# taz.de -- Jan Philipp Reemtsma über Corona-Demos: „Impfangst als Weltversc… | |
> Hinter den kruden Theorien stehe oft Verunsicherung, sagt Jan Philipp | |
> Reemtsma. Gekränkte Narzissten regredieren auf den Status von | |
> Kleinkindern. | |
Bild: Das Übel dieser Welt vermuten manche im Impfstoff | |
taz: Herr Reemtsma, knapp 1.000 Menschen [1][demonstrieren wöchentlich in | |
der Hamburger Innenstadt]. Warum sind die so wütend? | |
Jan Philipp Reemtsma: Wir befinden uns in der speziellen Situation, dass | |
die Politik unter dem Imperativ der Bekämpfung einer Seuche mehr in das | |
Privatleben und die Wirtschaft eingreift, als wir das gewohnt sind. | |
Gleichzeitig kann das Bedürfnis, zu wissen, wie lange das noch gehen wird | |
und was noch kommt, nicht befriedigt werden. Das produziert Unsicherheit, | |
alte Routinen funktionieren nicht mehr, neue stellen sich noch nicht ein, | |
da werden viele Leute extrem unsicher. | |
Warum reagieren bestimmte Leute darauf so aggressiv? | |
Die allgemeine Unsicherheit trifft auf einen Typ von Menschen, die sowieso | |
leicht aus dem Tritt geraten. Konstitutionell Labile kompensieren, | |
[2][indem sie narzisstisch übersteuern], sie regredieren. Was bei | |
Vierjährigen ganz bezaubernd ist, nämlich sich die Welt mit Unsicherheit | |
und Narzissmus zu erschließen, ist bei Erwachsenen grässlich und | |
gefährlich. Trump funktioniert so. Dazu kommt die verbreitete Neigung zu | |
paranoider Weltdeutung. Man vermutet, es stecke irgendwo etwas dahinter, | |
und wenn man das benennt, stellt sich ein Gefühl der Überschaubarkeit ein. | |
Außerdem der Gewinn des Bescheidwissens. Aber auch der Paranoiker ist | |
narzisstisch übersteuert, er bezieht alles auf sich, ist lieber verängstigt | |
und gekränkt als bedeutungslos. Nehmen Sie zum Beispiel die Impfangst: die | |
typische kleinkindhafte Angst vor dem Pieks, aufgeblasen zu einer | |
Weltverschwörung. | |
Wie würden Sie das Milieu beschreiben, das in Hamburg demonstriert? | |
Das Milieu stellt sich erst vor Ort her. Vorher wird es imaginiert durch | |
das Internet als virtueller Stammtisch. | |
Gibt es keinen ideologischen Kitt, der diese Gruppe zusammenhält? | |
Nein, da zählen nur die Affekte. Die suchen sich vorgegebene politische | |
Parolen, die irgendwie passen. Ob die von links oder rechts kommen, ist | |
egal, sie müssen nur auf die Affektlage passen. Die Rolle des | |
Politisch-Ideologischen wird generell überschätzt. [3][Denken Sie an Horst | |
Mahler]. Er hat von Linksterrorismus bis Rechtsradikalismus alles | |
durchprobiert und ist immer derselbe geblieben. Die Verkörperung des Ideals | |
„authentisch“. | |
Aber die Demonstrant*innen knüpfen an rechte Argumentationsmuster an. Sie | |
sind gegen „Mainstream-Medien“, gegen Merkel und Spahn, gegen jüdisch | |
imaginierte Eliten. | |
Ja, diese Argumente sind gerade en vogue. Rechtes Vokabular spielt in der | |
Bundesrepublik aktuell eine viel größere Rolle als linkes. Deshalb bedienen | |
sich die affektgestörten und narzisstisch übersteuerten Leute dieses | |
Vokabulars. Wäre die politische Großwetterlage eine andere, würden sie | |
linkes Vokabular verwenden. | |
Viele glauben an die Übertragung des [4][Virus per 5G-Strahlung], an | |
Mikrochips per Zwangsimpfung, eine Neue Weltordnung – haben sie den | |
Verstand verloren? | |
Ich bekomme sehr viel Post von Verrückten. Sie sitzen ganz alleine zu | |
Hause, machen sich Sorgen über Kondensstreifen am Himmel, über angeblich | |
