# taz.de -- Comic „Bezimena“: Wie Raubtiere begehren | |
> Nina Bunjevacs surrealer Comic bezieht sich auf eine griechischen Sage. | |
> Die Autorin verarbeitet in „Bezimena“ ihre Erfahrung mit sexualisierter | |
> Gewalt. | |
Bild: Ausschnitt aus Nina Bunjevacs surrealem Comic „Bezimena“ | |
Ein junger Mann durchblättert ein Skizzenbuch und findet verführerischste | |
sexuelle Fantasien dargestellt. Er sieht darin alles, wovon er immer | |
träumte. Und besser noch: Das Skizzenbuch stammt von einer jungen Frau, die | |
er bereits als kleiner Junge in der Schule kennenlernte. Er ist sich | |
sicher, die Szenen sind eine Botschaft an ihn, das ganze Buch ist eine | |
Handlungsanweisung: Sein Begehren ist auch das ihre. | |
Die Rede ist von Benedict, genannt Benny, der in einem Zoo arbeitet, weil | |
er den Kontakt zu Menschen meidet, wenn er sie nicht gerade beobachtet. | |
Oder ihnen nachstellt. Und eines Tages sieht er sie, sie sie sie, die er | |
seit Jahren begehrt: Die weiße Becky, das Mädchen, deren Anblick dem | |
kindlichen Benny einen Samenerguss bescherte, steht nun als leibhaftige, | |
alabasterfarbene Schönheit vor ihm. | |
Ein nicht zu stillender Drang nach Becky breitet sich in ihm aus. Aber was | |
als verheißungsvolle Geschichte beginnt, entwickelt sich zu einem Albtraum, | |
nicht nur für Benny. Denn die Handlungsanweisungen in dem Buch existieren | |
nur in seinem Kopf. Sein Begehren ist das eines Raubtieres, und am Ende | |
wird er dafür hinter Gittern enden. | |
[1][Nina Bunjevac] schildert Bennys Geschichte in Schwarz-Weiß-Bildern. In | |
pointillistischer Manier fügen sich Punkte, Schraffuren und Netze zu | |
Schattierungen, die von harten Konturlinien begrenzt werden. Bunjevac setzt | |
dabei vor allem das Schwarz in Szene, immer wieder verschluckt es ganze | |
Seiten. | |
## Mit cineastischem Blick | |
In den harten SchwarzWeiß-Setzungen ohne Grau erinnert die Erzählung an | |
Nouvelle-Vague-Filme oder Rainer Werner Fassbinders „Die Sehnsucht der | |
Veronika Voss“. Und als sich Bennys dunkle Seite aus den Buchseiten schält, | |
fühlt man sich visuell wohl nicht zu Unrecht an die Mördersuche in Fritz | |
Langs „M“ erinnert. Kurzum, Bunjevac erzählt ihre Geschichte mit einem | |
geradezu cineastischen Blick. | |
Als wäre das ästhetisch nicht spannend genug, bricht sie auch Gesetze | |
erzählerischer Kausalität und Kontinuität. Eingebettet ist Bennys | |
Geschichte in eine Rahmenerzählung, die von unsichtbaren Stimmen aus dem | |
Off (in Form von Sprechblasen auf schwarzen Seiten) erzählt wird. | |
Es ist die Erzählung von Bezimena, einer alten Frau, die von einer jungen | |
Priesterin gestört wird. Bezimena, das bedeutet „namenlos“ in den meisten | |
slawischen Sprachen. Die Namenlose tunkt die Priesterin in das Wasser eines | |
Teiches, woraufhin Zeit und Raum verschwimmen und die Priesterin als junger | |
Mann, Benny, wiedergeboren wird. | |
Licht in das Schwarz der Seiten bringt der Verweis der Autorin, es handle | |
sich um eine Adaption des Mythos von Artemis und Siproites. Artemis ist | |
nicht nur die jungfräuliche Göttin der Jagd und der Geburt, sie ist auch | |
die Hüterin der Frauen und Kinder. Bildlich taucht sie in der Geschichte | |
als Hüterin des Wildes auf. Im Traum verwandelt sich Benny in einen Hirsch, | |
der von wilden Hunden, Begleiterinnen der Artemis, durch den Wald gejagt | |
wird. | |
## Griechische Mythologie | |
Das Thema der Verwandlung begegnet uns auch in der Geschlechtsumwandlung | |
der Priesterin wieder. Hier echot die Verwandlung den Mythos von Siproites, | |
dem Jäger aus der griechischen Mythologie, der von Artemis in eine Frau | |
verwandelt wird, nachdem er sie beim Baden beobachtet hat. | |
Bunjevacs symbolistische Erzählweise erschafft einen rätselhaften Bildtext, | |
der sich assoziativ fortsetzt. Tatsächlich rätselt man nach der Lektüre | |
dieses ästhetisch so betörenden Buches. Etwas Licht ins Dunkel bringt ein | |
Nachwort der Autorin, in dem sie von einem erschütternden Erlebnis erzählt: | |
Als Fünfzehnjährige wird sie von einer Schulkameradin in eine abgelegene | |
Hütte geführt, wo ein älterer Mann sie erwartet. Sie soll Sex mit ihm | |
haben. | |
Bunjevac weiß, dass sie fliehen muss. Sie kämpft mit dem Mann. Die gesamte | |
Szene wird von einer Kamera gefilmt, die der Mann installiert hat, um die | |
Vergewaltigung des Mädchens zu filmen. | |
Bunjevac schildert im Nachwort, was ein Betrachter des Filmes sehen würde. | |
Der filmische Blick der Erzählung könnte darin seinen Ursprung haben. | |
Bunjevac hat ein Trauma in ein fesselndes Kunstwerk verwandelt. | |
2 Jul 2020 | |
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## AUTOREN | |
Marlen Hobrack | |
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