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# taz.de -- Finale in der Fußball-Bundesliga: Leider nicht egal
> Werder Bremen steht vor dem Abstieg. Es wäre ein herber Verlust.
> Erinnerungen an Zeiten voller Schönheit und Anstand im Profifußball.
Bild: War's das? Bremens Miloš Veljković am Boden
Am Donnerstagabend ist an Bremens neuralgischem Punkt, dem Sielwall-Eck im
sogenannten Viertel, alles ruhig. Vorletztes Wochenende hatten sich hier in
der Nacht zahlreiche Menschen versammelt, die es mit den geltenden
Abstands- und Hygieneregeln nicht so ernst nahmen. Die daraufhin vom
Innensenator verhängte Einschränkung des Außerhausverkaufs von Alkohol gilt
nur an Wochenenden – und so stehen vor dem Eisen eine Handvoll Leute
entspannt auf Abstand herum und lassen sich das Bier durchs offene Fenster
reichen.
Hier „ist die Liebe zum Fußball der Kristallisationspunkt“, sagte Fernando
Guerrero, einer der beiden Eisen-Wirte, der Süddeutschen Zeitung in einer
Reportage kurz nach dem Lockdown der Kneipenszene im März. Da ruhte nicht
nur das Kneipenleben, sondern auch der Fußball. Inzwischen sind nicht nur
die Sorgen der Wirte, sondern auch die der Werder-Fans exponentiell
gewachsen. Wenn sie in einer Person wie Guerrero zusammenkommen, tut es
richtig weh.
„Ich habe die Geisterspiele, die die DFL in Pandemiezeiten aus reiner
Geldgier veranstaltet, total abgelehnt“, sagt er der taz. „Eigentlich
sollte es mir egal sein, wer unter solchen Umständen absteigt. Aber ich
schaffe es nicht, dass mir Werder egal ist.“ Nach der Niederlage am letzten
Samstag in Mainz, die nach Meinung der meisten Bremer den Abstieg schon
besiegelt hat, änderte Guerrero das Profilbild der Facebookseite seiner
Kneipe. Er sitzt da im Kneipenfenster, mit dem Rücken zur Straße, in einer
Krümmung, die alles sagt.
„Das epochale Ereignis, nach 40 Jahren wieder abzusteigen, ist an sich
schon bitter genug“, sagt er. „ Aber die Vorstellung, dass am Samstag die
Spieler, die gerade die letzten Minuten Bundesliga spielen, von gähnender
Leere umgeben sind, dass die Fans sich nicht im Stadion und in den Kneipen
trauernd in den Armen liegen können, sondern allein auf ihren Sky-Sofas
sitzen – das hätte sich kein Splatterregisseur zynischer und brutaler
ausdenken können.“
## Der erste Abstieg
Vor 40 Jahren, als Werder das erste Mal abstieg, hieß die Szenekneipe am
Sielwall Storyville, ein Steinwurf vom heutigen Eisen entfernt. Die
Ereignisse dort und in anderen Teilen der Stadt in den Wochen und Monaten
vor diesem Abstieg bilden das Herzstück des Bremen-Romans „Neue Vahr Süd“
von Sven Regener. Um Fußball geht es darin aber nur ganz am Rande. „Ich
kenne einen, der liest jeden Montag den Kicker“, lässt Regener den
Obergefreiten Baumann sagen, als wäre das eine Sensation, „ehrlich jeden
Montag, und der hat ’ne Dauerkarte für Werder, der ist vielleicht sauer,
dass die in der zweiten Liga sind …“
Baumann begleitet den Protagonisten des Romans, den Rekruten und als
Fackelträger eingeteilten Frank Lehmann zur ersten öffentlichen
Gelöbnisfeier seit Bestehen der Bundeswehr nach dem Zweiten Weltkrieg ins
Weserstadion, die im weiteren Verlauf zu heftigen Straßenschlachten führte.
„Ich kenne auch einen, der sehr auf Werder steht“, sagt Lehmann und meint
Harry, seinen Kumpel von früher, einen vorbestraften Rocker. Fußball ist
damals noch eher etwas für die harten Jungs. Lehmanns links-alternativen
Student*innen- und Hippie-Freunde im Storyville haben damit nichts am Hut,
dort geht es um die Weltrevolution.
