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# taz.de -- Neue Lieder aus Berlin: Nichts geht mehr
> Ernsthafter Humor: Mit der Mini-LP „Gesänge aus freiwilliger Isolation“
> begegnen Wladimir Kaminer und Yuriy Gurzhy einer grotesken Dystopie.
Bild: Vor dem Lenin-Mausoleum: Screenshot aus dem Video „Laut Medienberichten…
„Kaminer, das hast du dir doch ausgedacht“, möchte man meinen, wenn der
deutsche Schriftsteller russischer Herkunft erzählt, wie er den Beginn des
Lockdowns erlebt hat. Hat er aber nicht, und es war in der Tat Freitag, der
13. März, als [1][Wladimir Kaminer] im Casino Baden-Baden 20 Minuten vorher
von der Absage seines für den Abend geplanten Auftritts erfuhr.
Was für eine Kombination! Russischstämmiger Autor plus Casino plus
Baden-Baden – natürlich geht da ein Film los, in dem Dostojewski, das
Roulettespiel, „nichts geht mehr“ und das Pfandhaus vorkommen, aber
Kaminers Kino sollte eher das einer grotesken Dystopie werden: Als er
zurück nach Berlin fahren wollte, fand er sich auf einem so gut wie
menschenleeren Bahnhof wieder; wer da noch ausharrte, waren einzig und
allein die Zeugen Jehovas.
Guter Dinge seien sie gewesen, erinnert sich Kaminer, schließlich konnten
sie hoffen, nicht ganz unrecht gehabt zu haben. Auf die Frage, worauf es in
dieser Zeit und der heraufziehenden denn nun ankomme, antworteten sie:
„Festes Schuhwerk.“ Das dazu.
Arbeitslos, aber gut zu Fuß (der Buchtitel ist hiermit vergeben) begann
Kaminer mit Freund*innen Songs zu produzieren, in denen sie der ernsten
Bedrohung mit ernsthaftem Humor begegneten. Die „[2][Gesänge aus
freiwilliger Isolation]“ des Duos Kaminer & Gurzhy lassen sich auf dem
Youtube-Kanal der Berliner Band RotFront – Emigrantski Ragamuffin anhören.
[3][RotFront], das ist ein kleines, hochenergetisches Skapunkorchester,
das die Musiker und Sänger Yuriy Gurzhy und Simon Wahorn 2003 aus dem
Umfeld der Veranstaltungsreihe Russendisko gegründet haben und mit dem
Kaminer auch live auftritt.
Für die Lockdown-Mini-LP von Kaminer & Gurzhy mit den Sängerinnen Anna
Margolina und Katya Tasheva könnte der Begriff Estradenpunk geprägt werden:
„QuaranTechno“ heißt einer der Songs, „Lockdown Asylanten“ oder „All…
zu!“ zwei andere. „Verlasse nicht den Raum“, das wäre gut und gerne auch
die trocken-knarzende Aufforderung eines NDW-Hits.
Dabei sind Kaminer & Gurzhy schon mal rausgegangen. „Immunity“, eine
Schwarz-Weiß-Hommage an Florian Schneider von Kraftwerk, zeigt die beiden,
den Russen und den Ukrainer, auf einem Synthiepopspaziergang in Prenzlauer
Berg, ungefähr zwischen Schönhauser Allee und Gleimstraße. Ganz frisch ist
ein Song, der sich einem nachtaktiven Tierchen widmet, der Fledermaus.
Noch knapp vor dem Lockdown hatte der Naturschutzbund Deutschland
Berliner*innen eingeladen, sich als Fledermauszähler zu betätigen. Kaminer
möchte das Wappentier aller Dunkelaffinen verteidigen, ist es doch in den
Ruf geraten, das Coronavirus zu übertragen. „Flieg, Mausi, flieg“, eine
Kombination aus Beatbox und Chor, soll der Fledermaus zu einem besseren
Leumund verhelfen.
Drei andere Tiere sind in einem Song zu bestaunen, dessen Geschichte aus
der Meldung entstand, laut der kurz nach dem Lockdown Delfine in Venedig
gesichtet worden seien. Ob Kaminer den Wunschtraum auf seiner
[4][Onlinelesung], die er diesen Freitagabend (21 Uhr) für das Kreuzberger
BKA-Theater absolviert, aufgreift, wird abzuwarten sein, aber bereits im
April veröffentlichten Kaminer & Gurzhy den Song „Laut Medienberichten“.
Knapp drei Minuten lang ist er, ein kurzer Nachrichtenblock also.
Das [5][Video] montiert nachtleere Straßen und kahle Baumlandschaften,
verwaiste Theater und Clubs. Die Musik, Gitarre und Tamburin, könnte glatt
aus einer Küchenfete hinübergeweht sein, wäre da nicht das
zwischengeschaltete Stromgitarrensolo. Hochgeladen wurde das Video kurz vor
dem 150. Geburtstag von Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt als
Lenin.
Wenn Delfine durch die Kanäle schwimmen, kann der russische Revolutionär
noch mehr. Textauszug: „Im Lenin-Mausoleum / Hat Lenin sich bewegt / Ist
kurz aufgestanden / Hat sich wieder hingelegt.“ Nach und nach treten sie
auf, die Cartoonflipper, Möwen und Leguane, schnappen sich eine
Lenin-Büste und tragen sie durch den Clip auf einen Plattenteller, auf dem
die Leitfigur dann Karussell fährt.
Klarer Fall, dort gehört Lenin hin, dort macht er sich besser als
einbalsamiert oder als Standbild. Das letzte Wort in diesen Videos hat
übrigens Wladimir Kaminers Mutter, an dieser Stelle sagt die
Zeitungsleserin: „Kommunismus okay, aber nicht wie in Russland“.
5 Jun 2020
## LINKS
[1] http://www.wladimirkaminer.de/de/
[2] https://www.youtube.com/playlist?list=PLN5ijN-qtnAMqGIct9awoushu6Dn6HOSP
[3] http://www.rotfront.com/band
[4] https://www.bka-theater.de/content_start.php?id=179
[5] https://www.youtube.com/watch?v=9PIzEBJvyzY
## AUTOREN
Robert Mießner
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