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# taz.de -- Zum Tod von Sarah Hegazi: Die geraubte Lunge
> Weil sie auf einem Konzert die Regenbogenflagge schwang, wurde die
> ägyptische Aktivistin Sarah Hegazi verhaftet. Nun hat sie sich das Leben
> genommen.
Bild: Auf dem Konzert der libanesischen Band Mashrou Leila am 22.9.2017 in Kairo
Beirut taz | Das Bild, das ihr Trauma auslöste, ist wohl eben auch das, wie
sie möchte, dass sie in Erinnerung behalten wird: Unter freiem Himmel, auf
den Schultern eines Kumpels lacht eine junge Frau in die Kamera, sie hält
eine bunte Flagge in den Händen, Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Lila, der
graue Hintergrund ist verwackelt. Das Bild zeigt die Aktivistin [1][Sarah
Hegazi] auf einem Konzert in Kairo im Oktober 2017. Von der Stimmung
schwärmen junge Ägypter:innen noch heute: Sie tanzten und sangen die
sozialkritischen Texte der libanesischen Indie-Pop-Band Mashrou’ Leila,
deren Leadsänger Hamed Sinno offen homosexuell lebt.
Am 14. Juni hat sich die 30-jährige Aktivistin Hegazi im kanadischen
Toronto das Leben genommen.
Ihr ikonografisches Foto verbreitete sich damals schnell in den sozialen
Medien und ging um die ganze Welt, weil Hegazi dafür verhaftet wurde.
Während sie im Gefängnis saß, gingen die Behörden mit Razzien gegen LGBTQI+
Menschen vor. Sie durchforsteten Apps wie Tinder und Chaträume, um queere
Menschen zu finden; zwangen LGBTQI+freundliche Cafés zur Schließung und
verhafteten 75 Menschen, die wegen „Ausschweifungen“ zu bis zu sechs Jahren
Gefängnis verurteilt wurden.
Hegazi selbst kam nach drei Monaten frei, sie floh ins Asyl nach Kanada. In
Toronto vernetzte sie sich mit arabischsprachigen Aktivist:innen aus dem
Sudan, teilte ihr revolutionäres Wissen. Denn Hegazi war aktiv gewesen auf
den Straßen Ägyptens, bei den Aufständen im Jahr 2011. Sie war Mitglied in
der kleinen sozialistische Partei „Brot und Freiheit“, die sich in Ägypten
formiert hatte und trat später in die kanadische sozialistische Partei
„Frühling“ ein. [2][In einem Nachruf erinnert sich ihre Parteigenossin
Valerie Lannon]: „Innerhalb von Minuten erklärte sie mir: Ich bin
Kommunistin.“ Sie habe Kunst geliebt, aber größere, laute Veranstaltungen
gemieden. Dennoch erinnert sich Lannon, wie Hegazi zu ihr sagte: „Ich habe
mich noch nie so lebendig gefühlt wie während der Revolution.“
## Das Regime baut Gefängnisse
Am 25. Januar 2011 begannen in Kairo die Massenproteste, bei denen die
Menschen Korruption und die Einschränkung der Meinungsfreiheit beklagten
und den Sturz des Präsidenten Mubarak forderten. Nach dessen Rücktritt
wurden die islamistischen Muslimbrüder als staatstragende Partei gewählt,
jedoch folgten erneute Proteste im Jahr 2013 und der Militärgeneral
Abdelfattah al-Sisi putschte sich an die Macht.
Auf die Frage, wie das Leben in Ägypten nach der Gegenrevolution von 2013
sei, [3][antwortete Hegazi in einem Interview für die Webseite der
kanadischen Frühlings-Partei im Juli 2019]: „Dunkel. Anstatt Schulen oder
Parks baut das Regime Gefängnisse.“
Die ägyptische Regierung hält rund 60.000 politische Gefangene, schätzt die
Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Darunter sind
Journalist:innen, Professor:innen, Anwält:innen. Aufsehen
erregte zuletzt der Tod des 24-jährigen Filmemachers Shady Habash. Er hatte
das Musikvideo des Rocksängers Ramy Essam mit dem Titel „Balaha“ gefilmt.
Balaha ist eine notorisch lügende Filmfigur – der Titel wurde dem
Präsidenten Sisi verliehen. Habash wurde aufgrund der „Verbreitung von Fake
News“ und der Mitgliedschaft einer „illegalen Organisation“ angeklagt. Er
starb in seiner Zelle, nachdem Gefängnisinsassen versucht hatten, Medizin
für ihn einzufordern, indem sie an die Wände klopften.
