# taz.de -- 35 Jahre Schengen: Freiheit nur im Innern | |
> Am 14. Juni 1985 wurde freies Reisen quer durch die EU möglich. Zugleich | |
> begann deren Abschottung. Das führte zum Anstieg der Migration. | |
Bild: Europas innere Grenzen. Schengen in Luxemburg, 1995 | |
An diesem Sonntag vor 35 Jahren unterzeichnete ein deutscher Staatssekretär | |
im Dorf Schengen in Luxemburg ein Abkommen, das Europa veränderte. Die, die | |
alt genug sind, denken möglicherweise mit Grauen daran, wie es war, als | |
Sommerferien in Italien noch hieß: erst mal stundenlang im Stau an der | |
Grenze stehen. Und die, die jung sind, haben in der Pandemie vielleicht zum | |
ersten Mal verstanden, dass es nicht selbstverständlich ist, Porto oder | |
Malmö zu besuchen, einfach so. | |
Sie feiern diesen Tag in diesem Jahr vielleicht besonders: Danke Schengen, | |
danke Herr Kohl, für dieses offene Europa. Denn er hatte es als damaliger | |
Bundeskanzler mit seinem französischen Kollegen François Mitterrand | |
initiiert. | |
Wer so denkt, muss selbst Europäer*in sein oder eine*r von den | |
Privilegierten, die sich in diesem Raum bewegen dürfen. Denn von Anfang an | |
war Schengen auch das Abkommen der geschlossenen Grenzen. | |
Jede Gruppe dieser Welt braucht etwas, worüber sie sich definiert – und | |
etwas, wovon sie sich abgrenzt. Nicht anders ist es mit den | |
Schengenstaaten. Als am 14. Juni 1985 Deutschland, Frankreich, Luxemburg, | |
Belgien und die Niederlande feierlich niederschrieben, die Grenzkontrollen | |
zwischen ihren Ländern abzubauen, entschieden sie auch: Die Grenzen, die | |
ihre Staaten von anderen trennen, müssen nun besser geschützt werden. Das | |
ist die Geburtsstunde der europäischen Außengrenze. | |
## Asyl war schon immer schwierig | |
Vor Schengen war Migration in europäische Staaten Angelegenheit eines jeden | |
einzelnen Landes. Asyl zu bekommen war schon immer schwierig. Aber nach | |
Europa zu migrieren, war für viele einfach. In Spanien etwa arbeiteten | |
viele Marokkaner*innen. Die meisten von ihnen kamen, schufteten, gingen | |
zurück und kamen wieder, wenn das Geld alle war. Migrationsforscher*innen | |
nennen das zirkuläre Migration. | |
Fünf Jahre nach der Unterzeichnung in Schengen schlossen die Staaten einen | |
weiteren Vertrag: Das Schengener Durchführungsübereinkommen. 142 Artikel | |
umfasst es, 128 davon beziehen sich auf Maßnahmen, die den Wegfall der | |
innereuropäischen Kontrollen an den Außengrenzen auffangen sollen. | |
Darin vereinbart wurden Regeln für Einreise, Ausweisung und | |
Bewegungsfreiheit von Menschen aus anderen Staaten. Die Länder führten eine | |
stärkere Überwachung der Außengrenzen ein, eine Zusammenarbeit von Polizei | |
und Justiz sowie ein Informationssystem, in dem sie Daten über Visa und | |
Grenzkontrollen sammeln. | |
So wurde es für Marokkaner*innen plötzlich schwierig, ein paar Monate in | |
Spanien Tomaten zu pflücken, als das Land 1991 Schengenstaat wurde. Viele | |
Marokkaner*innen, die schon dort waren, blieben nun, weil die Chance, noch | |
einmal kommen zu dürfen, gering war. So hatte Schengen eine paradoxe | |
Wirkung, die von der Migrationsforschung belegt wird: Strengere Regeln und | |
härtere Kontrollen führen häufig nicht zu einem Rückgang von Migration, | |
sondern zu einem Anstieg. | |
## Mehr Menschen in Booten des Todes | |
Und auch das lösten die neuen Vorschriften aus: Immer mehr Menschen setzten | |
sich in Boote, die sie ohne Visum [1][über das Mittelmeer] brachten. In | |
„Booten des Todes“, wie eine marokkanische NGO sagt. Vereinzelt gab es | |
diese Bootsmigration schon seit den 1970ern, populär wurde sie erst nach | |
