# taz.de -- US-Basketballerin kämpft gegen Rassismus: Gerechtigkeit statt Karr… | |
> Gesten gegen Diskriminierung sind der US-Ausnahmespielerin Maya Moore zu | |
> wenig. Die Basketballerin pausiert und hilft einem Rassismusopfer vor | |
> Gericht. | |
Bild: Zielstrebig: Maya Moore zeigt ihre Qualitäten bei einem Spiel im Mai 2018 | |
Man muss sich schon ein wenig anstrengen, wenn man versuchen will, alle | |
Triumphe von Maya Moore in ihrer langen Basketball Karriere aufzuzählen. | |
Die vier Meisterschaften in der [1][US-Profiliga WNBA] stechen sicher | |
heraus und auch die beiden olympischen Goldmedaillen. Doch dann ist da noch | |
der Euroleague-Titel mit Ekatarinenburg, die spanische Meisterschaft mit | |
Valencia, die chinesische Meisterschaft mit Shanxi und ihre vier | |
Collegetitel mit der Universität von Connecticut. Moores Trophäenschrank | |
dürfte mindestens doppelt so groß sein, wie der von LeBron James. | |
Die Laufbahn von Moore ist die glanzvollste, die der Basketballsport in den | |
vergangenen 15 Jahren gesehen hat – auch, wenn man ihre männlichen Kollegen | |
miteinbezieht. Und doch kam der größte Sieg ihres Lebens, beinahe zwei | |
Jahre, nachdem sie zum letzten Mal das Trikot ihres Teams, der Minnesota | |
Lynx, übergestreift hat. | |
Als am vergangenen Dienstag der 40 Jahre alte Jonathan Irons aus den Toren | |
des Staatsgefängnisses von Missouri in Jefferson City trat, wurden Maya | |
Moore, einer athletischen Erscheinung von 1,82 Meter Körpergröße, die Knie | |
weich. Moore sank auf den Asphalt vor dem Gefängnis und wurde von Gefühlen | |
überwältigt, die ihr keine Medaille und kein Pokalgewinn jemals hätten | |
bescheren können. | |
Später, als die 31-Jährige sich wieder gefangen hatte, fand sie ein paar | |
Worte, um diesen Gefühlen Ausdruck zu verleihen: „Ich bin froh, zeigen zu | |
können, dass echtes Opfer zu echtem Wandel führt. Wenn wir etwas verändern | |
wollen, müssen wir alle etwas aufgeben.“ | |
## Unschuldig hinter Gittern | |
Maya Moore hat mehr als nur ein wenig geopfert, um Jonathan Irons, der 23 | |
Jahre lang unschuldig hinter Gittern saß, aus dem Gefängnis zu befreien. | |
Moore hatte im Frühjahr 2019 die wohl großartigste Karriere im | |
Basketballsport auf unbestimmte Zeit ausgesetzt, um sich mit aller Kraft | |
gegen die Ungerechtigkeit im US-amerikanischen Strafrechtssystem zu | |
stemmen. | |
Moores Entschluss, sich ganz dem Kampf gegen Rassismus und für | |
Gerechtigkeit, für Jonathan Irons, zuzuwenden, begann im Sommer 2016 zu | |
reifen. Ihre Minnesota Lynx kämpften gerade um ihren vierten WNBA-Titel, | |
und Moore bereitete sich auf die Olympischen Spiele von Rio vor. Doch sie | |
spürte gleichzeitig, dass sie sich langsam, aber sicher einer Art Burnout | |
näherte. | |
Fünf Profijahre auf höchstem Niveau nach vier anstrengenden Collegejahren | |
begannen ihren körperlichen und seelischen Tribut zu fordern, zumal es für | |
weibliche Basketballprofis keine Sommerpause gibt. Wer keinen zivilen | |
Nebenjob oder eine Absicherung durch die Familie hat, der muss durch Europa | |
oder Asien tingeln, um Geld zu verdienen. | |
Gleichzeitig schien schon in jenem Sommer die Polizeigewalt gegen | |
Afroamerikaner in den USA das Maß der Erträglichkeit überschritten zu | |
haben. Zuerst wurde der 32 Jahre alte Philando Castile in Minnesota | |
