# taz.de -- Ultraorthodoxe Juden in Israel: Kontaktloses Pessachfest | |
> Corona breitet sich rasant in Israels ultraorthodoxen Gemeinschaften aus. | |
> Doch langsam nehmen auch die Strengreligiösen das Virus ernst. | |
Bild: Polizisten befragen einen orthodoxen Juden in Bnei Brak bei Tel Aviv | |
TEL AVIV/BNEI BRAK taz | In diesem Jahr blickt Yakov Eisenthal dem höchsten | |
jüdischen Fest mit Sorgen entgegen. „Pessach macht mir Angst in dieser Zeit | |
von Corona“, sagt er mit leiser Stimme am Telefon. „Ich bin dafür | |
verantwortlich, meiner Familie etwas Besonderes zu bieten, aber ich weiß | |
nicht, wie.“ Mit seiner vierköpfigen Familie lebt Eisenthal in Bnei Brak, | |
einer Stadt, die an die Metropole Tel Aviv grenzt. Fast alle in Bnei Brak, | |
95 Prozent, gehören unterschiedlichen ultraorthodoxen Gemeinden an. | |
Israels Orthodoxe leben in ihrer eigenen Welt. Sie benutzen koschere Handys | |
ohne oder mit gefiltertem Internetzugang, besuchen eigene religiöse | |
Schulen, oft ohne Kernfächer wie Mathematik oder Fremdsprachen, folgen | |
ihrem eigenen religiösen Gerichtssystem und haben eigene | |
Kommunikationskanäle. Wie andere orthodoxe Städte und Stadtviertel ist auch | |
Bnei Brak zu einer Hochburg der Corona-Pandemie geworden. Jeder dritte | |
Getestete in Bnei Brak ist positiv, die Infektionsrate ist hier fünfmal | |
höher als im Rest des Landes. | |
In Israels Krankenhäusern ist etwa die Hälfte der | |
Coronapatient*innen ultraorthodox, dabei machen die Haredim, wie sie | |
auf Hebräisch heißen, nur 12 Prozent der Bevölkerung aus. Insgesamt sind | |
mittlerweile über 6.000 Israelis infiziert, 31 sind gestorben. Das ist | |
vergleichsweise wenig, denn Israel hat früh drastischen Maßnahmen | |
getroffen, um das Virus einzudämmen. In den ultraorthodoxen | |
Gemeinschaften aber wurden sie nur zögerlich und mit zweiwöchiger | |
Verspätung umgesetzt. | |
Unter normalen Umständen würden kurz vor Pessach, das am kommenden Mittwoch | |
beginnt, die Bürgersteige von Bnei Brak vor Menschen bersten, die noch die | |
letzten Einkäufe machen. Dieses Jahr trifft man nur den einen oder anderen | |
Mann mit Schläfenlocken oder vereinzelte Frauen mit langem Rock und | |
Perücke, die noch die letzten Dinge besorgen: Mazza, das ungesäuerte Brot, | |
Eier, koscheren Wein und Gemüse. | |
An den Haupteinfahrtstraßen kontrollieren mittlerweile Polizeibeamte die | |
Pässe derjenigen, die nach Bnei Brak fahren. Vor einer Woche sah das noch | |
ganz anders aus. Lange ignorierte Bnei Brak die drastischen | |
Corona-Maßnahmen des Gesundheitsministeriums. Als andere Israelis schon | |
nicht mehr die Häuser verließen, verkündeten die Rabbis weitgehend unisono, | |
dass das Studium der Tora weitergehen müsse und die religiösen Schulen | |
nicht geschlossen würden. Bnei Braks Bürgermeister Abraham Rubinstein | |
feierte vergangene Woche sogar noch die Hochzeit eines Familienmitglieds | |
vor seinem Haus. Hunderte tanzten dort Arm in Arm. | |
Anders als die meisten aus seiner „Shul“, seiner Synagoge, nutzt Eisenthal, | |
der Herausgeber der jüdischen Zeitschrift Zman ist, das Internet. Er wusste | |
früh, was mit dem Coronavirus auf Israel zukommen würde, und hörte auf das | |
Gesundheitsministerium. Schon seit einem Monat verlassen Eisenthal und | |