einflussreiche Juden. Jetzt zu demonstrieren, gibt ihnen die Chance, nicht | |
mehr allein zu sein. Andere, die nicht dauernd so verrückt sind, haben | |
jetzt die Gelegenheit, auf Zeit durchzudrehen – das erleben sie als schön | |
und sich selbst als bedeutungsvoll. | |
Ist das ein Grundproblem: dass die Menschen keine Freund*innen haben? | |
Einige haben welche, die sind genauso durchgeknallt wie sie selbst, andere | |
nicht. Es ist nicht so leicht, Freunde zu finden, wenn man so | |
durchgeknallte Spleens hat. Da geht man den Leuten nämlich entsetzlich auf | |
die Nerven. Also braucht man Gleichgesinnte, um überhaupt ein soziales | |
Umfeld zu haben. Viele pflegen ihre Spleens im normalen Leben nicht so | |
intensiv. Jetzt haben sie die Chance, einen großen Freundeskreis um sich zu | |
sammeln. | |
Woher kommt die Bereitschaft, das Terrain des Rationalen zu verlassen? | |
Jeder Mensch agiert nur teilweise rational. Die Fähigkeit, das Rationale – | |
oder sagen wir: das, worüber wir in Ruhe und mit Wirklichkeitsbezug reden | |
können – ganz aufzukündigen, hat auch jeder. Einige kultivieren sie | |
aufgrund ihrer persönlichen Entwicklung bis zu bizarren Formen. Es gibt | |
soziale und politische Situationen, die diese Fähigkeit stimulieren und | |
belohnen. Hexenverfolgung, Massenparanoia. Der Antisemitismus als | |
Staatspolitik ist nicht ganz dasselbe, aber funktioniert auf der Ebene der | |
Affektstimulation ähnlich. Darum ist das alles gar nicht lustig. Gefährlich | |
wird so etwas aber erst, wenn es eine politische Bewegung gibt, die das | |
aufnimmt und trägt. | |
Was glauben Sie, wo die Bewegung hinsteuert? | |
Die steuert nirgendwo hin. Sie tut, was sie tut, bis zu einem | |
Erschöpfungspunkt, der möglicherweise bald erreicht ist, oder sie wird eine | |
Bewegung mittlerer Dauer, weil es so großen Spaß macht teilzunehmen. | |
Menschen mögen Vergemeinschaftung. | |
Trifft der Begriff Querfront hier? | |
Ich würde ihn nicht benutzen. Dass es Leute in der Weimarer Republik gab, | |
die erst die KPD und dann die NSDAP gewählt haben, wissen wir doch. Wir | |
wissen auch, dass es zwischen Linken und AfD einen großen Wähleraustausch | |
gibt. Wir sollten uns eher fragen, warum uns das immer wieder erstaunt. Das | |
liegt daran, dass wir dem politischen Denken einen zu großen Stellenwert | |
zuschreiben. Menschen denken selten politisch. Auch nicht, wenn sie das | |
behaupten. | |
Dann kommt es mehr auf das Soziale an? | |
Auf das Affektive. Wir überschätzen das Politische immer, weil wir meinen, | |
über Politik gut miteinander reden zu können. Wir können über Affekte | |
reden, aber mit rein affektiv Gesteuerten nicht. Das möchten wir aber | |
zuweilen tun, und dann vergessen wir, was wir sehen, und reden uns ein, es | |
gehe um Politik. Aber es hat ja keinen Sinn, auf den Jungfernstieg zu gehen | |
und mit den Leuten reden zu wollen. | |
Was kann man dann dagegen machen? | |
Nichts. Nicht hingehen. Man bestätigt die Leute nur in ihrer narzisstischen | |
Übersteuerung, wenn man ihnen Aufmerksamkeit gibt. Man muss Polizisten | |
hinschicken, damit nichts passiert. Man muss es einfach aushalten, bis es | |
vorbei ist. Wenn man die Gelegenheit hat, kann man den Leuten vielleicht | |
zeigen, dass man sie verachtet, das mögen sie nicht. | |
20 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Schipkowski | |
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