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# taz.de -- „Hygienedemo“-Aktivisten als Nachbarn: Corona-Streit im Treppen…
> Wenn der „Demokratische Widerstand“ unter demselben Dach lebt. Unbehagen
> bei einer Nachbarschaft im Berliner Stadtteil Wedding.
Bild: Der Bezirk Wedding ist geprägt von jahrzehntelanger Migration
BERLIN taz | Als der Lärm im Treppenhaus aufbrandet, bekommen einige der
Nachbar*innen Angst. Sie verriegeln die Türen, lugen vorsichtig aus den
Fenstern, beruhigen ihre Kinder. Das Leben ist in letzter Zeit sowieso
komisch gewesen, gespenstisch genug mit den Nachrichten von immer mehr
Corona-Infizierten, mit all den Empfehlungen von Virolog*innen, den
Kontaktsperren. Aber an diesem Donnerstagmittag Anfang Mai zwängen sich auf
einmal Dutzende Polizist*innen in voller Montur, mehrere Journalist*innen
und Kamerateams durch die Haustür, und die Nachbar*innen fragen sich: Gibt
es bei uns eine Terrorzelle? Ist jemand verletzt oder sogar tot? Droht uns
Gefahr?
Wenige Stunden später sehen die Bewohner*innen ihr Haus in einem Beitrag
der „Abendschau“ des Rundfunks Berlin-Brandenburg. Im Fernsehbericht ist
eine Pressekonferenz [1][des sogenannten Demokratischen Widerstands] zu
sehen. Die Gruppierung, die von einigen Künstler*innen und Autor*innen in
Berlin gegründet wurde, organisiert die sogenannten Hygienedemos in der
Hauptstadt.
Sie demonstrieren gegen eine – wie sie es nennen – „Merkel-Diktatur“ und
stemmen sich gegen einen angeblichen „Griff zur Macht eines fanatischen
Polit-, Medien- und Konzernkartells“. Dieser skurrile, teils antisemitisch
geprägte „Widerstand“ wird von einer Wohnung im vierten Stock des
eigentlich unscheinbaren Hauses aus koordiniert. Die Pressekonferenz fand
dort im Wohnzimmer statt. Dessen Wände, das kann man in der „Abendschau“
sehen, wurden mit Kampfsprüchen tapeziert: „Wir sind die Opposition!“
Es ist einer der Mieter im Haus, der den Tag so erinnert. Mittlerweile ist
es exakt zwei Wochen später und Adam Biruni reicht in seinem Wohnzimmer
scharf gewürzte Nüsse und Zitronenmuffins in die Runde. Auf der großen
Couch und auf den Hockern in seinem Wohnzimmer haben sich vier der
Hausbewohner*innen verteilt – mit dem gebotenen Abstand. Doch bei dieser
außerordentlichen Nachbarschaftssitzung ist niemandem zum Snacken zumute.
Die vergangenen 14 Tage waren für sie ein Albtraum. Denn während die
Journalist*innen und Polizist*innen an jenem Donnerstag nach einer Stunde
wieder davonzogen, blieben die Bewohner*innen zurück. Mit dem „Widerstand“,
der erst vor Kurzem eingezogen war, unter demselben Dach. Was macht das mit
Menschen?
## Sorge vor „komischen Menschen“
Das Haus mit der grauen Fassade steht nur einen Spaziergang vom
Regierungsviertel entfernt. Der Kiez ist von jahrzehntelanger Migration aus
verschiedenen Ländern des Nahen Ostens geprägt, neben den weißen
Ur-Berliner*innen, die hier auch wohnen. Auf den Straßen wird arabisch,
türkisch, deutsch und kurdisch gesprochen. Dieser Kiez trotzt seit Jahren
tapfer einer in der Stadt allgemein voranschreitenden Gentrifizierung. Das
Leben war in dieser Ecke von Berlin-Wedding einfach nur gechillt – bis der
„Widerstand“ eingezogen ist.
Aus Sicherheitsgründen stehen in diesem Text weder die Adresse noch die
realen Namen der Bewohner*innen. Sie treten hier alle unter Pseudonym auf.
Denn die meisten von ihnen haben Bedenken, dass noch mehr „komische
Menschen“, wie es eine Nachbarin formuliert, auf das Haus und seine 20
Mietparteien aufmerksam werden. Denn dem [2][Protest gegen die
Coronamaßnahmen haben sich laut mehreren Medienberichten sogenannte
Reichsbürger angeschlossen], einige von ihnen sind gewaltbereit und
bewaffnet. Abgesehen davon stellt sich ebenfalls die Frage, ob mit den
neuen Nachbarn auch noch das Coronavirus eingezogen ist.
