# taz.de -- Buch über den Umbruch der NS-Zeit: Ein verlorenes Land | |
> Der US-Schriftsteller Thomas Wolfe hat zwischen 1926 und 1936 immer | |
> wieder Deutschland bereist. Seine Texte sind spannende literarische | |
> Zeitdokumente. | |
Bild: Missbrauchtes Fest: Nationalsozialisten bei der Eröffnung der XI. Olympi… | |
Thomas Wolfe wurde nur 37 Jahre alt. Zwei Romane zu Lebzeiten, zwei weitere | |
posthum, das war’s, dann noch Bände mit Erzählungen, Briefen, aufgegebenen | |
Versuchen, Bruchstücken – was sich halt im Leben eines Autors ansammelt. | |
Und Wolfes Leben war verdammt kurz. Um seine Tuberkulose medizinisch in den | |
Griff zu bekommen, war der Autor eindeutig zu früh geboren. | |
Wäre es noch ein wenig weitergegangen, hätte er, nach seinem bisherigen | |
Tempo zu schließen, unzählige weitere Werke geschrieben. Wo dies geendet | |
hätte? Mit dem Literaturnobelpreis, davon war der erste US-Träger der | |
begehrten Auszeichnung, Sinclair Lewis, bereits überzeugt, als Wolfe noch | |
in den Zwanzigern war. | |
Wie kann es sein, fragen sich die Leser, dass mehr als acht Jahrzehnte nach | |
dem Tod eines Autors immer noch Bücher von ihm erscheinen? Tatsächlich gibt | |
es Gründe dafür. Wolfe, stets sich des nahenden Endes bewusst, hinterließ | |
der Nachwelt einen ansehnlichen literarischen Steinbruch. Sich daraus zu | |
bedienen erfordert neben einer feinen Spürnase und profunder Kenntnis des | |
Gesamtwerks auch die Bereitschaft eines Verlags, den Lesern auch sperrigere | |
Lektüren zuzumuten. | |
Oliver Lubrich ist mit der Edition der aus Wolfes reichem Fundus | |
geschöpften Deutschlandreise ein vorzügliches Buch gelungen. Es beschreibt | |
keine Reise am Stück – so viel Zeit stand Wolfe in keiner Phase seines | |
kurzen Lebens zur Verfügung –, sondern sechs Etappen. „Literarische | |
Zeitbilder 1926–1936“ lautet der Untertitel. | |
## Keine Berührungsängste | |
Um Wolfe zu lesen, muss man sich auf ihn einlassen. Sein Stil ist wenig | |
einheitlich, seine Herangehensweise die eines Touristen, sein Blick | |
manchmal durch Vorurteile getrübt und sein Urteil nicht um Neutralität | |
bemüht. Wolfe, niemandem verpflichtet und ganz ohne Berührungsängste, | |
liefert ein wunderbar authentisches Stück Zeitgeschichte ab. Was nicht | |
heißt, dass er ungefiltert alles wiedergibt. | |
Mit dem gesunden Misstrauen eines liberalen, freiheitsliebenden US-Bürgers | |
schildert er viele Deutsche, denen er begegnet, als grob, stiernackig und | |
gleichzeitig autoritätshörig. „Geradezu leitmotivisch“, schreibt Wolfes | |
Lektor im Nachwort, „durchziehen seine Aufzeichnungen diverse Bemerkungen | |
über ‚Nacken‘, ‚Dreifachnacken‘ und ‚Duellnarben‘, ‚Hunnenkopf�… | |
‚Hunnenschädel‘, und ‚Hunnenhelm‘, ‚Hunnenchauffeur‘ und ‚Hunnen… | |
die ‚fetten, gewissenlosen Gesichter‘, ‚die Deutschen in ihrer | |
unerfreulichsten Erscheinungsform‘.“ | |
Bald macht Wolfe seinen Frieden mit den Deutschen, was auch der Entwicklung | |
geschuldet ist, die er im letzten Lebensjahrzehnt durchlebt. Es ist nicht | |
durchgängig eine positive, und manchmal erschrickt der Autor über sich | |
