| # taz.de -- Die Vorlieben der anderen: Die Leute hinter der Wand | |
| > Welche schönen Sachen wohl bei den Nachbarn für wohliges Geschrei sorgen? | |
| > Unser Kolumnist macht sich gerne so seine Gedanken. | |
| Bild: Ihr Ding, ihren intimen Code, den sie hervorzaubern, wenn die Kinder nich… | |
| Jenseits der Wand hinter meiner Couch gibt es öfter mal Geschrei. Nicht das | |
| gefährliche Geschrei, für das man lieber mal schauen geht oder zum Telefon | |
| greift. Eher das gewöhnliche Geschrei, wenn Kinder nicht aus dem oder nicht | |
| ins Bett wollen oder sonst wie kindlich verstimmt sind und wo die Eltern | |
| dann versuchen, noch lauter zu schreien als die Kinder, in der Hoffnung, | |
| dass das überzeugt. Es kommt aber manchmal auch anderes Geschrei von | |
| jenseits der Wand hinter meiner Couch, wohliges Geschrei, aus dem sich | |
| schließen ließe, dass die Kinder vielleicht grade nicht zu Hause sind. | |
| Und dann frage ich mich, wer diese Leute sind und was sie wohl anmacht. Das | |
| geht mich selbstverständlich nichts an, aber ich kann ja nicht verhindern, | |
| dass ich mich etwas frage. Hinter der Wand liegt das Nachbarhaus, und so | |
| sind diese Leute mir unbekannt. Der indiskrete Reporter würde sogleich | |
| hinübergehen und sich ein Bild machen. Der diskrete Literat hingegen würde | |
| sitzen bleiben, wo er ist, und sich etwas ausdenken. Und da diese Zeiten | |
| uns zwingen, diskrete Literaten zu sein, bleibe ich sitzen. Und weil ich | |
| mir lieber etwas ausdenke. Die Wahrheit ist oft grässlich unheiter. | |
| Ich denke mir also aus, dass die Leute jenseits der Wand sich manchmal | |
| anschauen, wenn die Kinder aus dem Haus sind, und dann beide wissen, was | |
| sie wollen. Dass sie aus der Kammer, unter dem Werkzeugkasten hervor, die | |
| Schachtel mit den schönen Sachen holen, es ist eine runde Hutschachtel und | |
| darin, denke ich mir aus, befindet sich alles, was sie brauchen, für ihr | |
| wohliges Geschrei. | |
| Frühkindliche Bullerbü-Prägung | |
| Und was? Vielleicht cremeweiße Leinenkissenbezüge, zum Augenverbinden, | |
| vielleicht hölzerne Wäscheklammern, die an verschiedenen Körperstellen | |
| befestigt werden können. Vielleicht die dazugehörige Wäscheleine aus | |
| Hanfseil, die, weil sie so rau ist, nur ganz sanft um die Gelenke | |
| geschlungen wird. Ich denke mir das alles aus, selbstverständlich, denn | |
| sicher besitzt hier in der Nachbarschaft niemand Leinenwäsche, geschweige | |
| denn dass man sie an hanfenen Wäscheleinen trocknen würde. Ich denke mir | |
| das aus, weil meine Fantasien in diesem Moment ganz offenbar unmittelbar | |
| aus einer frühkindlichen Bullerbü-Prägung heraus gespeist werden. | |
| Aber ich möchte mir eben gerne ausdenken, dass diese Leute da drüben ihrs | |
| gefunden haben. Ihr Ding, ihren intimen Code, den sie hervorzaubern, wenn | |
| die Kinder nicht zu Hause sind. Den sie vielleicht sogar hervorzaubern, | |
| wenn sie zu Hause sind. Heimlich. Eine Wäscheklammer auf dem Kopfkissen. | |
| Ein Blick. Kichern. Ich denke mir das aus, weil ich mir für die Leute da | |
| drüben wünsche, dass sie so etwas pflegen. Und weil es mich ein bisschen | |
| tröstet, zu denken, dass hinter allen Wänden kinky Menschen ihre kleinen | |
| Schachteln haben. | |
| Und während ich so träume, muss ich mich auf einmal fragen, wie viel | |
| Geschrei sich die Leute da drüben eigentlich von meiner Seite her anhören | |
| müssen. | |
| 29 May 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Weissenburger | |
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