# taz.de -- Karge Landschaften auf Spitzbergen: Ewiges Licht, Herz der Finstern… | |
> Im Sommer ist es 24 Stunden hell, im Winter bleibt es auch am Tag dunkel: | |
> In Longyearbyen auf Spitzbergen kommt die Welt zusammen. | |
Bild: Immer mehr Touristen kommen nach Spitzbergen, vor allem der eisig-einsame… | |
Stille. Plötzlich beginnen die Ventilatoren der Kühlanlage laut zu brummen. | |
Von außen ist nur das betonierte, schmale Eingangsportal zu erkennen, das | |
aus dem schneebedeckten Berg zu wachsen scheint. Auf die Nutzung der Anlage | |
weisen Lettern aus Metall hin: [1][„Svalbard Global Seed Vault“]. Damit ist | |
ausgewiesen, dass hier tief im Platåberget versteckt Saatgutschätze aus | |
sieben Kontinenten lagern. | |
Longyearbyen, 1.300 Kilometer südlich vom Nordpol: Oberhalb des kleinen | |
internationalen Flugplatzes von Spitzbergen, wo früher Braun- und | |
Steinkohle abgebaut wurden, lagert in einem eisigen Berg ein ganz | |
besonderer Schatz: Knapp 1,2 Millionen Samenproben von Mais, Reis, Weizen | |
und anderen Nutzpflanzen befinden sich hier. Hinter Stahltüren gesichert, | |
in Plastikboxen verpackt, geschützt vor Erdbeben, saurem Regen und | |
radioaktiver Strahlung. | |
Der globale Saatguttresor ist ein Back-up für den Katastrophenfall, dass | |
eine der etwa 1.700 Saatgutbanken weltweit vernichtet wird – zum Beispiel | |
durch bewaffnete Konflikte wie in Syrien, durch Hochwasser, Vulkanausbrüche | |
oder fehlende Elektrizität. Danach könnten die betroffenen Pflanzenspezies | |
mit „Sicherungskopien“ aus dem arktischen Saatguttresor nachgezogen | |
werden. Für Touristen bleibt der berühmte Tresor im arktischen Permafrost | |
allerdings verschlossen. Aus Sicherheitsgründen, wie es offiziell heißt. | |
Von der Anhöhe hat man einen herrlichen Blick auf die Umgebung. Wohin man | |
schaut: kleine Berge mit abgeflachten Kuppen. Bäume? Fehlanzeige! Dafür ist | |
die Luft glasklar, der Himmel im Sommer strahlend blau. In einiger | |
Entfernung breiten sich schneebedeckte Gletscher aus, die 60 Prozent der | |
Gesamtfläche Spitzbergens ausmachen. Eine atemberaubende Landschaft. Das | |
Reisejahrbuch von „Lonely Planets Best in Travel 2015“ zählt Spitzbergen zu | |
den Orten, die man gesehen haben sollte. Und National Geographic führt den | |
Ort auf seiner ultimativen Abenteuerreisen-“Bucket List“. | |
Im Adventdalen, einem Seitental des Isfjord, dümpeln kleine Eisberge vor | |
sich hin, die wie eine Schafherde auf der Wasserweide immer neue | |
Konstellationen bilden. Im Sommer ist es 24 Stunden hell, im Winter dunkel, | |
dann sinkt die Temperatur auf durchschnittlich 25 Grad unter Null. Die | |
Mørketid, die dunkle Zeit, dauert von Ende Oktober bis Mitte Februar. Im | |
Hochwinter wird es nicht einmal dämmrig, auch nicht mittags um zwölf. | |
Auf den wenigen Straßen des 2.400-Seelen-Orts Longyearbyen mit seinen | |
bunten Holzhäusern herrschte vor der Coronakrise reges Treiben: Arbeiter, | |
Studenten, Familien mit Kindern, Hotelangestellte, viele zu Fuß, einige | |
sind in Pick-ups und Geländewagen unterwegs. Praktisch alle Erwachsenen | |
sind erwerbstätig, es gibt keine Arbeitslosen, keine Sozialhilfeempfänger, | |
keine Flüchtlinge und keine Rentner. | |
## In Longyearbyen wird man nicht geboren | |
Über 53 Nationalitäten leben hier, die man überall trifft: im Restaurant | |
als Bedienung, in den Hotels an der Rezeption, als Tourguides auf den | |
Gletscherexpeditionen. Die meisten sind (Festland-)Norweger, gefolgt von | |
Schweden und Thailändern, Dänen, Russen, Deutschen, Philippiner, Briten und | |
