| # taz.de -- Neues Album von U.S. Girls: Beschädigung als Leitwährung | |
| > Meg Remy macht mit ihrem Bandprojekt U.S. Girls und dem neuen Album | |
| > „Heavy Light“ eine Gratwanderung: eingängige Popsongs und düstere Texte. | |
| Bild: Große Augen: Meg Remy U.S. Girls-Mastermind | |
| Ein Frau, die sich zu Tode trinkt – mit dem Geld, das sie durch Überstunden | |
| erschuftet hat; eine andere Frau, vielleicht die Tochter, die am Grab steht | |
| und nicht glauben kann, dass sie nichts von dem Siechtum mitbekommen hat – | |
| diese deprimierende Geschichte erzählt der Song „Overtime“ von U.S. Girls. | |
| Außerdem auf ihrem neuen Album „Heavy Light“ zu finden: Ein Zitat von | |
| Martin Luther King, das U.S.-Girls-Mastermind Meg Remy in einen neuen | |
| Kontext stellt. Der Bürgerrechtler hatte einst festgestellt, man müsse erst | |
| mal „boots“ haben, „to pull oneself up by one’s own bootstraps“ – d… | |
| Redensart bedeutet so viel wie „sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf | |
| ziehen“. | |
| Besonders hohl wirken solche neoliberale Erbauungsformeln vor dem | |
| Hintergrund, dass diejenigen, die Geld haben, heute mehr denn je dieses für | |
| sich arbeiten lassen, indem sie es von einer Offshore-Bank zur anderen | |
| verschieben. Warum also nicht aus diesem Teufelskreis aussteigen? Die | |
| Protagonistin in dem Song „4 American Dollars“ findet, dass man nicht mehr | |
| zum Leben brauchen sollte als die besagten vier Kröten. Zwischendurch immer | |
| wieder Stimmen von Menschen, die laut über ihre Kindheit nachdenken, über | |
| Verletzungen, die sie erlitten haben. Oder auch, was sie ihrem jugendlichen | |
| Selbst mit auf den Weg geben würden. | |
| ## Vielstimmige Collagen | |
| Diese vielstimmigen Spoken-Word-Collagen fungieren als Stolpersteine auf | |
| „Heavy Light“. Wäre da nur die Musik, könnte man glatt vergessen, dass man | |
| es mit der neuesten Veröffentlichung aus dem ständig morphenden | |
| U.S.-Girls-Universum zu tun hat. Wie vielleicht kein anderes an Wohlklang | |
| interessiertes Popprojekt der Gegenwart fokussiert die 34-jährige Meg Remy | |
| auf Abgründe: Mit einer No-Bullshit-Attitüde seziert sie unsere Lebenswelt, | |
| mit kühlem Blick und einem Händchen für dramatische Zuspitzung. „Heavy | |
| Light“ ist nun aber eingebettet in einen besonders zugänglichen Sound. Es | |
| dominiert ein im Geist der Siebziger getränkter sinfonischer | |
| Discopop-Entwurf, der Bowie in seiner „Young Americans“-Phase, aber auch | |
| Bruce Springsteen zitiert. | |
| Lange war U.S. Girls das Soloprojekt von Meg Remy, einer in Toronto | |
| lebenden US-Amerikanerin, die seit zwölf Jahren experimentellen Pop | |
| veröffentlicht. Zunächst machte sie introspektive Bedroom-Soundcollagen, | |
| die oft nach Selbstgespräch klangen. Über die Jahre nahm die | |
| Vielstimmigkeit zu und mit ihr der Pop-Appeal – das Vorgängeralbum „In a | |
| Poem Unlimited“ war 2018 ein Highlight. | |
| Für „Heavy Light“ sind U.S. Girls auch im Studio zu dem geworden, was sie | |
| auf der Bühne längst sind: ein buntes Kollektiv – wenngleich Remy in puncto | |
| Songtexte verantwortlich zeichnet. Sie sind zugleich das | |
| Alleinstellungsmerkmal dieses Albums, sozusagen die Widerhaken im Groove. | |
| „Overtime“, die abgründige Grabrede, etwa kommt als schön schwingende | |
| Plastic-Soul-Nummer daher (inklusive tollem Saxofon-Solo von | |
| E-Street-Bandmitglied Jake Clemons). Der Auftaktsong „4 American Dollars“ | |
