| # taz.de -- Coronavirus im Iran: Spätes Einsehen | |
| > Nach China und Italien ist der Iran am schwersten von Corona betroffen. | |
| > Für das Regime, das zu zögerlich reagiert hat, könnte das Folgen haben. | |
| Bild: Feuerwehrleute desinfizieren eine Straße in Teheran | |
| Berlin taz | Mehr als 1.000 Tote und 17.000 Corona-Infizierte im Iran: Das | |
| sind die offiziellen Zahlen, die das Gesundheitsministerium in Teheran am | |
| Mittwoch bekannt gab. Damit hat das Land nach China und Italien die meisten | |
| Opfer zu beklagen. Fast 6.000 Personen seien allerdings auch wieder | |
| geheilt. | |
| Doch den offiziellen Angaben vertraut weder die WHO noch die iranische | |
| Bevölkerung. Selbst Parlamentsvizepräsident Massud Pesekian hält sie nicht | |
| für realistisch. „Wir haben nicht alle Kranken getestet“, sagt er in einem | |
| Interview mit Ensaf News. Und warnt: Die Kapazität der Krankenhäuser sei | |
| längst erschöpft. „Die Lage wird von Tag zu Tag kritischer. Die Wirtschaft | |
| wird zusammenbrechen, es sei denn, wir greifen hart durch. Es ist nicht | |
| mehr zu spaßen.“ | |
| Unterdessen hat Präsident Hassan Rohani alle Iraner aufgefordert, während | |
| der Neujahrsferien zuhause zu bleiben. Der Iran feiert am Freitag das | |
| persische Neujahrsfest. Um Reisen in die Provinzen zu verhindern, sperrte | |
| die Polizei die Autobahnen und Landstraßen im Land. | |
| Doch die Staatsführung reagiert zu spät und hat nur zögerlich Maßnahmen zur | |
| Bewältigung der Seuche ergriffen. In den ersten Wochen hatte es keinerlei | |
| Informationen über das Virus gegeben. Offenbar sollte die Mobilisierung der | |
| Massen zum Jahrestag der Revolution am 12. Februar sowie die | |
| [1][Parlamentswahl am 21. Februar] ungestört vonstatten gehen. | |
| Erst nachdem sich das Virus landesweit verbreitet hatte, begann die | |
| Regierung ernsthaft tätig zu werden, versäumte aber selbst dann noch, die | |
| erforderlichen Schritte zu vollziehen. Der Flugverkehr zwischen Iran und | |
| China wurde trotz Kritik aus der Bevölkerung nicht eingestellt. So kamen | |
| mehrere hundert Theologiestudenten aus China in die Pilgerstadt Ghom – mit | |
| dem Ergebnis, dass Ghom zum Corona-Epizentrum im Iran wurde. | |
| Pilgerorte gesperrt | |
| Obwohl die Zahl der Toten und Infizierten täglich rapide anstieg, ließen | |
| die konservativen geistlichen Instanzen nicht zu, dass Freitagsgebete, | |
| Moscheebesuche und andere religiöse Rituale, an denen Zehntausende | |
| teilnehmen, untersagt wurden. Erst Anfang dieser Woche wurde der Zugang zum | |
| Imam-Resa-Mausoleum in Maschhad für Besucher gesperrt. Millionen Pilger | |
| besuchen es jährlich. Auch Pilgerfahrten zum Fatima-Masuma-Schrein in Ghom | |
| und zu weiteren beliebten Pilgerstätten wurden untersagt. | |
| Am Montagabend stürmte eine Menschenmenge, angestachelt von radikalen | |
| Islamisten, die Innenhöfe des Mausoleums in Maschhad und des Schreins in | |
| Ghom. „Wir sind hier, um zu sagen, dass Teheran verdammt falsch liegt, das | |
| zu machen“, schrie ein Geistlicher in Maschhad. | |
| Wochenlang hatte die Staatsführung versucht, die Krankheit als harmlos | |
| darzustellen. Noch Anfang März bezeichnete Revolutionsführer Ali Chamenei | |
| das Corona-Virus als ein „Missgeschick, das nicht so groß ist“. „Ich will | |
| nicht das Problem kleinreden, aber wir sollten auch nicht übertreiben“, | |
| sagte er. „Es wird nicht lange dauern, dann wird es verschwinden.“ | |
| Auch Präsident Rohani hatte sich noch Ende Februar gegen die Schließung von | |
| Kindergärten, Schulen und Universitäten ausgesprochen. Bis zum 10. März | |
| werde der Spuk vorbei sein, versprach er. | |
| Corona als Bio-Terrorismus | |
| Andere im Iran hängen Veschwörungstheorien an. Corona sei keine „normale | |
| Krankheit“, sondern ein „bio-terroristisches Mittel“, das in China und Ir… | |
| verbreitet worden sei, behauptete Heschmatollah Falahat Pisheh, Mitglied | |
| des Ausschusses für Nationale Sicherheit und Außenpolitik. Er schlug vor, | |
| nach dem Vorbild des Raketenprogramms zur Verteidigung des Landes auch ein | |
| Programm gegen Bio-Terrorismus ins Leben zu rufen. | |
| Demgegenüber gestand Resa Maleksadeh, einer der Stellvertreter des | |
| Gesundheitsministers, die Regierung habe die Lage anfänglich falsch | |
| eingeschätzt. „Lange haben wir das Corona-Virus mit Influenza verwechselt | |