Rebecca Müller wohnt in dem grauen Haus und koordiniert zusammen mit einem
anderen Nachbarn inzwischen den „Widerstand gegen den Widerstand“. Müller
erinnert sich: „Als ich die Polizei gesehen habe, war ich verstört. Ich
habe einen Journalisten im Treppenhaus gefragt, was los sei. Er gab mir
aber keine Antwort. Ich hatte das Gefühl, dass sich niemand für unsere
Perspektive interessiert hat.“ Also machen die Nachbar*innen Bilder und
Videos, tauschen sich aus, versuchen eine Strategie zu entwickeln, wie sie
die neuen Mitbewohner*innen wieder loswerden.
Rebecca Müller recherchiert zur neuen Bewegung mit den rechtsextremen
Sympathisant*innen, klingelt bei den Nachbar*innen, macht sie auf
Medienberichte zum „Demokratischen Widerstand“ aufmerksam, trommelt zum
nachbarschaftlichen Austausch zusammen. Gemeinsam überlegen sie, was sie
mit ihren begrenzten Möglichkeiten überhaupt tun können. Einige suchten
auch das Gespräch mit der „Opposition“ unter ihrem Dach, es endete im
Streit. Ein Nachbar sagt, er sei dabei rassistisch beleidigt worden.
Gemeinsam haben sie die Hausverwaltung angerufen, denn sie dachten, dass
sei eine gute Idee. Die Verwaltung habe sich von der Situation überrascht
gezeigt, aber letztlich nichts unternommen.
Keine*r in der Runde spricht schlecht über den Vermieter. Der Herr F. sei
ein gewissenhafter, sogar netter Hausherr, sagt Rebecca Müller, die schon
seit mehreren Jahren hier wohnt. „Wenn etwas kaputt ist, kommen direkt
Handwerker vorbei. Der Vermieter kümmert sich sogar persönlich um
Reparaturen und unsere Anfragen.“ Komisch sei der Herr F. aber schon immer
ein bisschen gewesen. Einige Nachbar*innen erinnern sich, dass er Wert
darauf gelegt haben soll, „die Regierung kritisch zu sehen“. Rebecca Müller
lacht. Denn natürlich müsse man die Regierenden kritisch betrachten, Herr
F. habe das aber immer mit einem gewissen Unterton formuliert und habe auch
„alternative Informationsquellen“ zu den „Fake News“ angepriesen. Kann …
sein, dass sie hier Monat für Monat Geld an einen Verschwörungstheoretiker
überweisen? Eine schriftliche Anfrage der taz an die Hausverwaltung und den
Vermieter blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
Alberto Levi sitzt bei der Nachbarschaftsversammlung auf der äußersten
Kante des Sofas und meldet sich höflich zu Wort, bevor er spricht. Allein
der Gedanke daran, dass seine Miete in dubiose Kanäle fließen könnte, lässt
ihn schaudern. „Ich habe diesen ‚Demokratischen Widerstand‘ gegoogelt und
mir angeschaut, wer mit ihnen sympathisiert und was sie sagen: Es sind so
viele Rechtsextreme dabei, bei ihren Demos und ihren Versammlungen. Ich
habe Angst und möchte nicht, dass solche Menschen bei uns im Haus sind“,
sagt Levi.
## Palettenweise Propaganda
„Systemverächter“ nannte der Berliner SPD-Innensenator Andreas Geisel den
„Demokratischen Widerstand“. Demnächst wird sich die Innenministerkonferenz
mit ihnen beschäftigen und mit den Verbindungen zwischen den
„Hygienedemos“, den sogenannten Reichsbürgern und der rechtsextremen Szene.
Doch Alberto Levi fürchtet sich nicht nur vor einer möglicherweise
gefährlichen politischen Gesinnung seiner neuen Nachbarn. Er hat wie alle
anderen auch Angst, seine Wohnung zu verlieren, wenn er zu laut gegen die
Neuen protestiert. Levi überlegt dann aber noch mal und sagt, dass ihm
eigentlich keine andere Wahl bleibe, als echten Widerstand zu leisten:
„Diese Menschen glauben, dass das Virus schlicht nicht existiert. Sie
stellen für mich und meine Familie eine krasse Gesundheitsgefährdung dar.“
Denn sie seien mittlerweile überall im Haus anzutreffen.
Im Innenhof stehen Paletten mit Tausenden selbst gedruckten Zeitungen. Auf
den Druckwerken steht „auflagenstärkste Wochenzeitung der Republik“. Adam
Biruni nennt sie „größte Brandgefahr im Haus“. „Ein glühender
Zigarettenstummel aus dem Fenster geschnipst und schon brennt uns die Bude
ab“, sagt der sichtlich aufgeregte Mann, der in einem der oberen Stockwerke
wohnt. Biruni hat eine simple Form der Sabotage gegen den neuen Feind in
seinem Leben gefunden: Die dicke Plastikplane, die die Zeitungen vor Regen
schützen soll, entfernt er so oft es geht und hofft darauf, dass vielleicht
ein Sturmtief die Verschwörungstinte unleserlich macht. Auch Biruni regt
sich auf, dass die neuen Nachbarn ohne Rücksicht das Virus ins Haus tragen
könnten.