Chilenen. Ein dynamischer Mikrokosmos: Jedes Jahr zieht etwa ein Viertel | |
aller EinwohnerInnen weg, dafür kommen andere aus der ganzen Welt hinzu. | |
Vor allem, um in der boomenden Tourismusbranche zu arbeiten. Einheimische | |
findet man selten. In Longyearbyen wird man nicht geboren, heißt es, nach | |
Longyearbyen wandert man aus. Spuren indigener Völker hat man auf | |
Spitzbergen bis heute nicht gefunden. | |
Der Ort hat eine Einkaufsstraße, eine Schule, ein Krankenhaus, mehrere | |
Kindergärten, Hotels und Restaurants, ein Kino, ein Schwimmbad, eine Post, | |
einen Polizisten, das Norwegische Polarinstitut, eine | |
Hubschrauberrettungsstation und eine Tankstelle. Das Straßennetz umfasst | |
gerade mal 46 Kilometer, und keine führt in einen anderen Ort. Ohnehin gibt | |
es hier mehr Schneemobile als Autos. Denn die Inseln des Archipels sind bis | |
auf die Ansiedlungen in Longyearbyen, Ny-Ålesund, Svea und i[2][m | |
russischen Bergarbeiterort Barentsburg] unbewohnt. | |
Kriminalität ist hier unbekannt, allenfalls gibt es zu viel Alkoholkonsum. | |
Außerdem ist die Region gemäß dem „Spitzbergenvertrag“ von 1925 eine | |
entmilitarisierte Zone – und der nördlichste Punkt der Erde, den man mit | |
einem Linienflug erreichen kann. | |
Immer mehr Touristen kommen nach Spitzbergen, vor allem der eisig-einsamen | |
Landschaft wegen. Oder um einen der rund 3.000 hier lebenden Eisbären vor | |
die Kamera für die digitale Sofashow zu Hause zu bekommen. Schon am | |
Flughafen werden die ankommenden Passagiere am Gepäckausgabeband von einem | |
„ausgestopften Knut“ begrüßt. Draußen, vor der Halle, warnt ein rotes | |
dreieckiges Schild vor den Bären. Sie können für den Menschen gefährlich | |
werden. Im Fall eines Angriffs wegzurennen ist zwecklos. Eisbären laufen | |
bis zu 40 Stundenkilometer schnell. | |
Einst war Spitzbergen für seine Kohle bekannt: 1906 wurde mit dem Abbau | |
industriell begonnen, heute ist davon bis auf wenige Zechen nicht mehr viel | |
übrig geblieben. Viele Bergwerksschächte sind stillgelegt, zu unrentabel, | |
der Weltmarktpreis für Kohle ist zu niedrig. | |
Vor allem aber passt der Abbau des „schwarzen Goldes“ nicht mehr zum | |
heutigen Image von Spitzbergen, und er könnte unkalkulierbare Umweltfolgen | |
haben. Geblieben sind nur die alten Bräuche aus der kohlestaubverdreckten | |
Zeit: In öffentlichen Gebäuden, Hotels, Museen und der Kirche muss man am | |
Eingang seine Schuhe ausziehen und bekommt dafür Hausschuhe (die überall | |
bereitstehen). | |
Am Abend ist der Karlsberger Pub wieder einmal überfüllt. Bergleute, | |
Studenten, Klimaforscher, Guides und Touristen – alle sind gekommen. | |
Täglich landen hier Liniemaschinen aus Tromsø oder Oslo. Kreuzfahrtschiffe | |
bringen Touristengruppen. Mit ihnen kamen neue Jobs. Kurz vor dem Nordpol | |
gibt es jetzt ein 4-Sterne-Hotel und ein Gourmet-Restaurant. Es gibt ein | |
Museum, in dem Besucher sehen können, wie die Minenarbeiter vor hundert | |
Jahren lebten. Mit den Touristen kommen auch neue Probleme wie der viele | |
Müll. Der biologisch abbaubare Teil geht in den Fjord. Der Rest muss aufs | |
Festland verschifft werden. | |
Anfang der 1990er Jahre begann die norwegische Regierung den Tourismus zu | |
fördern. Bis dahin konnten Besucher nur auf Einladung anreisen. | |
Mittlerweile werden es immer mehr, vor allem im Winter. Dann dreht sich | |
alles um die Nordlichter, wenn neben dem Blau der Gletscher und dem Schwarz | |
der arktischen Nacht eine weitere Farbe zu sehen ist: Grünlich-türkises | |
