# taz.de -- Inhaftierte Wissenschaftlerin in Iran: Forschung ohne Schutz | |
> Wir sind zwei französische Wissenschaftler, die in Iran festgenommen | |
> wurden. Unsere binationale Kollegin Fariba Adelkhah ist noch immer in | |
> Haft. | |
Bild: Abdelkhah Fariba ist noch immer inhaftiert | |
Wir sind zwei französische Wissenschaftler*innen und Mitglieder des | |
internationalen Recherchezentrums von Sciences Po in Paris (der | |
Elitehochschule Institut d’études politiques, Anm. d. Red.). Am 5. Juni | |
2019 wurden wir festgenommen und im Evin-Gefängnis interniert – im Trakt, | |
den die Revolutionswächter kontrollieren. Die Anklage lautete auf | |
„Geheimabsprache mit dem Ziel, die innere Sicherheit des Iran zu bedrohen“ | |
sowie, im Fall meiner Kollegin „Propaganda gegen das System“. | |
Während ich am 20. März 2020 freikam beziehungsweise ausgetauscht wurde, | |
ohne verurteilt worden zu sein, wurde [1][Fariba Adelkhah] zu einer | |
sechsjährigen Haftstrafe verurteilt. Rund zwei Dutzend andere | |
Mitarbeiter*innen der Universität, vor allem mit doppelter | |
Staatsbürgerschaft, sind heute in Iran inhaftiert – auch sie vor allem aus | |
Gründen, die politischer Natur sind. Ganz zu schweigen von ähnlichen | |
Praktiken in anderen Golfländern, Ägypten oder China … | |
Der Fall von Fariba Adelkhah ist in mehrfacher Hinsicht exemplarisch. Die | |
Anthropologin veröffentlicht seit drei Jahrzehnten zu ihrem Land und wurde | |
mehrfach verhört. Doch erst im vergangenen Jahr wurde sie, wie die große | |
Mehrheit ihrer heute inhaftierten Kolleg*innen, in Haft genommen, wobei | |
schwere Anschuldigungen gegen sie erhoben wurden. | |
Ihre Situation steht exemplarisch für die aktuelle Situation in Iran, wo | |
die verheerenden Effekte der [2][US-Sanktionen] die Bevölkerung stärker | |
treffen als das Regime. Einerseits geht es um die juristische | |
Verletzlichkeit von Universitätsmitarbeiter*innen, die in diesem | |
Land versuchen, ihrer Arbeit nachzugehen. Andererseits geht es um das | |
iranische Justizsystem und dessen wachsende Unterwerfung unter die | |
Revolutionswächter, die die Willkür und Politisierung dieses Systems noch | |
verstärkt. | |
## Wissenschaft strebt per se keine Macht an | |
Unabhängig von den speziellen Begleitumständen dieser Festnahmen | |
unterstreicht die aktuelle Unterdrückung dieser | |
Universitätsmitarbeiter*innen und die von Fariba im Besonderen, wie | |
massiv die Kontrolle von Informationen und die Schwächung | |
wissenschaftlicher Verbindungen oder die Wissensproduktion mit europäischen | |
und demokratischen Ländern für Teile des Regimes zur Priorität geworden | |
sind. Und das zu einem Zeitpunkt, wo die Erwartungen der iranischen | |
Gesellschaft sich radikalisieren und geopolitische Bündnisse an ihre | |
Grenzen stoßen. | |
In diesem Kontext stellt sich die Frage, welche Antworten der | |
Wissenschaftsbetrieb geben kann, der per se keine Macht anstrebt und | |
entschlossen ist, die politischen und sozialen Akteure sich selbst zu | |
überlassen. Eine Handlungsoption stellt die Position von Fariba Adelkhah | |
dar: Sie verweigert sich jeder Übereinkunft, die ihren binationalen, | |
französisch-iranischen Universitätsstaus nicht anerkennen würde. Sie will | |
ihre Vor-Ort-Aufzeichnungen und ihren Computer zurück – Symbole einer | |
beruflichen Identität, die die [3][Revolutionswächter] ihr streitig machen. | |
Sie will das sein, was sie immer war: tief iranisch, aber auch französisch. | |
Für sie ist der Preis einer solchen Wahl hoch. Sie hat kaum noch Hoffnung, | |
was den juristischen Fortgang ihres Prozesses betrifft und geht davon aus, | |
dass sie weiter in Haft bleibt. Für sie ist das der Preis, den sie zahlen | |
muss, um weder ihre Ehre als Frau und Wissenschaftlerin noch das Vertrauen | |
all derer, vor allem in Iran und in Afghanistan, zu verlieren, die sie | |
begleitet und mit ihr gearbeitet haben. | |
Eine andere Option wäre, einen Teil der Geheim- und Sicherheitsdienste | |
Irans (und anderer Staaten) dazu zu bringen, Wissenschaftler*innen nicht | |
länger a priori als potenzielle Spione anzusehen, die eine Änderung der | |
politischen Lage zu echten Spionen macht. Ideal wäre es, auf | |
internationaler Ebene spezielle Rechte für | |
Universitätsmitarbeiter*innen festzuschreiben, wie sie für | |
Journalist*innen existieren, obwohl diese nicht strikt fixiert sind. | |
Zu einem Zeitpunkt, wo Irans herrschende Klassen durch die Risiken einer | |
Destabilisierung und die Sanktionen gelähmt sind, braucht es einen | |
internationalen Vermittler – anspruchsvoll und glaubwürdig. Die Europäische | |
Union oder ein Bündnis europäischer Staaten – ob sie eine derartige Rolle | |
spielen könnten? Zumindest bis heute war das nicht der Fall. | |
## Viele westliche Länder sind gleichgültig | |
Nach neuneinhalb Monaten in Evin weiß ich, wie viel ich Präsident Emmanuel | |
Macron und der französischen Diplomatie wegen meiner Freilassung schulde. | |
Seit meiner Rückkehr nach Frankreich weiß ich, dank meiner Gespräche mit | |
den Eltern inhaftierter Kolleg*innen, noch etwas: Dass viele Länder, die in | |
den Augen meiner Kerkermeister zum Westen gehören, die französische | |
Position nicht teilen und absolut gleichgültig gegenüber diesen Festnahmen | |
bleiben, indem sie sich auf strategischere Dimensionen fokussieren. | |
Kriegsrhetorik und der Fluch der Sanktionen haben ihre Grenzen gezeigt und | |
legen nahe, dass vor allem eine realistische Diplomatie mit Leben und Kraft | |
erfüllt werden muss, die sich ihrer Vergangenheit bewusst ist und auf | |
Dialog und die Schaffung von Vertrauen setzt. Eine solche Vorgehensweise | |
wird zweifellos Widerstand in Iran, aber auch in Europa hervorrufen. Und | |
das solange, wie die Verquickung von nationalen Interessen und regionalen | |
Bündnissen eine konsistente Vorgehensweise gefährlich macht. | |
Für mich, als einfachen Bürger und Wissenschaftler, ist eins klar: | |
Neuneinhalb Monate meines Leben hat mir ein ungerechtes System gestohlen. | |
Fariba Adelkhah, unter noch schmerzhafteren Umständen, ist schon seit einem | |
Jahr all dessen beraubt, was ihr teuer ist und ihre Inhaftierung scheint | |
fortzudauern. Wir sind nicht die einzigen Opfer dieser Situation. Warum | |
also deren Fortbestand akzeptieren? | |
Aus dem Französischen: Barbara Oertel | |
4 Jun 2020 | |
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## AUTOREN | |
Roland Marchal | |
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