Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Roman über Fotografin Gerda Taro: Zwischen Streiken und Tanzen
> Helena Janeczeks Roman „Das Mädchen mit der Leica“ ist eine Hommage an
> die Fotografin Gerda Taro – und ein komplexes Zeitpanorama.
Bild: Alltag im Untergrund: Gerda Taro im französischen Exil, 1936
Am 1. August 1937 zieht ein riesiger Trauerzug durch Paris. Gerda Taro, die
als Kriegsfotografin auf der republikanischen Seite den Spanischen
Bürgerkrieg dokumentiert und der Weltöffentlichkeit sichtbar gemacht hat,
ist im Einsatz von einem Panzer überrollt worden. Die Kommunistische Partei
Frankreichs richtet ein Ehrenbegräbnis aus, Zehntausende nehmen Abschied.
Der Tag der Beerdigung wäre Taros 27. Geburtstag gewesen.
Gerda Taro, die es wirklich gab, steht seit Jahrzehnten im Schatten ihres
berühmteren Kollegen und [1][Lebensgefährten: Robert Capa]. Seit ein paar
Jahren taucht sie hier und da auf, mal in eher kitschigen Büchern, mal in
Indie-Popsongs wie Alt-Js „Taro“. Vereinzelt wurden ihr kleine
Ausstellungen gewidmet.
Helena Janeczek, die 1964 in München geboren wurde und seit 35 Jahren in
Italien lebt und schreibt, stellt mit ihrem jetzt auf Deutsch erschienenen
Roman „Das Mädchen mit der Leica“ Gerda Taro in den Mittelpunkt eines
packenden und komplexen Romans.
In drei großen Teilen, gerahmt von zwei reflexiven Kapiteln, erzählt der
Roman von Taros Leben: von ihrer Herkunft aus einer polnisch-jüdischen
Kaufmannsfamilie im gemütlichen Stuttgart, von ihrer Leipziger Zeit, wo sie
sich als Studentin um 1930 ins Bohemeleben stürzt und in linke Kreise
eintaucht; von nächtlichen Flugblattaktionen und Verhaftungen nach der
Machtübergabe 1933, von der Flucht nach Paris, wo Taro in prekären
Emigrant*innenkreisen endgültig die Fotografie für sich entdeckt und Capa
kennenlernt.
Erzählt wird nicht chronologisch, sondern durch den Blick dreier Menschen,
die Taro zu verschiedenen Zeiten nahe waren und sich, zum Teil Jahre
später, an die Freundin erinnern: Der frühe Verehrer Willy Chardack, der
1960 inzwischen als Wissenschaftler in den USA lebt und gerade den
Herzschrittmacher mit entwickelt. Ruth Cerf, Taros engste Freundin und
Mitbewohnerin, die 1938, ein Jahr nach Gerdas Tod, als Assistentin das
Atelier des kreuzunglücklichen Robert Capa betreut. Georg Kuritzkes, zu
Leipziger Zeiten mit Gerda liiert, der Faschismus und deutsche Besatzung in
Italien überlebt hat und 15 Jahre nach Kriegsende bei der noch jungen
UN-Welternährungsorganisation in Rom gelandet ist.
## Eine Frau, die tanzen geht
Aus den bruchstückhaften, assoziativ verknüpften Erinnerungen der Freunde
entsteht das Bild dieser Frau, deren Geburtsname eigentlich Gerta Pohorylle
ist: selbstbewusst, charmant, lebenshungrig, eigensinnig. Eine Frau, die
tanzen geht und sich umschwärmen lässt, die aber auch mit den
Salonkommunisten in Leipzig energisch über Brechts „Kuhle Wampe“
diskutiert. Gerda im Untergrund, die mit Humor allzu bedrückende
Situationen aufzulockern versteht, die aber auch schroff sein kann, nahe
Menschen vor den Kopf stößt und verletzt.
Es ist Taros Idee und ihr vielleicht größter Coup, sich in Paris zusammen
mit dem aus Ungarn geflohenen André Friedmann griffigere Pseudonyme
zuzulegen und das Erfolgsduo Taro und Capa in die Welt zu setzen. Ihren
Ehrgeiz als Fotografin verknüpft sie mit dem ziemlich furchtlosen Willen,
in der Welt etwas zum Besseren zu drehen, und geht als erste Frau als
[2][Kriegsreporterin nach Spanien].
Janeczeks Roman geht aber weit über die Figur Gerda Taro hinaus. Um sie
herum entsteht ein ganzes Zeitpanorama. „Das Mädchen mit der Leica“ ist
auch ein Roman über den Lebensalltag um 1930 zwischen Streikposten und
Tanzlokalen; über weibliche Solidarität, über Verhütung und eine Abtreibung
im Untergrund; über das über Europa verstreute Netzwerk der Emigration,
Fluchtversuche mit dem Fahrrad und Schiffspassagen nach Übersee.
Erzählt wird vom Weiterwirken von Verfolgung und Flucht im Alltag der
Überlebenden und (hier aus Willys Perspektive) von der bleibenden Bedeutung
geteilter Erfahrungen. Namen wie Aragon, Brandt, Cartier-Bresson und einige
andere tauchen als Nebenfiguren auf. Nicht zuletzt ist es ein Buch über die
Geschichte und Bedeutung der Fotografie im 20. Jahrhundert.
## Mechanismen des Erinnerns
Das mag im Roman auch mal ein kleiner Schlenker zu viel sein. Im Ganzen ist
es der Autorin aber beeindruckend gelungen, das enorme Material ihrer
jahrelangen Recherchen so scheinbar leichtfüßig zu verknüpfen und zu
plastischen Figuren und Szenen zu verdichten, dass man als Leser*in gerne
folgt.
Mit der gebrochenen Struktur des Romans, die die Mechanismen des Erinnerns
widerspiegelt, hält Janeczek zugleich bewusst, dass hier nicht
dokumentarisch Wirklichkeit abgebildet wird, sondern literarische Fantasie
am Werk ist.
So entsteht eine kluge Hommage, ein dicht gewobenes Zeitbild, von Verena
von Koskull mit Tiefenschärfe ins Deutsche übertragen.
18 May 2020
## LINKS
[1] /Robert-Capa-in-Leipzig/!5320503
[2] /Widerstandskampf-gegen-Franco/!5366448
## AUTOREN
Hartmut Burggrabe
## TAGS
Literatur
Fotografie
Exil
Modefotografie
Kriegsfotografie
## ARTIKEL ZUM THEMA
Mode und fotografische Inszenierung: Himmelblaues Haar
Er gilt als der erste professionelle Modefotograf der Welt. Jetzt bekommt
Adolphe Baron de Meyer eine Ausstellung im Allgäu. Und eine Monografie.
Bilder von Kriegsfotografinnen: Wir Weltempfänger aus Beton
Gibt es einen weiblichen Blick auf Krieg? Diese Idee ist absurd. Was wir
aus der Ferne verlangen müssen, ist, den Alltag zu sehen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.