Schon vor der ersten Pressekonferenz des „Widerstands“ im Mai, erinnern
sich einige in der Wohnzimmerrunde, seien die neuen Bewohner*innen seltsam
aufgefallen. Sie hätten ungewöhnlich viel Besuch empfangen. Immer mehr
„Widerstandsgäste“ seien auf dem Balkon der Wohnung aufgetaucht. Einige von
ihnen hätten knallgelbe T-Shirts mit der Aufschrift „Sweden“ getragen.
Schweden ist für die Verschwörungsideologen ein Sehnsuchtsort. Einige
Anhänger des „Widerstands“, hat die taz erfahren, denken sogar darüber
nach, Asyl in der Schwedischen Botschaft zu beantragen. „Deutsche Julian
Assange“, scherzt eine der Nachbar*innen und verdreht die Augen.
Ein anderer Nachbar hat die „Widerständler*innen“ dabei beobachtet, wie sie
auf dem Balkon genüsslich einen Joint teilten. Normalerweise ist das nichts
Besonderes in Berlin – zu diesem Zeitpunkt, Ende April und Anfang Mai,
hielten sich die meisten Berliner*innen allerdings an die medizinischen
Empfehlung, zu Hause zu bleiben und Abstand zu halten. „Vor meiner Nase
parkten immer mehr Autos mit Kennzeichen aus Berlin und Brandenburg. Tag
für Tag kamen neue Leute zu uns ins Haus, sie umarmten sich, fassten alles
an, hielten keinen Abstand“, sagt Adam Biruni.
Er wolle wirklich nicht den miesepetrigen Nachbarn spielen, beteuert er.
Biruni hat aber einen systemrelevanten Job und den könne er nur dann
gewissenhaft ausüben, wenn er sicher sein könne, dass er niemanden während
seiner Arbeit anstecke. Er hat in Absprache mit den anderen Mieter*innen
mehrere Lokalpolitiker*innen angeschrieben und um Statements gebeten, was
der Bezirk gegen die Gefahr in seinem Haus unternehmen wolle. Denn „dieses
Theater kann einfach nicht legal sein“, beschwert sich Biruni.
Dürfen solche politischen Aktionen in einem privaten Wohnhaus überhaupt so
stattfinden? „Eine Wohnung, die zu Wohnzwecken gemietet wird, ist zum
Wohnen gedacht und darf nicht zweckentfremdet werden. Pressekonferenzen
abhalten, ist keine übliche Wohnnutzung“, sagt Jutta Hartmann, Sprecherin
des Mieterschutzbundes. Allerdings komme es auch darauf an, ob der
Vermieter im Mietvertrag ausdrücklich eine solche Nutzung billigt oder
nicht. Eins sei aber klar, erklärt Hartmann: „Wenn der Hausfrieden so
gestört ist, dass es für die übrigen Nachbarn unzumutbar wird, kann man
eine Kündigung rechtlich erzwingen.“
## Bezirk prüft Schritte
Ephraim Gothe ist Baustadtrat von Berlin-Mitte. Der Bezirk ist mit Abstand
der am meisten vom Coronavirus betroffene Ort in der Hauptstadt. Gothe ist
für den besagten Kiez im Wedding zuständig.
Auf eine Anfrage der taz zeigt sich der SPD-Politiker aus zwei Gründen
besorgt: „aus gesundheitsrechtlicher und aus zweckentfremdungsrechtlicher
Sicht“. Es könnte nämlich sein, dass der „Demokratische Widerstand“ mit
seinen Aktivitäten im Wohnhaus einerseits gegen die geltenden
Coronamaßnahmen des Berliner Senats verstoßen habe und weiterhin verstoße.
Anderseits gilt in mehreren Kiezen der Hauptstadt ein sogenanntes
Zweckentfremdungsverbot von Wohnraum. Wohnungen müssen demnach in einigen
festgelegten Quartieren zum Wohnen genutzt werden und dürfen zum Beispiel
nicht als reine Veranstaltungsorte dienen. Gothe möchte zeitnah juristisch
prüfen lassen, ob dieses Verbot auch für das einst unscheinbare Haus mit
der grauen Fassade im Wedding gilt.
26 May 2020
## LINKS
[1] /Rechte-Ideologie-auf-Hygienedemos/!5685710
[2] /Koepfe-der-Corona-Relativierer/!5681132
## AUTOREN
Mohamed Amjahid
## TAGS
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