# taz.de -- Sprache in Corona-Krise: Die überbenutzte „Systemrelevanz“ | |
> Zu Beginn der Krise war es wichtig: Das Etikett „systemrelevant“ für | |
> bestimmte Tätigkeiten. Aber es hat an Schärfe verloren. Wir brauchen ein | |
> neues. | |
Bild: Systemrelevant ist hier untertrieben: Corona-Intensivstation im Universit… | |
In diese Suppe der Systemrelevanz möchte ich heute – aus sprachlicher Sicht | |
– mal gehörig reinspucken. Die Aufwertung bestimmter Berufe mit dem | |
Adjektiv [1][„systemrelevant“] ist nämlich eine Illusion. | |
Zugegeben: eine Illusion, die wir gerne glauben möchten. Ihr Zauber beginnt | |
jedoch bereits jetzt zu verfliegen, wie aktuelle Titelzeilen zeigen. „Ist | |
Amazon jetzt systemrelevant?“ (ARD, 20. 4.). „Bundesweite Aktion: | |
‚Gebäudereiniger sind systemrelevant‘“ (handwerksblatt, 16. 4.). | |
„Freischaffende Künstler sind systemrelevant“ (Tagesspiegel, 16. 4.). | |
„Corona-Krise: Elektrohandwerke sind systemrelevant“ (handwerksblatt, 31. | |
3.). | |
Um den Anwendungsbereich des Wortes ist geradezu ein semantischer Kampf | |
ausgebrochen, wenn man solche Titelzeilen gegenüberstellt: „Corona: | |
Bestatter werden systemrelevant“ (Sächsische Zeitung, 4. 4.) | |
beziehungsweise „Bestatter sind ‚nicht systemrelevant‘“ (Nordwest-Zeitu… | |
13. 4.). Mittlerweile fühlen sich auch Buchhändler und Fensterreiniger | |
systemrelevant. Und es stimmt, schaut man mit der System-Brille auf eine | |
Gesellschaft, ist in der Tat so ziemlich alles und jeder relevant. | |
Denn „systemrelevant“ heißt, für ein System bedeutsam zu sein. Diese | |
Definition ist so breit, sie gilt am Ende [2][sogar für den Sprachkritiker | |
in der taz], denn er gibt den Menschen ja Orientierung, damit sie nicht | |
bösen Worten zuhören und Falsches weiterverbreiten. Will sagen: Das Wort | |
„systemrelevant“ ist binnen kürzester Zeit inflationär geworden. Es hat | |
seinen Anwendungsbereich so ausgedehnt und kann mittlerweile alles und | |
nichts bedeuten. | |
## Mehr als bloß systemrelevant | |
Damit verfliegt jedoch die Aufwertung der eingangs benannten Berufsgruppen | |
völlig. Es war eine schöne Illusion. | |
Die Systemtheorie lehrt uns: Gesellschaften sind auch nur Systeme. Und sie | |
vergisst manchmal: Gesellschaften bestehen aus Individuen. Wer wirklich an | |
der Aufwertung von Menschen interessiert ist, die unserer Daseinsfürsorge | |
dienen, dem sei ein anderes Framing empfohlen. Der Fortbestand einer | |
Gemeinschaft als System hängt in erster Linie vom Überleben der Individuen | |
ab. | |
Das heißt: Überlebenssicherheit kommt vor Systemrelevanz. Einige der | |
betroffenen Berufe sind nämlich überlebenswichtig und nicht nur | |
systemrelevant. Will man Berufe aufwerten, die uns am Leben halten, müssen | |
wir erst mal begreifen: Leben sticht System und nicht andersherum. | |
24 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Eric Wallis | |
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