# taz.de -- Die Gesellschaft in der Coronakrise: Wirologie statt Virologie | |
> Würde man ein Virus nach dem Sinn des Lebens fragen, würde es antworten: | |
> ich. Die Antwort auf eine erkrankte Gesellschaft kann nur sein: wir. | |
Bild: Die Welt neu gestalten, dafür sollten wir in der Corona-Krise werben | |
Treffen sich zwei Planeten. Fragt der eine: Und, wie geht’s so? Sagt der | |
andere: Ach, nicht so gut, ich hab Mensch! Der eine dazu: Du, nicht so | |
schlimm, hatte ich auch schon, das geht vorüber!“ Die Verbindung dieses | |
Witzes mit der Coronapandemie ist ebenso naheliegend wie ernüchternd: Haben | |
oder sind wir die Krankheit? Und wie tödlich wird ihr Ausgang sein? | |
Aktuell präzisiert sich diese Frage bei manchen eher auf dies: Reagieren | |
PolitikerInnen übertrieben vorsichtig auf diese Krise? [1][Wie viele der | |
Schutzmaßnahmen] sind oder waren tatsächlich sinnvoll und notwendig und wie | |
lange noch werden sie es bleiben? | |
[2][„Ich will, dass ihr in Panik geratet!“] Greta Thunbergs Appell vom | |
vergangenen Herbst hat sich in der Anfangszeit der Corona-Epidemie | |
eingelöst, zumindest teilweise. Aktuell streitet Deutschland, ob die | |
Vorgaben der Politik sinnvoll, notwendig und angemessen waren oder | |
unzulässige Versuche staatlicher Kontrolle und Übergriffigkeit darstellen. | |
Was jedoch weiterhin verblüfft, ist die Kluft zwischen dem beherzten | |
Durchgreifen der Politik in der Coronakrise und den im Vergleich dazu | |
völlig inadäquaten Schutzmaßnahmen vor den Folgen des Klimawandels. | |
Offenbar ist die klimabedingte Todesbedrohung für die meisten weiterhin zu | |
abstrakt und langfristig. Die Pandemie mutet nun aber wie die Kulmination | |
apokalyptischer Szenarien an: Die letzten Sommer und nun auch schon dieses | |
Frühjahr sind gezeichnet von drastischen Dürrephasen – Landstriche | |
versteppen, Wälder veröden gezeichnet von Hitze, Feuer und Borkenkäfer. | |
Auch im Amazonas und in Australien haben Brände bislang unvorstellbaren | |
Ausmaßes gewütet. Zeitgleich brechen Gletscher und ewiges Eis weg. Das | |
Sterben von Insekten und Bienen ist ebenso erschreckend wie die biblisch | |
wirkenden [3][Heuschreckenplagen in Ostafrika]. Die biblische Apokalypse | |
scheint der Realität nur wenig nachzustehen. | |
## Wie können wir uns schützen? | |
Quer durch alle Zeiten und Jahrhunderte mussten Menschen und Gesellschaften | |
einen Umgang mit lebensbedrohlichen Seuchen finden. Und quer durch alle | |
Zeiten und Jahrhunderte geht und ging es dabei immer wieder um die | |
Kernfragen: Wo kommt das her, was genau ist es? Wieso trifft es uns? Was | |
können wir tun, um uns zu schützen? | |
Früher wurde Krankheit als Fluch der Götter aufgefasst, manchmal als | |
Heimsuchung böser Geister, Dämonen oder Hexen, manchmal auch als ein Fluch | |
missgünstiger Anderer. Die menschliche Auseinandersetzung mit dem | |
Krankheitsschicksal als qualvolle Frage nach dem „Warum geschieht dies mir | |
oder uns?“ erhielt in diesen Deutungsmustern überschaubare Antworten, die | |
Handlungsempfehlungen schon in sich trugen: Dämonen, Geister, Hexen und | |
Götter wahlweise besänftigen oder vertreiben, Rückkehr zu gottesfürchtigem | |
Wohlverhalten und zu reichlichen Opfergaben. Die Pestsäulen in vielen | |
Innenstädten Zentraleuropas erzählen bis heute davon. | |
Diagnose und Ursachenklärung sind im Laufe der Jahrhunderte nüchterner | |
geworden und beschränken sich heute auf die von den Naturwissenschaften zu | |
Verfügung gestellten Geschichten. Wir hören von aggressiven Viren, die uns | |
auf Tröpfchen reisend erobern und niederringen – Luftgeister? Piraten? Das | |
hat auch etwas Märchenhaftes. Dabei sind wir mit dem Bild des Viralen ganz | |
real vertraut und fühlen uns in der Welt einer immunologischen Metaphorik | |
längst zu Hause: In der digitalen Ansteckung geht jeder von uns täglich mit | |
Virenbedrohungen um. Nicht nur, dass Verschwörungstheorien „viral“ gehen. | |
Anti-Viren-Programme erinnern bei jedem Einschalten von Computer oder | |
Laptop an die Gefahr eines plötzlichen Komplett-Absturzes. Die jahrelange | |
Auseinandersetzung mit digitalen Viren hat vertraute Bedrohungsszenarien | |
geschaffen, die sich nun im Körperlichen zu bestätigen und zu reproduzieren | |
scheinen: „Firewall“-Maßnahmen gegen eine Viruspandemie waren nicht so | |
unvertraut, wie es heute, nach ersten Eindämmungsmaßnahmen, vielleicht | |
scheinen will. Auch die Feuer in Australien vor wenigen Monaten – | |
inzwischen schon wieder weitgehend in Vergessenheit geraten – sollten | |
übrigens mittels Gegenfeuerschneisen eingedämmt werden. | |