während einer Kontrolle von einem Polizisten erschossen. Der Mord ereignete | |
sich nur wenige Kilometer von der Arena, in der die Lynx ihre Heimspiele | |
bestritten. | |
## Fortsetzung der Sklaverei | |
Kurz darauf kam der 37-jährige Alton Sterling in Louisiana durch Schüsse | |
aus einer Polizeiwaffe um. Noch bevor [2][Colin Kaepernick] seinen ersten | |
Kniefall machte, beschlossen damals die Lynx, Farbe zu bekennen. Sie zogen | |
sich zum Spiel schwarze T-Shirts über die Trikots, auf denen stand: „Wandel | |
beginnt mit uns“. Auf der Rückseite der Schriftzug „Black Lives Matter“. | |
Für Maya Moore war die Solidaritätsbekundung jedoch nicht genug. Sie wollte | |
mehr tun, sie wollte konkret etwas verändern, zumal es für weibliche | |
Spitzensportlerinnen schwer ist, mit symbolischen Gesten Aufmerksamkeit zu | |
schaffen. Moore begann sich zu informieren. Dabei blieb ihr Interesse vor | |
allem an dem Buch „The New Jim Crow“ von Michelle Alexander und dem | |
Dokumentarfilm von Ava DuVernay, der daraus entstand, haften. Alexanders | |
Analyse des amerikanischen Strafrechtswesens öffnete ihr die Augen. | |
Alexander stellt in ihrem Buch die Masseninhaftierung von Afroamerikanern | |
unverblümt als eine ganz direkte Fortsetzung der Sklaverei dar. Unter dem | |
Deckmantel des harten Durchgreifens gegen Drogen und Kriminalität würden in | |
den USA seit den 80er Jahren mehr Schwarze eingesperrt, als jemals in | |
Sklaverei gelebt haben. Alexander beschreibt das US-Strafrecht als eines | |
der wichtigsten Instrumente eines Kastensystems, das die schwarze | |
Unterschicht dauerhaft von der Teilhabe an der amerikanischen Gesellschaft | |
ausschließt. | |
Das Buch fiel nicht zuletzt deshalb bei Moore auf so fruchtbaren Boden, | |
weil es in ihrem unmittelbaren Umfeld ein Opfer dieses Systems gab. Schon | |
zu ihrer Zeit im College hatte ein Cousin ihr von einem jungen Mann namens | |
Jonathan Irons erzählt. Reggie Williams, der Cousin, arbeitete damals in | |
Jefferson City, der Heimatstadt der beiden in Missouri, als freiwilliger | |
Seelsorger in einem Gefängnis. | |
## Verurteilt ohne Beweise | |
Dabei hatte Irons ihn berührt – durch seine Sanftmut, seine Klugheit und | |
seine Neugier. Deshalb begann er sich mit seinem Fall zu beschäftigen. | |
Schon damals, als Moore in ihrem zweiten Jahr im College spielte, nahm | |
Williams sie mit ins Gefängnis, um Irons kennenzulernen. Die beiden hielten | |
über Jahre engen Kontakt, auch wenn Moores durch ihre Karriere sehr in | |
Anspruch genommen wurde. „Er wurde fast so etwas wie mein Bruder.“ | |
Jonathan Irons war wie viele junge Schwarze in Armut und ohne Vater | |
aufgewachsen. Als er 16 war, ging er nur noch unregelmäßig in die Schule | |
und war dabei, auf die kriminelle Bahn abzurutschen. Er hatte Verbindungen | |
zu Straßengangs und trug meistens eine Waffe bei sich. Das wurde ihm am 14. | |
Januar 1997 zum Verhängnis. An diesem Tag wurde Stanley Stotler bei einem | |
Einbruchdiebstahl angeschossen. Irons war am selben Tag mit einer Waffe in | |
derselben Gegend unterwegs. | |
Das allein genügte den Geschworenen, Irons zu verurteilen. Es gab kein | |
Blut, keine Fingerabdrücke und keine Zeigen, die ihn am Tatort gesehen | |
hatten. Wie in so vielen Fällen in Amerika reichte es aus, dass er als | |
Schwarzer zur falschen Zeit am falschen Ort war. So wie etwa der | |