selbst. Nicht nur den Deutschen hält Wolfe den Spiegel vor, auch dem | |
eigenen Ich. | |
Ein weiterer Vorzug des Buchs, gerade in dieser Zusammenstellung: Zum einen | |
lässt sich einiges über die Entwicklung Deutschlands von der Weimarer | |
Republik bis zur kompletten Durchdringung der Gesellschaft mit braunem | |
Gedankengut herauslesen, zum anderen zeigt es die Veränderung des deutschen | |
Heterostereotyps weg vom tumben Hunnen hin zum harmlos-gemütlichen | |
Saufkumpan, die ja nicht nur bei Wolfe anklingt, sondern bei zahlreichen | |
Ausländern, die zu jener Zeit im Nazireich unterwegs waren und sich | |
beeindruckt zeigten. | |
## Wie sie das Land sahen | |
Hier lohnt der Vergleich mit einem weiteren anglophonen Autor: Patrick | |
Leigh Fermor („Die Zeit der Gaben“) hatte Deutschland 1934 durchquert, zu | |
Fuß und am Stück, und auch er wusste, wie Wolfe, einiges Positives über | |
seine Bewohner zu berichten, ohne seine Distanz zur Naziideologie | |
aufzugeben. | |
Ein drittes Werk, das in den Kontext passt, ist Oliver Hilmes’ | |
Olympiadebuch „Berlin 1936“. Der Autor arbeitet fein heraus, wie es den | |
meisterhaft regieführenden Gastgebern gelungen war, sich und ihr Land | |
während der gut zwei Wochen im August nicht nur der Jugend der Welt, | |
sondern auch den internationalen Berichterstattern und Multiplikatoren zu | |
präsentieren, die dann in rosigen Farben schilderten, was eine gut geölte | |
Propagandamaschine ihnen vorsetzte – eine Disziplin, in der Diktaturen | |
schon immer besondere Talente entwickelten. | |
Wolfes letzter Deutschlandbesuch datiert von ebenjener Berliner | |
Imageinszenierung. Auch er lässt sich blenden, doch bleiben ihm Zweifel. | |
Zwischen Volk und Regierung zu unterscheiden, wie Fermor es noch häufig | |
getan hat, fällt Wolfe am Ende nicht mehr so leicht. Das Buch beschließt | |
eine Geschichte, „Nun will ich Ihnen etwas sagen“, rund um einen | |
antisemitischen Vorfall an der Grenze zu Belgien. | |
Es ist dieselbe Grenze, an der Wolfe bei einem früheren Übertritt die | |
Vorzüge der Deutschen gegenüber ihren Nachbarn gerühmt hatte. Nun kommt | |
Wolfe zu einem ganz anderen Schluss. In einer Mischung aus Wehmut und | |
Erleichterung stellt er fest, „ich war ‚draußen‘ aus jenem Land, das für | |
mich so viel mehr als ein Land, so viel mehr als ein Ort gewesen war. Es | |
war die Wunschgegend des Herzens. Es war ein dunkles Seelenwunder, ein | |
betörendes Zauberreich.“ Vor allem war Deutschland, so sein Fazit, „für | |
mich verloren“. | |
Thomas Wolfe starb am 15. September 1938. Er musste nicht mehr miterleben, | |
wie zwei Wochen später die Westmächte Hitler ein letztes Mal auf den Leim | |
gingen und auf der Münchner Konferenz die Tschechoslowakei, die einzig | |
verbliebene Demokratie in Mitteleuropa, für einen „Frieden für unsere Zeit�… | |
opferten, der nicht mal ein Jahr halten sollte. | |
28 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Ralf Höller | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Schriftsteller | |
Holocaust | |
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