## Sind Viren Lebewesen? | |
Sich auf die Logik und Metaphorik der Viren tiefer einzulassen, birgt | |
spannende Parallelen und könnte auch [4][den Hang zu | |
Verschwörungserzählungen] erklären. Denn die Wissenschaft streitet | |
weiterhin darüber, ob Viren als Lebewesen anzusehen sind oder nicht: | |
merkwürdige Zwitterwesen zwischen lebendiger und toter Materie, gleich | |
Scheintoten aus einem Fantasy-Roman. Diese scheintoten oder | |
scheinlebendigen Viren sind radikal parasitär: sich selbst nicht vermehren | |
könnend, da sie keinen eigenen Stoffwechsel besitzen, übernehmen sie die | |
Steuerung des Stoffwechsels einer Wirtszelle. Und dann nur noch ein | |
Programm: Vermehrung! Wachstum! | |
Würde man ein Virus nach dem Sinn des Lebens fragen, würde es wohl | |
antworten: ich. Das auf grenzenloses Wachstum angelegte Prinzip ist | |
Ausdruck seines hochmanipulativen Egoismus. Das Virus braucht kein | |
Gegenüber mehr, das einverstanden wäre, sich mit ihm zusammen zu vermehren. | |
Das Virus braucht keine Beziehung. Es benutzt. Es ist neoliberal: „And, you | |
know, there’s no such thing as society“, hat es Margaret Thatcher | |
paraphrasiert. Es geht nicht mehr um Einverständnis und sexuelle | |
Vereinigung, sondern um Übernahme. Zudem besteht die perfide Anpassung des | |
Virus in seiner absichtslosen Variabilität, indem bei der Replikation | |
seiner selbst zufällig Fehler auftreten. Die fehlerhafte Kopie meiner | |
selbst kann kommende neue Wirtszellen sogar noch besser für mein | |
Vermehrungsprogramm manipulieren. | |
Egoismus ist Grundvoraussetzung für das kapitalistische Prinzip – das | |
während der Pandemie-Höchstkurve vorübergehend zwar ausgehebelt wurde, aber | |
vermutlich ja nur deswegen, weil Kapital letztlich auf lebendige | |
Konsumenten angewiesen ist – Tote konsumieren nicht. Das Prinzip Egoismus | |
begegnete uns auch in der Coronakrise schamlos und unverhohlen: Donald | |
Trump schreibt auf die von der US-Regierung ausgegebenen Schecks seinen | |
eigenen Namen – und könnte damit seine Wiederwahl sichern. Aus | |
Krankenhäusern gestohlene Desinfektionsmittel und Schutzmasken sind ebenso | |
Ausdruck des Ich-Prinzips wie die gefälschten Webseiten in verschiedenen | |
Bundesländern für Corona-Schutzschirm-Bedürftige. General Motors weigerte | |
sich im März, auf den Bau von Beatmungsgeräten umzuschwenken: wegen zu | |
geringen Gewinnspannen. | |
Was nun nötig scheint, ist eine neue Wirologie. Brüderlichkeit, | |
Schwesterlichkeit als Gegenmodell zu Ausbeutung und egoistischem Wachstum; | |
Neuausrichtung zu solidarischeren Lebensformen, kurz: Wie können wir | |
überleben, wie wollen wir leben? Die Beantwortung dieser Fragen beginnt mit | |
der Bereitschaft innezuhalten. Im Zurückgeworfensein auf das Selbst tritt | |
die Bedeutung der Beziehungen und das, was sie sozial und kulturell belebt, | |
plötzlich glasklar hervor. | |
## Können wir noch ein wenig träumen? | |
Die Theaterregisseurin Susanne Kennedy wirbt gerade [5][auf der Website des | |
Goethe-Instituts] für ein neues Verständnis der „Inkubationszeit“. Denn d… | |
„incubatio“ wird im Lateinischen als Tempelschlaf bezeichnet, bei der ein | |
Kranker das Heiligtum eines Gottes aufsucht in der Hoffnung, durch des | |
Schlafes Traum einen Hinweis auf eine wirksame Therapie seiner Krankheit zu | |
erhalten. | |
Könnten wir alle die Gelegenheit nutzen, noch ein wenig zu träumen? Könnte | |
es um eine Erweiterung der gedachten Möglichkeitsräume gehen – Wachstum in | |
eine ganz andere Richtung? Und könnten wir die Inkubationszeit als Ansporn | |
verstehen, zu ändern, was wir sowieso schon längst ändern wollten? | |
Die Zeit scheint überreif, mit dem Träumen, aber auch mit einer vertieften | |
gesellschaftlichen Diskussion über unsere Träume loszulegen. Und dann nicht | |
bei der Diskussion zu bleiben, sondern auf allen notwendigen Ebenen auch | |
ins Handeln zu kommen: politisch, wirtschaftlich und bürgerlich. Dann käme | |
der eingangs zitierte Witz zu einem anderen Ausgang: „Treffen sich zwei | |
Planeten. Fragt der eine: Und, wie geht’s so? Sagt der andere: Ach, nicht | |
so gut, ich hab Mensch! Der eine dazu: Du, nicht so schlimm. Am Anfang | |
Panik und Fieber, Ängste, Wahnvorstellungen. Aber seitdem es vorbei ist, | |
fühl ich mich wie neugeboren.“ | |
27 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Schutz-gegen-das-Coronavirus/!5666035 | |
[2] /Klimaaktivistin-bei-Weltwirtschaftsforum/!5568222 | |
[3] /Heuschreckenplage-in-Ostafrika/!5653666 | |
[4] /Verschwoerungsmythen-und-Corona/!t5015225 | |
[5] https://www.goethe.de/ins/ar/de/kul/sup/dan/21825093.html | |
## AUTOREN | |
Vera Kattermann | |
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