| und daher zu spät gehandelt“, sagte er. „Wir haben es versäumt, die Flüge | |
| nach China einzustellen und die Grenzen zu schließen. Unsere engen | |
| Wirtschaftsbeziehungen zu China und die große Zahl der Iraner, die sich in | |
| China aufgehalten hatten, haben die Ausbreitung der Krankheit verursacht.“ | |
| Mittlerweile hat Rohani auf Vorschlag von Chamenei die Leitung eines | |
| Corona-Krisenstabs übernommen. Nach der ersten Sitzung kündigte er an, dass | |
| die Streitkräfte im Kampf gegen Corona verstärkt eingebunden würden. | |
| Zugleich sprach er sich gegen eine Sperrung von Städten wie Ghom aus. | |
| Obwohl die Führung in Teheran inzwischen den Ernst der Lage begriffen zu | |
| haben scheint, sieht es nicht so aus, als hätte sie die Lage im Griff. In | |
| den Krankenhäusern fehlen Handschuhe, Masken und Schutzkleidung, so dass | |
| zahlreiche Ärzte und Bedienstete selbst infiziert worden sind. Auch ist das | |
| Land immer noch nicht in der Lage, überall Tests durchzuführen. | |
| Korruption, Sanktionen und jetzt Corona | |
| Wirtschaftlich hat die Seuche die ohnehin bestehende Krise im Iran | |
| erheblich verschärft. Neben den harten US-Sanktionen gegen das Land und der | |
| weit verbreiteten Korruption hat der drastische Fall der Ölpreise die Lage | |
| erheblich verschlimmert. Am 12. März bat die Regierung den Internationalen | |
| Währungsfonds (IWF) um einen Notfallkredit in Höhe von fünf Milliarden | |
| US-Dollar. | |
| Außenminister Mohammad Dschawad Sarif forderte die USA auf, ihre „Kampagne | |
| des wirtschaftlichen Terrorismus“ zu beenden. In einem Schreiben an | |
| UN-Generalsekretär António Guterres beklagte er, dass die USA den Iran | |
| weitgehend hindern würden, Öl zu exportieren. Auch sei es aufgrund der | |
| US-Sanktionen beinahe unmöglich, Medikamente und medizinische Ausrüstung zu | |
| importieren. | |
| Noch dramatischer aber ist die politische Krise im Land. Zwar hat die | |
| Corona-Pandemie die Ereignisse der letzten Monate überschattet: das brutale | |
| Vorgehen gegen Demonstranten im November, bei dem unterschiedlichen Quellen | |
| zufolge zwischen einigen hundert und 1.500 Menschen getötet wurden, der | |
| [2][Abschuss der ukrainischen Passagiermaschine] im Januar, der drei Tage | |
| lang vertuscht wurde, und nicht zuletzt die manipulierte Parlamentswahl, | |
| bei der Konservative und Hardliner die absolute Mehrheit bekamen. | |
| Die Pandemie hat aber das vorhandene Misstrauen gegen die Staatsführung | |
| sowie das gesamte politische System weiter vertieft. Die Menschen trauen | |
| dem Regime nicht, sie versuchen sich gegenseitig zu helfen. Initiativen | |
| sammeln Spenden und versuchen, die Versäumnisse der Regierung wettzumachen. | |
| Noch gefährlicher für die herrschende Theokratie ist der spürbare | |
| Vertrauensverlust der religiösen Instanzen in der Bevölkerung. Für das | |
| Regime könnte all das schwerwiegende Folgen haben. | |
| 18 Mar 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Parlamentswahl-im-Iran/!5665648 | |
| [2] /Flugzeug-Absturz-bei-Teheran/!5655128 | |
| ## AUTOREN | |
| Bahman Nirumand | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Iran | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Libyen | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| taz.gazete | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Aus Le Monde diplomatique: Tödliche Sanktionen in Iran | |
| Die Corona-Krise trifft Iran besonders heftig. Dazu trägt auch das von den | |
| USA verhängte Einfuhrverbot für medizinisches Material bei. | |
| Corona in Italien: Trauriger Weltrekord | |
| In Italien steigen die Zahlen der Infizierten und der am Virus Verstorbenen | |
| rasant. Doch es gibt Zweifel, ob die staatlich erhobenen Daten zuverlässig | |
| sind. | |
| Corona in Libyen: Ein Gegner mehr | |
| Das Bürgerkriegsland ist auf die Pandemie unvorbereitet, muss aber jetzt | |
| damit umgehen. Vor allem die Flüchtlinge sind schutzlos. | |
| Hilfsarbeiterin über Corona in Syrien: „Zehn Familien teilen ein Bad“ | |
| Idlib ist teilweise abgeschottet von der Außenwelt, aber nicht komplett. | |
| Ein Corona-Ausbruch wäre eine Katastrophe, sagt Caroline Anning. | |
| Coronavirus in der Türkei: Der erste offizielle Fall | |
| Am Dienstag wurde die erste Corona-Infektion in der Türkei bestätigt. Zuvor | |
| fragten sich viele, wie das Land bis dahin vom Virus verschont geblieben | |
| war. |