Boxweltmeister Rubin „Hurricane“ Carter, der unschuldig und ohne Beweise im | |
Jahr 1967 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde und erst nach 16 Jahren wie | |
Irons rehabilitiert wurde. Oder die fünf Jugendlichen, die 1991 im Central | |
Park aufgegriffen wurden und zum Teil Jahrzehnte wegen einer Vergewaltigung | |
im Gefängnis zubrachten, obwohl sie nachweislich nicht in der Nähe des | |
Tatorts waren. | |
Das Urteil gegen Irons war ungewöhnlich hart. Weil der damals 16-Jährige | |
vorbestraft war, wurde er als Erwachsener abgeurteilt. 50 Jahre ohne | |
Bewährung bekam Irons aufgebrummt, sein Leben schien zu Ende. Man dürfe | |
sich nicht davon täuschen lassen, dass er so jung sei, sagte der Richter | |
bei der Urteilsverkündung, Irons sei ein gemeingefährlicher Verbrecher. | |
Der Richter lag mit dem Urteil im Trend jener Zeit. Seit Richard Nixon | |
übertrafen sich in den USA die Politiker mit ihrer Law-and-Order-Rhetorik, | |
und der demokratische Präsident Bill Clinton war keine Ausnahme. Im Jahr | |
1994 verabschiedete Clinton ein Verbrechensbekämpfungsgesetz, das als das | |
härteste und weitreichendste in der Geschichte der USA angesehen wird. | |
## Wieder aufgenommenes Verfahren | |
Teil des Gesetzes waren Vorgaben für besonders harte Haftstrafen und ein | |
Paket von 10 Milliarden Dollar zur Ausweitung der Gefängnisse. Das Gesetz | |
wird heute als eine der Hauptursachen für die Überfüllung der | |
US-Gefängnisse und für jenes Problem gesehen, das Elizabeth Alexander | |
beschreibt. Zahlreiche Regelungen des Gesetzes wurden im vergangenen Jahr | |
vom Kongress mit überwältigender Zustimmung beider Parteien wieder | |
rückgängig gemacht. | |
So wurde Moore immer klarer, was zu tun ist. Sie begann sich einzumischen. | |
Sie studierte mit ihrem Cousin den Fall. Sie besuchte Irons immer häufiger | |
im Gefängnis. Und sie bezahlte einen hochkarätigen Rechtsanwalt, der daran | |
arbeitete, den Fall wieder aufzurollen. | |
Maya Moore war ausgebrannt vom Basketballspiel, ihre Motivation war auf dem | |
Tiefpunkt. In ihrer neuen Aufgabe hatte sie eine Erfüllung und einen Sinn | |
gefunden, der ihr auf dem Spielfeld verloren gegangen war. Moores Einsatz | |
trug Früchte. | |
Im Sommer des vergangenen Jahres hatten Moore und ihre Anwälte den Richter | |
überzeugt, das Verfahren wieder aufzunehmen und neue Beweise zuzulassen. | |
Dazu gehörten Fingerabdrücke am Tatort, die nicht von Jonathan Irons | |
stammten. Die Abdrücke wurden im ersten Prozess nicht zugelassen. Im März | |
dieses Jahres hob ein Richter in Missouri schließlich den Schuldspruch | |
gegen Irons auf. | |
Nun müssen beide ein neues Leben beginnen, Irons und Moore. Und beide haben | |
nach Irons Entlassung in der vergangenen Woche gesagt, dass sie sich Zeit | |
damit lassen wollen, sich in ihrer neuen Wirklichkeit zurechtzufinden. „Ich | |
muss mich jetzt erst einmal erholen“, sagte Maya Moore. Ihr letzter Sieg | |
war zwar körperlich weniger anstrengend als alle anderen, dafür seelisch | |
umso härter. | |
Ob sie jemals wieder auf das Basketballfeld zurückkehren will, weiß sie | |
noch nicht. Ihre neue Rolle als Kämpferin für soziale Gerechtigkeit in | |
Amerika steht ihr jedenfalls mindestens ebenso gut. | |
10 Jul 2020 | |
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## AUTOREN | |
Sebastian Moll | |
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