Licht strahlt vom Himmel, unheimlich, auch weil es sich zu bewegen scheint. | |
In der hellen Jahreszeit kommen die Touristen für ein besonderes Erlebnis: | |
24 Stunden Sonne. Dann werden Ski- und Hundeschlittentouren angeboten. Ein | |
Gewehr gehört dabei ebenso selbstverständlich zum Gepäck wie die | |
Thermoskanne. Viele haben zusätzlich noch eine Schreckschusspistole dabei. | |
Denn töten will hier niemand einen Eisbären. Die Zeiten, in denen man zu | |
Safaris nach Spitzbergen fahren konnte, sind Geschichte. | |
Vor zwanzig Jahren waren es um die 20.000 Übernachtungen im Jahr, 2019 über | |
162.000. Immer mehr Kreuzfahrtschiffe suchen die arktischen Gewässer auf. | |
Noch sind die Kaianlagen für die großen „Pötte“ zu klein. Die Infrastruk… | |
des kleinen Orts stößt schnell an ihre Grenzen. Doch die Pläne für einen | |
neuen Terminal liegen beim „Sysselmannen“, dem Gouverneur von Spitzbergen, | |
bereits in der Schublade. Umweltschützer sehen den zunehmenden | |
Schiffsverkehr in der Arktis allerdings kritisch und warnen vor Havarien im | |
empfindlichen Ökosystem. | |
Dafür haben sich Longyearbyen und die Region zu einem Zentrum für die | |
internationale Klimaforschung entwickelt. 1993 wurde die nördlichste | |
Universität der Welt eingeweiht. 772 Studenten waren 2018 hier | |
immatrikuliert. Meeresbiologen, Meteorologen, Geologen, Geophysiker und | |
Eisforscher nutzen Spitzbergen für ihre wissenschaftlichen Aktivitäten. | |
Denn: „Der Klimawandel ist hier angekommen“, sagt Kim Holmén, der | |
schwedische Direktor des Norwegischen Polarinstituts. Mit seiner | |
Designerbrille, den wachen Augen und seiner Schifferkrause schaut er etwas | |
mürrisch drein. | |
Die Fakten hat er Journalisten und Politikern schon unzählige Male erzählt: | |
Der Fjord vor Longyearbyen friert nicht mehr zu, die Gletscher gehen | |
zurück, noch in diesem Jahrhundert kann der gesamte arktische Raum im | |
Sommer eisfrei sein, die Zahl sogenannter gebietsferner Fisch- und | |
Vogelarten ist gestiegen. So sind zum Beispiel Makrelen aus wärmeren | |
Gewässern bis an die Küsten Spitzbergens gewandert. Große Teile | |
Spitzbergens stehen unter Naturschutz. Seit 1973 hat Norwegen verschiedene | |
Naturparks- und reservate eingerichtet, die auch die Küstengewässer mit | |
einbeziehen. | |
Zu den ständig wechselnden Herausforderungen der Umwelt gehören auch die | |
Beschwernisse des Alltags: Jede Glühbirne muss eingeflogen oder mit dem | |
Schiff vom norwegischen Festland herangeschafft werden, jedes Baugerät, | |
jede Arznei, jeder Apfel, jedes Stück Stahl, jede Zahnpasta – und jede | |
Samenprobe für die Saatgut-Schatzkammer. | |
Oben, an der Vorderseite des Eingangs, wurde ein Kunstwerk aus dreieckigen | |
Stahlelementen und Spiegelscherben angebracht. Im Sommer reflektieren sie | |
die Sonne, im Winter das Nordlicht. | |
„Doomsday Vault“ – Tresor des Jüngsten Gerichts – haben Medien den Tre… | |
(fälschlicherweise) bezeichnet. Als Ort der allerletzten Rettung, wenn über | |
die Verfehlungen der Menschheit einmal Gericht gehalten werden sollte. | |
Derzeit ist Spitzbergen für Touristen praktisch geschlossen. Anreisen | |
dürfen nur Einwohner und Norweger, theoretisch zumindest norwegische | |
Touristen. SAS und Norwegian halten den Flugverkehr aufrecht. Wann | |
Touristen wieder nach Spitzbergen kommen können, ist offen. | |
19 Jul 2020 | |
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## AUTOREN | |
Michael Marek | |
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