Auch Sarah Hegazi kritisierte, dass es im Gefängnis keine medizinische
Hilfe gab. „Ich war für drei Monate im Gefängnis und sie haben mich in eine
Einzelzelle gesteckt, ohne frische Luft, keine Gespräche, keine Leute, so
habe ich eine Depression entwickelt und meine Augenfunktion verloren. Jetzt
machen sie das mit allen Transgender und anderen politischen Gefangenen.“
Es gäbe kein politisches Leben, nur die eine Stimme des Militärs, des
Regimes.
## „Ausschweifungen“ werden verfolgt
„Ägypten hat Sarah und die LGBT-Community fallen gelassen“, sagte Rasha
Younes von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch der
Online-Nachrichtenagentur Middle East Eye. „Sie haben sie entfremdet; sie
haben sie aus ihrem Land gezwungen; sie sind für ihr Leiden
verantwortlich.“
Homosexualität ist zwar nicht illegal in Ägypten, aber queere Menschen sind
tief verwurzelten gesellschaftlichen Vorurteilen ausgesetzt. Häufig werden
sie von der Polizei mithilfe von Gesetzen verfolgt, die „Ausschweifungen“
unter Strafe stellen. Im Jahr 2017 verboten ägyptische Behörden den Medien,
„Homosexuelle zu zeigen oder für ihre Slogans zu werben“.
„Nach meiner Freilassung hatte ich noch immer vor allen Angst“, schrieb
Sarah Hegazi in einem Artikel für die unabhängige Nachrichtenwebseite Mada
Masr im September 2018. „Ein Jahr nach dem Mashrou’-Leila-Konzert habe ich
meine Feinde nicht vergessen. Ich habe die Ungerechtigkeit nicht vergessen,
die ein schwarzes Loch in die Seele gegraben hat und sie bluten ließ – ein
Loch, das die Ärzte noch nicht heilen konnten.“ Hegazi kämpfte mit
posttraumatischen Belastungsstörungen.
Das ägyptische Zentrum für islamische Rechtsfragen (Fatwa), Dar
al-Ifta,eine öffentliche Institution, die religiöse Rechtsauskunft gibt,
schrieb auf Facebook zum Tod Hegazis: „Suizid ist eine der Hauptsünden
gegen die Seele und Gesetze, es ist keine Blasphemie.“ Suizid solle als
psychische Krankheit gesehen werde, die von Spezialisten behandelbar sei.
So vage, wie es ist, zeigt das Zitat doch die Relevanz des Themas in
Ägypten. Wenn es aufgrund der mangelnden Meinungsfreiheit zwar auf den
Straßen nicht zum Ausdruck kommen kann, so äußerten doch viele ihre
Entrüstung in den sozialen Medien: Sie posteten Beileidsbekundungen, Bilder
von Regenbogenflaggen und machten die ägyptische Regierung für Hegazis Tod
verantwortlich.
## Luft zum Atmen versprochen
Der Sänger Hamed Sinno, auf dessen Konzert Hegazi die Regenbogenflagge
geschwungen hatte, schrieb zu ihrem Tod auf Facebook: „Viele weisen schnell
auf psychische Erkrankungen und ihre Depression hin. Aber psychische
Erkrankungen existieren nicht im Vakuum.“ Sie seien das Ergebnis
struktureller Gewalt, die der „heteropatriarchale Kapitalismus“ auf den
Körper ausübe.
Die Annahme, im Exil könnten Menschen der strukturellen Diskriminierung
entfliehen, sei falsch, schreibt Sinno: „Wir verbringen den ersten Teil
unseres Lebens damit, Luft in unseren Heimatländern zu fordern, und gehen
dann in Länder, in denen uns Luft versprochen wird, nur um herauszufinden,
dass uns die Lunge geraubt wurde. Die strukturelle Ungleichheit, die so
viel Leid verursacht, weiterhin nicht anzugehen, ist ein Verbrechen.“
Er kritisierte außerdem den Durst nach Kommentaren von Promis und fragte:
„Warum brauchst du mich, um irgendetwas zu sagen, damit du wütend wirst?“
16 Jun 2020
## LINKS
[1] https://www.instagram.com/p/CBVTkD6BPCd/
[2] https://springmag.ca/our-tribute-to-comrade-rafeqa-sarah-hegazi?fbclid=IwAR…
[3] https://springmag.ca/interview-lessons-from-egypts-counter-revolution-for-s…
## AUTOREN
Julia Neumann
## TAGS
Justiz in Ägypten
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Schwerpunkt LGBTQIA
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Homophobie
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