## Sozialverträglicher Fußball
Wenn Bremens größte Lokalzeitung, der Weser-Kurier, am Tag vor dem Spiel
gegen den 1. FC Köln auf seiner Sportseite [1][ein ganzseitiges Interview]
mit Bürgermeister Andreas Bovenschulte bringt, Profifußball also längst zum
Politikum geworden ist, zeigt das den gesellschaftlichen Wandel, den dieser
in den vergangenen 40 Jahren erfahren hat. Die aufmüpfigen Töne in dieser
Entwicklung kamen dabei oft aus Bremen. In dieser Tradition steht
Bovenschulte, wenn er heute sagt: „Die DFL ist ein seelenloser
Machtapparat.“
Der Abstieg der damals grausten aller Bundesligamäuse vor 40 Jahren war
noch die Spätfolge einer größenwahnsinnigen Transferpolitik Anfang der 70er
Jahre, die der Bremer Mannschaft den Beinamen „Millionenelf“ einbrachte
und die teilweise von Geldern der Stadt und der Wirtschaft finanziert wurde
– als Gegenleistung lief die Mannschaft in Trikots mit Bremer
Speckflaggen-Farben auf.
Seit dem sofortigen Wiederaufstieg 1981 gab es zwar jede Menge andere
Trikotpartner zum Fremdschämen, von der Billig-Textilkette KiK, über die
Zockerbude bwin bis aktuell zum Massentierhaltungskonzern Wiesenhof. Aber
es gab auch jede Menge Gründe, sich mit diesem Klub anzufreunden und in ihm
einen Bündnispartner im Kampf um einen sozialverträglicheren Fußball zu
sehen, von dem aktuell wieder viel die Rede ist.
Nach dem Tod des Werder-Fans Adrian Maleika, der im Hamburger Volkspark vom
Stein eines HSV-Anhängers getroffen wurde, entstand in Bremen das erste
Fanprojekt. In der Ära des Gespanns Willi Lemke/Otto Rehhagel wurde Werder
zum Antipoden des Branchenführers Bayern München. Willi Lemke der Sozi, Uli
Hoeneß der Kapitalist – dieses Stück führten die Talkshows [2][jahrelang
mit Vergnügen] auf. Selbstverständlich explodierten auch in Bremen die
Transfersummen und Gehälter, wurde die Profiabteilung in eine
Kapitalgesellschaft ausgegliedert – aber hier traten immerhin keine
Großinvestoren auf, wurde dem Neoliberalismus eine bodenständige,
sozialdemokratische Variante entgegengesetzt.
## Das schöne Werder
Diese entfaltete ihren ganzen Charme aber erst dadurch, dass das Spiel über
lange Strecken schöner war als das der Münchner, aufregender, offensiver,
voller Wunder und Unberechenbarkeiten. Werders Scouts schenkten der Liga
Perlen wie Rune Bratseth, Wynton Rufer, Johan Micoud, Diego, Ailton und
Claudio Pizarro. Während Werften starben, die Sozialdaten und Ränge in
den Bildungsstudien immer weiter in den Keller sackten, wurde Werder zum
großen Aushängeschild und Identifikationspunkt für Stadt und Region – auch
ohne Speckflagge auf dem Trikot.
Wer sich einmal an einem sonnigen Werder-Spieltag von irgendwoher mit dem
Rad oder zu Fuß dem einen guten Kilometer vom Sielwall-Eck entfernten
Stadion nähert, spürt wie die Stadt den Fußball atmet, ihre Energie zurück
an den Osterdeich schickt, wie durch jede Kneipentür Vorfreude nach außen
dringt.
Der euphorische Höhepunkt war der Double-Gewinn 2004, ausgerechnet im
Münchner Olympia-Stadion wurde die Meisterschaft perfekt gemacht, der
Originalkommentar von Marcel Reif zu diesem Spiel ist immer noch Teil der
Stadion Hymne „Lebenslang Grün-Weiß“. Das Bild, das Trainer Thomas Schaaf
zeigt, wie er danach eine Werder-Fahne aus dem Cockpit eines Flugzeugs
hält, wurde zur Ikone hanseatischer Glückseligkeit.