seine Familie das Haus nur noch zum Einkaufen. Seine Nachbarn, Freunde und | |
Kollegen jedoch folgten den Rabbis und schickten ihre Kinder weiter zur | |
Schule. „Es herrscht in unserer Community [1][tiefes Misstrauen gegenüber | |
den staatlichen Institutionen]“, erklärt er das Verhalten der anderen, | |
„erst vor Kurzem ist ihnen schockartig klar geworden, dass das Virus | |
tödlich sein kann.“ | |
Das Umdenken in Bnei Brak hängt wohl auch damit zusammen, dass | |
Bürgermeister Rubinstein und seine Frau positiv getestet wurden. „Dies ist | |
der Moment, an dem wir Stopp sagen müssen“, verkündete Rubinstein am | |
vergangenen Freitag aus der Quarantäne. Am selben Abend noch fuhren Autos | |
mit Lautsprechern durch die Straßen und riefen die Anwohner*innen auf, | |
zu Hause zu bleiben. | |
## Familienfeiern sind verboten | |
„Die größte Herausforderung ist nun Pessach“, erklärt Gilad Malach, der … | |
Israelischen Demokratieinstitut in Jerusalem das Programm „Ultraorthodoxe | |
in Israel“ leitet. Pessach beginnt mit dem Sederabend, zu dem normalerweise | |
die gesamte Großfamilie zusammenkommt. Doch das ist in diesem Jahr | |
verboten. Hält sich die Bevölkerung nicht daran, könnte dies fatale Folgen | |
haben. | |
Während die Zahlen der Infektionen in den vergangenen Wochen in Israels | |
orthodoxen Gemeinschaften immer rapider anstiegen, verfasste Malach für das | |
Gesundheitsministerium und die Polizeibehörden ein Papier zum Umgang der | |
Ultraorthodoxen mit dem Coronavirus. „Für die Ultraorthodoxen“, erklärt e… | |
„müssen jetzt sehr genaue Regeln und Verhaltensweisen erstellt werden, die | |
die religiösen Führer in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium | |
entwickeln.“ Es sei beispielsweise eine jüdische Tradition, vor Pessach | |
sämtliche Lebensmittel aus gesäuertem Teig, Chametz genannt, zu verbrennen, | |
was normalerweise auf zentralen Plätzen mit vielen Leuten gemacht wird. | |
„Wie kann das anders gestaltet werden?“, fragt Malach. | |
Einige Richtlinien hat das Oberrabbinat bereits erlassen: Videokonferenzen | |
zum Sederabend sind verboten. Diese würden gegen das jüdische Gesetz | |
verstoßen. „Die Einsamkeit ist schmerzhaft und wir müssen eine Lösung daf�… | |
finden“, verkündete das Oberrabbinat. | |
Israels Gesundheitsminister Yakov Litzman, der selbst einer der | |
konservativsten ultraorthodoxen Gemeinden angehört und vor zwei Wochen noch | |
den Messias als Mittel gegen Corona ins Feld geführt hatte, rät seit Anfang | |
dieser Woche zu rigorosen Maßnahmen und empfahl sogar, Bnei Brak | |
abzuriegeln. Am Donnerstag wurde bekannt, dass Litzman selbst positiv auf | |
das Coronavirus getestet wurde. Von einer Abriegelung Bnei Braks will | |
Bürgermeister Rubinstein aber nichts wissen. „Verwandelt Bnei Brak nicht in | |
ein Ghetto“, fordert er. „Eine Abriegelung wird die Krankheit nicht | |
heilen.“ | |
Ob abgeriegelt oder nicht: Der Sederabend am kommenden Mittwoch wird wohl | |
der traurigste Auftakt zum Pessachfest seit Langem werden – für Eisenthal | |
und die Ultraorthodoxen in Bnei Brak wie für die meisten Juden auf der | |
Welt. | |
2 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Judith Poppe | |
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