| # taz.de -- Schrittweise Rückkehr ins Leben: Pendelbier am Ausgabefenster | |
| > Gleichermaßen erleichtert, widerstrebend, skeptisch und doch | |
| > hoffnungsfroh beginnt man, wieder nach draußen zu gehen. | |
| Bild: Was die riesige Buddha-Statue kann, können viele Deutsche schon lange ni… | |
| Langsam schleicht der Prä-Corona-Alltag wieder heran. In zerhackstückter | |
| Form. Ich beäuge ihn gleichermaßen erleichtert, widerstrebend, skeptisch, | |
| hoffnungsfroh. In der Freiberufler-Bürogemeinschaft sind wieder | |
| Schreibtische besetzt. Manche haben zu tun, manche recherchieren | |
| Umschulungsmöglichkeiten. Ab Montag darf das Schulkind an drei Tagen pro | |
| Woche für drei Stunden wieder in die Schule. | |
| Das Vorschulkind kann auch wieder in die Kita, für vier Stunden pro Tag. | |
| Kita- und Schul-Slot überschneiden sich zwischen 12.10 und 12.30 Uhr. Ha, | |
| 20 Minuten Me-Time, 20 Minuten konzentriertes Arbeiten für beide | |
| Elternteile, Wahnsinn! Dass dafür das brutale Diktat der gebotenen | |
| Pünktlichkeit und der ständige Blick auf die Uhr wieder als Stressoren auf | |
| den Plan treten: schaffen wir auch noch. | |
| Es häufen sich die Verabredungen zum abendlichen Spazierengehen. Man trifft | |
| sich auf einer Kanalbrücke, schaut in den Maihimmel und in die endlich | |
| üppig grünen Baumkronen, holt sich an den neuen Pop-up-Ausgabefenstern der | |
| Kneipen Getränke, wandert herum und nennt es Walk and Talk. Am boudoirrot | |
| erleuchteten Fenster des lieben Club49 bekommt man „Frisch Gezapftes to Go“ | |
| und ein Kärtchen, auf das pro Bier ein Pinguin gestempelt wird. Für zehn | |
| Stempel gibt’s einen Kurzen gratis. | |
| ## Zu Posh Teckel in der Pflügerstraße | |
| Da wir „bitte nicht herumlungern“ sollen, nehmen wir die | |
| „#pendelbier“-Anregung auf und marschieren zum Posh Teckel auf der | |
| Pflügerstraße. Immer hin und her, bis zum zehnten Pinguin, so verstehen wir | |
| das Konzept. Aber als wir beim Teckel ankommen, hat der schon zu, | |
| Trottoir-Ausschank nur zwischen 17 und 21 Uhr erlaubt. | |
| Aus einem vorbeifahrenden BMW schallt Türk-Pop. Vom Rückspiegel baumeln | |
| selbst genähte Mund-und-Nasen-Masken. Das Gefühl von: Riss in der | |
| Oberfläche der Wirklichkeit. Ein verunsicherter Blick in den nächsten BMW, | |
| in zweiter Reihe parkend. Der Wunderbaum, da ist er wieder! Die | |
| Wirklichkeit ruckelt sich zurecht. | |
| Unter der U-Bahn am Görlitzer Bahnhof türmen sich die heruntergerissenen | |
| Plakate der zurückliegenden oder nie stattgefunden habenden Veranstaltungen | |
| zu meterhohen Schneewehen. Die Litfaßsäule am Heinrichplatz leuchtet weiß. | |
| Allein der Außenwerber wirbt für Plakatwerbung und ruft: „Jetzt buchen!“ | |
| Ein einsamer Aufkleber darunter grölt: „Angst ist das gefährlichere Virus!�… | |
| ## Unvernunft lugt aus allzu vielen Ecken | |
| Ein Schrieb an der Tür zum Esoterik-Bedarfsladen am Platz salbadert | |
| passgenau: Mit Maske atme man sein eigenes CO2 ein, nehme keinen Sauerstoff | |
| mehr auf, belüfte die Lungen nicht, werde so erst recht krank und ginge | |
| „unnötig in die Angst“. Von daher trüge man in diesem Geschäft keine Mas… | |
| In der LPG fordert die Verkäuferin am Brotstand einen älteren Mann auf, die | |
| Maske aufzuziehen. | |
| Er weigert sich. So dürfe sie ihn leider nicht bedienen. Der Mann knallt | |
| seinen vollen Einkaufskorb auf den Boden und verlässt den Laden. Die | |
| Unvernunft lugt aus allzu vielen Ecken und Winkeln, der Wahnsinn grinst | |
| schief, es wird unheimlich da draußen, es gibt nur noch brave Vermummte und | |
| genussvoll unbedeckte Provokateure. Deppen. | |
| Als mir am Mittwoch mit Schulranzen behängte Erstklässler | |
| entgegengaloppieren, freue ich mich. Der akut von Verdrängung bedrohte | |
| Buchladen Kisch & Co. auf der Oranienstraße träumt in der Auslage | |
| schwarzhumorig von einer Zeit nach dem Kapitalismus. Angebrochen aber ist | |
| eine andere Zeit, ein anderes Danach. | |
| Ich verliere den Glauben daran, dass es besser werden könnte als das Davor. | |
| Dann sehe ich auf Facebook, wie Frank Zander als „Frontschwein“ und | |
| „Schultheiss-Kiezkneipenretter“ jeweils einen Tausender an darbende Kneipen | |
| verteilt, unter anderem an den Posh Teckel. Hoffnung kehrt zurück. | |
| 15 May 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Kirsten Riesselmann | |
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