# taz.de -- Coronavirus in Singapur: Kontrollverlust im Musterland | |
> Singapur hat bei der Bekämpfung des Coronavirus seine Arbeitsmigranten | |
> „übersehen“. Wo sich 20 Personen ein Zimmer teilen, breitet sich das | |
> Virus aus. | |
Bild: Vor einem der Megawohnheime für Arbeitsmigranten in Singapur | |
BERLIN taz | Als Südostasiens höchstentwickelter Staat stand das | |
wohlhabende Singapur auch während der Coronapandemie zunächst wie ein | |
Musterland da. Schnell bekam die Regierung des Stadtstaates von der Größe | |
Hamburgs die Ausbreitung des Virus unter Kontrolle. Wochenlang wurden kaum | |
mehr als 200 Fälle gemeldet. Doch plötzlich stiegen die Zahlen. Jetzt ist | |
der kleine Staat an der Südspitze der malaiischen Halbinsel mit 9.125 am | |
Dienstag gezählten Infizierten Spitzenreiter in Südostasien – noch vor den | |
wesentlich größeren Ländern Indonesien und Philippinen. | |
Am Dienstag meldete das Gesundheitsministerium 1.111 neue Fälle. Darunter | |
sind aber nur 20 singapurische Staatsbürger oder Personen mit | |
Daueraufenthaltsrecht, alle anderen sind Arbeitsmigranten. Am Montag war | |
mit 1.427 Neuinfizierten eine Rekordzahl gemeldet worden, darunter 1.369 | |
Arbeitsmigranten. | |
Die billigen Arbeitskräfte aus Süd- und Südostasien, deren Zahl im | |
5,6-Millionen-Einwohner-Land auf 800.000 geschätzt wird und ohne die in | |
Singapur nichts geht, machen jetzt mehr als Dreiviertel aller Infizierten | |
aus. | |
Unter den Arbeitsmigranten konnte sich das Virus schnell verbreiten, denn | |
200.000 von ihnen wohnen in Heimen, darunter 43 Megaheime mit mehreren | |
Tausend Bewohnern. Dort teilen sich bis zu 20 Personen einen Schlafsaal und | |
noch mehr Menschen Küchen und sanitäre Einrichtungen. „Soziale Distanz“ i… | |
dort unmöglich. Auch suchen Arbeitsmigranten aus Angst vor Jobverlust | |
ungern Ärzte auf. | |
## Megaheime sind Megaproblem | |
Inzwischen räumen die Behörden ein, dass es in mehr als der Hälfte der | |
Megaheime, wo laut Entwicklungsminister Lawrence Wong meist Bauarbeiter | |
untergebracht sind, bestätige Coronafälle gibt. 18 dieser Heime wurden | |
inzwischen zu Quarantänelagern erklärt, welche die Bewohner nicht verlassen | |
dürfen. | |
Nach Meinung von Hilfsorganisationen werden die Bewohner damit aber noch | |
größeren Risiken ausgesetzt. Die Regierung hat die Versorgung mit | |
Lebensmitteln und Lohnfortzahlungen zugesagt. Einige Heime wurden evakuiert | |
und die Bewohner in Militärlagern und in einem Messegelände untergebracht. | |
In allen Quarantänezentren wird regelmäßig auf das Virus getestet und die | |
gesamte Einrichtung desinfiziert. | |
Laut Premierminister Lee Hsien Loong, dem Sohn des singapurischen | |
Staatsgründers [1][Lee Kuan Yew], hat die große Mehrzahl der Infizierten in | |
Singapur nur leichte Symptome. Das liegt auch daran, dass die | |
Arbeitsmigranten in der Regel noch jung sind und keine Vorerkrankungen hat. | |
## Wenige Todesfälle | |
Bisher zählt Singapur nur insgesamt elf Coronatote und gehört damit zu den | |
Staaten Südostasiens mit der geringsten Todesrate. Das ist auf Singapurs | |
gutes Gesundheitssystem zurückzuführen. | |
Die Weltgesundheitsorganisation spricht zwar jetzt von „sehr schwierigen | |
Herausforderungen“, erklärt aber zugleich, dass der Stadtstaat sowohl über | |
das zur Überwindung der Krise nötige Gesundheitssystem als auch über die | |
notwendigen Kapazitäten verfügt. | |
Singapur hatte wegen der anfänglichen Erfolge in der Bekämpfung des Virus | |
erst am 7. April Ausgangsbeschränkungen verhängt. Doch am Dienstag hat der | |
Premierminister sie bis zum 1. Juni verlängert. Eine Maskenpflicht gilt | |
seit dem 15. April. | |
Es erstaunt, dass die autoritäre Regierung, die sonst nichts unkontrolliert | |
lässt, die Situation der Migranten zunächst so vernachlässigt hat. Eine | |
Erklärung dafür könnte die Arroganz der mehrheitlich chinesischstämmigen | |
Elite der Finanz- und Handelsmetropole gegenüber dunkelhäutigen | |
Arbeitskräften aus armen Nachbarstaaten sein, wie sie in dem von Hollywood | |
verfilmten gleichnamigen Roman „Crazy Rich Asians“ des US-Singapurers Kevin | |
Kwan thematisiert wird. | |
Die Pandemie unterstreiche die Notwendigkeit, bessere Bedingungen für | |
Arbeiter zu schaffen, sagt Alex Au von der Migrantenhilfsorganisation | |
[2][TWC2]: „Das Problem ist das gesamte Wirtschaftsmodell Singapurs. Unser | |
Wohlstand ist auf der Voraussetzung oder der Erwartung billiger Arbeit | |
aufgebaut“. | |
21 Apr 2020 | |
## LINKS | |
[1] http://xn--Tod%20eines%20elitren%20Besserwissers-3vc | |
[2] https://twc2.org.sg/ | |
## AUTOREN | |
Sven Hansen | |
## TAGS | |
Singapur | |
Arbeitsmigration | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Singapur | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Singapur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Parlamentswahl in Singapur: Regierungspartei verliert Stimmen | |
Die Volksaktionspartei von Ministerpräsident Lee Hsien Loong bleibt | |
weiterhin die stärkste politische Kraft in dem Stadtstaat. Und doch musste | |
sie Einbußen hinnehmen. | |
Waldbrände in Indonesien: Regenwälder gehen in Rauch auf | |
Auf Sumatra und Borneo brennt der Wald – für mehr Platz für | |
Palmölplantagen. Das führt selbst in Malaysia und Singapur zu | |
Atemproblemen. | |
Die schönsten Steueroasen (5): Eine Stadt mit ramponiertem Ruf | |
Singapur galt stets als sicherer Hafen für unversteuerte Gelder. Dieses | |
Image will der Stadtstaat abschütteln – mit fragwürdigen Erfolgsaussichten. | |
Kommentar Singapur: Unsouveräne Reaktion | |
Der britische Journalist und Singapur-Kritiker Alan Shadrake sitzt in Haft | |
wegen eines Buches. Seine einzige Hoffnung ist es, dass sein Fall sehr viel | |
Aufmerksamkeit bekommt. |