Den wirtschaftlich bodenständigen Kurs steuerte die Verantwortlichen auch
weiter, als die ökonomische Schere zu den Werks- und Investorenklubs in der
Bundesliga immer größer wurde und ab 2010 auch noch die Einnahmen aus der
Champions League wegbrachen. Werder passte den Spieleretat an und ließ
Großverdiener wie Per Mertesacker, Torsten Frings und Tim Wiese ziehen.
Gegen Stimmen im Klub und in der Stadt, mehr ins Risiko zu gehen, wie es
Schalke 04 und der HSV in der gleichen Lage taten – mit bekanntem Ergebnis.
Wenn Werder Bremen jetzt in seinem 1.900. Bundesligaspiel, einer Zahl, die
kein anderer Klub erreicht hat – zum zweiten Mal absteigen sollte, liegen
wieder zehn ermüdende Jahre hinter dem Verein. Jahre des Abstrampelns, der
Abstiegskämpfe, Jahre, in denen Perlen wie Kevin de Bruyne oder Serge
Gnabry nur noch auf Gnaden anderen Klubs auf Stippvisite vorbeikamen, um
sich die nötige Wettkampfhärte für die richtigen Haifischbecken zu holen.
Dream-Teams scheinen für Klubs wie Werder nur noch außerhalb des Spielfelds
möglich.
## Ausgerechnet jetzt
Ein solches schien doch gerade am Start zu sein – mit dem
grundsympathischen Aufsichtsratsvorsitzenden Marco Bode, der Schüler*innen
beim Lesenlernen und Schachspielen unterstützt, den Breitensport fördert
und sich bei vielen Gelegenheiten gegen Rassismus engagiert. Mit dem
grundsoliden Teamplayer Frank Baumann. Und mit [3][Trainer Florian
Kohfeldt], an dem das Management bis heute unumstößlich festhält. Wo gibt
es das außer in Freiburg sonst noch im Profifußball? Und jetzt absteigen?
„Diese Fallhöhe macht das ja besonders unfassbar“, sagt Fernando
Guerrero. „Wir hatten die beste Saison seit Langem hinter uns, wir haben
eine supersympathische Mannschaft, die auch noch gut kickt. Und wir
haben einen Trainer mit wunderbarer Mischung aus Fach- und Sozialkompetenz.
Warum steigen wir mit dieser Kombi ab?“ Klar, das riesige Verletzungspech!
Das kann aber nicht alles sein. „Es kommen bestimmt noch Faktoren dazu, die
wir von außen nicht richtig beurteilen können.“
Guerrero hat mit dieser Saison eigentlich abgeschlossen. Die Mannschaft
habe am letzten Samstag ihre Chance in Mainz gehabt und vergeben. Jetzt auf
fremde Hilfe angewiesen zu sein und selbst bei einem Sieg gegen Köln noch
darauf hoffen zu müssen, dass Fortuna Düsseldorf bei Union Berlin verliert,
habe auch etwas Unwürdiges.
„Das ist wie eine Wurzelbehandlung ohne Betäubung“, sagt der Wirt. „Die …
erst höllisch weh, man weiß aber, dass es einem hinterher besser geht. Ich
bin mir sicher, dass die zweite Liga langfristig besser ist, um Spaß am
Fußball zu haben.“ Trotzdem wird er um 15.30 Uhr das Radio wieder aus dem
Kneipenfenster stellen, und es ist kaum vorstellbar, dass er nicht über
jedes Werder-Tor jubelt. Wenn es nicht reicht, wird der Platz vor seinem
Fenster zu einem der Kristallisationspunkte für die Bremer Trauerarbeit.
Aber mit Abstand, klar.
26 Jun 2020
## LINKS
[1] https://www.weser-kurier.de/werder/werder-bundesliga_artikel,-koeln-putzen-…
[2] /Werder-emanzipiert-sich-vom-FC-Bayern/!5544446
[3] /Werder-Bremen-in-Abstiegsnot/!5647486
## AUTOREN
Ralf Lorenzen
## TAGS
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