dem Abkommen von Schengen, weil sich verändert hatte, was legal war. | |
Die Schengenstaaten beriefen sich auf Sicherheit und den Kampf gegen | |
Terrorismus. Migration wurde nun vor allem als sicherheitspolitisches Thema | |
beschrieben, als Angelegenheit, die man zum Schutz der eigenen Nationen und | |
der Sozialstaaten streng regulieren müsse. So wurde aus dem Projekt der | |
inneren Öffnung für Menschen und Märkte auch ein Projekt der inneren | |
Sicherheit und äußeren Abschottung. In den späteren Verträgen der | |
Europäischen Union – dem Vertrag von Maastricht 1992 und dem Vertrag von | |
Amsterdam 1997 – wurde dieser Weg festgeschrieben. | |
Philip Rudge war damals Generalsekretär eines NGO-Netzwerks, das heute | |
European Council on Refugees and Exiles heißt. Er schrieb 1989, vier Jahre | |
nach der Unterzeichnung in Schengen: In einem „alarmierenden Ausmaß“ nähm… | |
politische Entscheidungen zu Asyl mittlerweile kaum noch Humanität und | |
Menschenrechte in den Blick, sondern fokussierten auf Terrorismus, | |
Drogenhandel und ökonomische Interessen. | |
Natürlich muss man sagen: Auch Nicht-Europäer*innen profitieren vom | |
Schengenraum, dem heute 26 Staaten angehören. Geschäftsleute und | |
Tourist*innen aus aller Welt können mit nur einem Visum in fast ganz Europa | |
reisen. Das muss man aber erst mal kriegen. | |
Nur jeder zehnte Antrag für ein Schengenvisum wird abgelehnt, zeigt eine | |
Statistik der EU. Allerdings: Wie die Chancen stehen, ein solches Visum zu | |
bekommen, hängt stark davon ab, wessen Staatsbürger*in man ist. In | |
europäischen Konsulaten in Nigeria wird nicht jeder zehnte Antrag | |
abgelehnt, sondern jeder zweite, im Iran jeder dritte. | |
## Ohne Versicherung kommt niemand rein | |
Wer ein Schengenvisum will, muss eine Krankenversicherung haben, die | |
mindestens 30.000 Euro deckt. Er oder sie muss die Lebens- und Reisekosten | |
für die Zeit in Europa aus eigenem Vermögen nachweisen können oder jemanden | |
haben, der für einen bürgt. Und man muss plausibel machen, dass man wieder | |
zurückfährt. | |
Nicht erfasst in der Statistik ist also, wie viele deshalb erst gar keinen | |
Antrag stellen. Chancen auf ein längeres Visum für den Schengenraum haben | |
eigentlich nur Hochqualifizierte oder Menschen, in sogenannten | |
Mangelberufen wie etwa Altenpfleger*innen. | |
Und auch wer es in den Schengenraum schafft, kommt nicht unbedingt in den | |
Genuss der Reisefreiheit. Viele Geflüchtete dürfen das Land, in dem sie | |
leben, nicht verlassen, manche nicht mal den Bezirk. | |
Der EU-Staat, den ein Geflüchteter als Erstes betritt beziehungsweise in | |
dem er als Erstes registriert wird, ist für seinen Asylantrag zuständig. | |
Wird also eine Afghanin in Italien registriert und reist dann weiter nach | |
Deutschland, kann sie zurück nach Italien geschickt werden. Darauf haben | |
sich die Staaten in der Dublin-Verordnung geeinigt, die in den vergangenen | |
Jahren in der EU viel Streit auslöste. Ähnlich stand diese Regel früher | |
auch im Vertrag von Schengen. | |
Nein, Schengen soll nach 35 Jahren nicht abgeschafft werden, wie es Rechte | |
und Rechtspopulist*innen fordern. Dass Europäer*innen jedes Jahr 1,25 | |
Milliarden Reisen machen, ohne ihre Pässe zu zeigen, ist großartig. Aber | |
Schengen sollte richtig erinnert werden: als Abkommen der offenen Innen- | |
und geschlossenen Außengrenzen. Nur so lässt sich verstehen, wie es | |
europäische Normalität werden konnte, dass Menschen im Mittelmeer | |
ertrinken. | |
14 Jun 2020 | |
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## AUTOREN | |
Susan Djahangard | |
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