätigkeiten darauf gerichtet | |
sind, Mord oder Totschlag zu begehen“. So hätten die der Partei | |
angegliederte Kampforganisation TIKKO und die Jugendorganisation TMLGB | |
mehrere Anschläge verübt, bei denen auch Menschen getötet oder verletzt | |
worden seien. | |
In der Liste der von der Bundesanwaltschaft aufgeführten Anschläge, die auf | |
das Konto der Kommunisten gehen sollen, findet sich auch der aus dem Jahr | |
2006 auf einen Bürgermeister im ostanatolischen Erzincan. Dort brachten | |
TIKKO-Mitglieder demnach in einer Garage einen Sprengsatz zur Detonation. | |
Der Bürgermeister entkam dem Anschlag zwar, stattdessen wurden jedoch vier | |
Kinder getötet, die in der Garage gespielt hatten. | |
Bilderbuchkommunisten distanzieren sich nicht von Gewalt | |
Zu dieser Zeit soll Müslüm Elma bereits die Auslandsorganisation der Partei | |
geleitet haben, die jährlich fast eine halbe Million Euro aufgebracht und | |
so ihre Existenz mit gesichert haben soll – einer Partei, die nach der | |
Überzeugung des Gerichts darauf ausgerichtet ist, das politische System in | |
der Türkei mittels bewaffneten Kampfes zu stürzen, um eine „Diktatur des | |
Proletariats“ zu errichten. Elma ist heute 60 Jahre alt, 22 von diesen saß | |
er bereits in der Türkei im Gefängnis, fünf weitere nun in deutscher | |
Untersuchungshaft. In der Türkei soll er in den Achtzigern und Neunzigern | |
auch [2][mehrfach gefoltert] worden sein. | |
Keine Frage: Elma und seine Mitstreiter sind Bilderbuchkommunisten, die | |
sich auch nicht von Gewalt distanzieren. In ihren ausführlichen | |
Schlussworten bezeichneten sie sich zum Teil als „internationalistische | |
Revolutionäre“ in einem gerechten und legitimen Freiheitskampf. Dabei | |
untermauerten sie ihre Thesen immer wieder mit Zitaten aus kommunistischen | |
Schriften. „Die wirklichen Terroristen sind diejenigen“, sagte Elma, „die | |
Rüstungsunternehmen leiten, und die ausbeuterische Bourgeoisie, die die | |
großen Monopole und Banken kontrolliert.“ | |
Kritiker des Verfahrens machen der deutschen Justiz den Vorwurf, sich zur | |
Handlangerin von Staatspräsident Erdoğan gemacht und sich den wiederholten | |
Forderungen der Türkei gebeugt zu haben, gegen Oppositionelle im | |
europäischen Exil vorzugehen. So sei die TKP/ML zwar in der Türkei | |
verboten, nicht aber in Deutschland oder anderswo. | |
Zudem stammten die Beweise, dass es eine terroristische Vereinigung gebe, | |
aus Akten der türkischen Polizei, kritisierte Alexander Hoffmann, einer der | |
Verteidiger. „Und wir wissen, dass die türkische Polizei Aktenfälschung | |
ohne Ende betreibt.“ Überhaupt habe sich das Gericht komplett auf Angaben | |
der türkischen Justiz verlassen und keine Zeugen aus der Türkei gehört. | |
Möglich gemacht hat das Verfahren überhaupt erst die Anwendung des | |
Paragrafen 129b des Strafgesetzbuchs. Dieser war nach den Terroranschlägen | |
vom 11. September 2001 ergänzt worden. Seither ist es möglich, auch die | |
Unterstützung einer ausländischen Terrorgruppe in Deutschland zu verfolgen. | |
Agiert die Gruppe außerhalb der EU, benötigt die Bundesanwaltschaft zudem | |
eine besondere Ermächtigung des Justizministeriums. Die wurde erteilt. | |
28 Jul 2020 | |
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## AUTOREN | |
Dominik Baur | |
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