| beschenkt HörerInnen gleich mit einem geschmeidigen Mantra: „I don’t | |
| believe in pennies / And nickels and dimes and / Dollars and pesos / And | |
| pounds and rupees / And yen and rubles. No dinero!“ | |
| ## Traumata und Trauer | |
| Derartige Selbstvergewisserung allerdings bleibt die Ausnahme. Letztlich | |
| wirkt „Heavy Light“ wie ein Musical über Beschädigungen. Per Mail aus | |
| Kanada erklärt Meg Remy: „Meine Hauptinspirationen sind Traumata und | |
| Trauer. Gefolgt von der Popmusik der 1950er und 60er Jahre, Büchern, | |
| Gedichten, Träumen und Tanzen.“ Aussagen von Mail-Interviews lassen wenig | |
| Spielraum für Nuancen und Selbstironie, doch schwarz auf weiß wirkt diese | |
| Auflistung etwas seltsam. | |
| Auch angesichts dessen, dass die Konzerte, die Remy mit Mitgliedern des | |
| psychedelischen Funk-Jazz-Kollektivs The Cosmic Range auf die Bühne bringt, | |
| geradezu ekstatische Qualität haben. Wie bringt sie die Text-Musik-Schere | |
| für sich zusammen, wie geht sie mit dem Widerspruch um, der in den Songs | |
| steckt: „Ich versöhne, indem ich unversöhnt bleibe. Es gibt keine Regeln.“ | |
| Zumindest als Nicht-Muttersprachler wird es einem leicht gemacht, | |
| Abgründiges auszublenden, so leicht und luftig, wie ihre Worte sich durch | |
| die Melodien schlängeln. | |
| Der Titel „Heavy Light“, erklärt Remy, sei einem Zitat von Franz Kafka | |
| geschuldet: „A belief is like a guillotine. Just as heavy, just as light.“ | |
| Ein elegantes Bild, schließlich sind die Narrative, mit denen Menschen sich | |
| die Welt erklären, einerseits wirkmächtig; andererseits ist es immer wieder | |
| ein Leichtes, sich vorzustellen, was alles anders sein könnte. In diesem | |
| Spannungsfeld bewegt sich auch das Album. „Heavy Light“ wirkt | |
| introspektiver als die Vignetten, mit denen Remy bislang ihre sozialen | |
| Welten aus weiblicher Sicht beschrieb, auch wenn drei Songs | |
| Neuinterpretationen alter Stücke sind. | |
| „Lange Zeit habe ich versucht, Musik über Frauen zu machen. Damit habe ich | |
| letztlich alle Frauen in eine Schublade gesteckt. In guter Absicht zwar; | |
| aber mit einigem Recht hat man mich darauf aufmerksam gemacht, dass ich | |
| nicht für alle sprechen kann – und das auch gar nicht versuchen sollte.“ | |
| Trotz des persönlichen Fokus ist „Heavy Light“ thematisch breiter | |
| aufgestellt. Es geht hier immer noch um die Zumutungen unseres | |
| Gesellschaftssystems im Allgemeinen, des Kapitalismus im Konkreten. Aber | |
| eben darum, dass die menschliche Existenz auf Widersprüchen fußt, die sich | |
| nicht einfach auflösen lassen, für die es keine politische Lösung gibt. | |
| „Ich gIaube nicht, dass es beim Leben um Fairness geht. Unsere eigene | |
| Geburt ist der ursprüngliche nicht einvernehmliche Akt. Wie unfair, auf die | |
| Welt gebracht zu werden! Nur weil jemand anders das für eine gute Idee | |
| hält. Was für einen Menschen gerecht wirkt, kann für einen anderen unfair | |
| sein.“ Ein kleines Plädoyer für einvernehmliches Leben schiebt sie | |
| allerdings hinterher: „Empathie ist immer das beste Werkzeug, um mit jenen | |
| Paradoxa umzugehen.“ Was könnte besser Empathie erzeugen als | |
| glücksstiftende Momente, wie sie zumindest im Klanggewand von „Heavy Light“ | |
| stecken. | |
| 26 Mar 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Stephanie Grimm | |
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