# taz.de -- Valentin Groebner über Sommer am Strand: „Früher Müll, heute M… | |
> Der Historiker Valentin Groebner hat das Reisen erforscht. Er weiß, wann | |
> Strände zum Sehnsuchtsort wurden. Aber nicht, wohin er diesen Sommer | |
> will. | |
Bild: Bewegungsfreiheit und intensive Körperlichkeit: am Strand von Rio | |
taz: Herr Groebner, der Stilllegung gesellschaftlichen Lebens wegen Corona | |
ist nicht mehr möglich gewesen – auch wegen des nahenden, | |
urlaubsverheißenden Sommers. War die Sehnsucht nach Ferien nicht mehr zu | |
bremsen? | |
Valentin Groebner: Da wäre ich mir nicht so sicher; das hat wohl auch mit | |
dem kollektiven Gefühl von stark gesunkenem Ansteckungsrisiko zu tun. Aber | |
der Sommer ist natürlich mehr als eine Jahreszeit: Er ist das Versprechen | |
auf Wunscherfüllung, Körperglück, Wiedergutmachung. Sommer ist keine | |
Jahreszeit, sondern ein geträumter Zustand. Und der muss vermarktet werden | |
– „mehr Sommer nur für dich“ ist das Versprechen der | |
Fremdenverkehrsindustrie. | |
Ihr neues Buch heißt „Ferienmüde“. Woher rührt die Reiseunwilligkeit? | |
Dieser – mein – Befund ist erst einmal sehr persönlich. Die meisten wollen | |
ja weiterhin in den Urlaub. Ich merkte, dass ich keine Lust mehr hatte auf | |
all die Flughäfen, Mietautos, Ferienhäuser. Das war wie ein Gummibärchen, | |
das über Nacht im Wasser gelegen hatte und aufgequollen war, formlos | |
geworden. Libidoverlust. Also wollte ich herausfinden, woher das kam. | |
Was ist das Versprechen der Ferien gewesen? | |
Ich kann nur für mich sprechen: Überrascht werden. Unerwartetes Vergnügen. | |
Etwas ausprobieren, was man vorher so noch nie gemacht hat. Und ich glaube, | |
gutes Reisen hat etwas mit Verstehen zu tun, mit dem Klick im Kopf. | |
Ist der Meeressaum, der Strand, schon immer das Ziel von Urlaubswünschen | |
gewesen? | |
Nein, vor dem Beginn des 19. Jahrhunderts ging da niemand zum Vergnügen | |
hin. Historisch gesehen ist der Strand die Zone für den Müll – und der | |
gefährliche Transitraum zwischen Land und Meer, ein eher riskanter und | |
gefährlicher Ort. Das änderte sich erst durch die Industrialisierung. | |
Seitdem es Fabriken gab, im 19. Jahrhundert, fand man den Strand plötzlich | |
schön. | |
Welche Bilder werden in uns aufgerufen, wenn wir von Stränden fantasieren? | |
Bewegungsfreiheit und intensive Körperlichkeit. Im Urlaub spielen wir | |
natürlich auch Filme in unseren Köpfen nach, mit uns selbst als | |
Hauptdarsteller und Regisseur in einer Person, und im Film ist der Strand | |
ja seit Langem der Emotionsort schlechthin – für Liebe, Entscheidung und | |
süße Melancholie. | |
Gibt es ein Ziel, wohin wir alle am liebsten reisen möchten? | |
Wer ist denn „wir“? Ferien sollen immer einen Mangel ausgleichen. | |
Wohlhabende aus extrem heißen und trockenen Ländern reisen gerne an Orte, | |
wo es ausgiebig regnet. Stadtbewohner reisen aufs Land. Und Provinzler wie | |
ich in die Großstadt. Reisen ist imaginäre Selbstvervollständigung auf | |
Zeit. Bei 1,5 Milliarden Touristen weltweit im Jahr werden diese | |
Geschichten allerdings zwangsläufig zu einer Art Märchenstunde für | |
Erwachsene. Wir glauben an die Wunscherfüllung im Urlaub auf ziemlich | |
ähnliche Art und Weise wie an das Christkind, den Weihnachtsmann und den | |
Osterhasen. | |
Ist Reisen nicht eigentlich auch eine Frucht des Kolonialismus, der | |
europäischen Welteroberung? | |
Zumindest haben erstaunlich viele westliche Traumdestinationen eine | |
Geschichte, die eng mit dem europäischen Sklavenhandel verknüpft ist, wenn | |
man genau hinschaut – von Venedig über die Kanarischen Inseln bis zur | |
Karibik. Die Gewaltgeschichte liegt sozusagen direkt unter der | |
touristischen Idylle. Mit Ausbeutung und Zwangsarbeit darf aber das | |
Traumziel per Definition nichts zu tun haben, das ist schlecht fürs | |
Marketing. Deswegen kommen die Putzfrauen in den Resorts und Hotelanlagen | |
ja auch nicht im Hotelprospekt vor. | |
Menschen aus reichen Ländern – wir! – können reisen, Menschen aus jenen | |
Ländern, die wir besuchen, etwa Indien oder Ägypten, nicht so einfach. Sie | |
kommen ohne Visum nicht nach Europa. Sollten wir auf solche Reisen | |
verzichten – aus Solidarität? | |
Was würde das bewirken, außer dass man sich kulturprotestantisch moralisch | |
überlegen fühlt? Tourismus hat mit Freiheit nicht viel zu tun. Er ist das | |
Ergebnis extremer ökonomischer Unterschiede; und deswegen ist jeder | |
Europäer, der nach Ägypten oder Sri Lanka fliegt, dort wie durch Zauberhand | |
plötzlich sehr wohlhabend. Umgekehrt ist Europa auch für indische | |
Mittelschichten noch immer fast unerschwinglich. | |
Viele aus unseren Hipster-Kreisen fahren im Wohnmobil durch die Gegend. Ist | |
das nicht wahnsinnig spießig? | |
Ich bin doch nicht die Geschmackspolizei. Als Historiker würde ich eher | |
sagen: Wir haben es hier mit einer Endlosschleife der sozialen Zeichen zu | |
tun. Zelten im Freien war vor 120 Jahren jugendbewegte alternative | |
Gegenkultur, dann wurde es durch seinen Erfolg kleinbürgerlicher | |
Mainstream, jetzt kann man damit wieder Dissidenz inszenieren. Das ist | |
eigentlich ziemlich lustig anzusehen – ein bisschen wie mit den Bärten. | |
Reisen ist Teil intensiver Konsumkritik – ist so eine Kritik nicht fade und | |
elitär? | |
Als Kritiker bin ich eine Art Bauchredner vor Publikum: Ich rede mit mir | |
selbst über meine eigenen Wahrnehmungen. Das wird leicht zur Egofalle. | |
Tourismuskritiker machen sich es häufig einfach, wenn sie die | |
zerstörerischen Wirkungen des globalen Fremdenverkehrs beklagen. Sie heben | |
die eigene Opferrolle hervor, indem sie sich zum Sprachrohr der | |
Erniedrigten und Geschädigten machen. Gleichzeitig demonstrieren sie ihre | |
eigene moralische Überlegenheit. Genau hinschauen ist komplizierter. | |
Wie verbringen Sie diesen Sommer? | |
Ehrlich, ich weiß es noch nicht. Ich verschlampe das. Es ist gar nicht so | |
einfach, aus den eigenen Wiederholungsschleifen herauszukommen. Wie | |
organisiert man Überraschungen für sich selbst? | |
20 Jun 2020 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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