| # taz.de -- Coronavirus und individuelle Freiheit: Risiko Mitbürger | |
| > Wir sind ständig Risiken und einer Gefährdung durch andere ausgesetzt. | |
| > Seit Corona könnte sich die Frage nach individueller Freiheit neu | |
| > stellen. | |
| Bild: Eine leere Tribüne im Neuenburger Fußballstadion in der Schweiz | |
| Wir wissen nicht viel über das Risiko, sich mit dem [1][Coronavirus zu | |
| infizieren]. Wie wahrscheinlich ist es, sich anzustecken? Wie tödlich ist | |
| das Virus? Ist es in erster Linie für Vorerkrankte gefährlich oder kann es | |
| jeden hinwegraffen? Diese unbeantworteten Fragen machen es schwer, das | |
| Risiko einzuschätzen, und diese Situation führt zu hoher Unsicherheit unter | |
| Bürgern. | |
| Psychologen haben schon lange erforscht, wie schwierig es selbst für sehr | |
| rational ausgerichtete Menschen ist, angesichts von ungewissen Daten | |
| Entscheidungen zu treffen. Die nun ausbrechenden [2][panikartigen | |
| Reaktionen mit Hamsterkäufen] und [3][Fußballspielen vor leeren Rängen] | |
| sind insofern keinesfalls völlig unberechtigt. Ein politisch pikanter | |
| Aspekt der Coronavirus-Epidemie ist die Tatsache, dass die Gefährdung des | |
| eigenen Lebens nicht von der Umwelt, sondern direkt durch andere Menschen | |
| dargestellt wird. Das Risiko ist tatsächlich der Mitbürger. Ist meine | |
| Kollegin infiziert? Der Sitznachbar im Theater hustet so auffällig; zeigt | |
| er bereits Symptome? | |
| Üblicherweise akzeptieren wir Gefährdungen durch andere, beispielsweise | |
| wenn Mitbürger ein Auto benutzen, mit dem sie uns überfahren könnten. Wir | |
| lassen solche Gefährdungen zum einen zu, weil wir die Risiken einschätzen | |
| und in einem gewissen Ausmaß auch kontrollieren können, zum anderen, weil | |
| uns die damit verbundenen Aktivitäten hinreichend wertvoll erscheinen. In | |
| einem Wort, wir schützen die individuelle Freiheit, auch wo sie zu Risiken | |
| für andere führt. | |
| Was aber, wenn wir das Risiko, das andere für uns darstellen, nicht | |
| einschätzen können? Wie weit wollen wir in einem solchen Falle gehen? | |
| Tatsächlich sind ja derzeit weltweit viele Menschen in ihrer Freiheit | |
| beschränkt worden, indem sie unter Quarantäne gesetzt wurden. Ist das | |
| akzeptabel? Natürlich ist die Isolation von Bürgern, die eine gefährliche, | |
| ansteckende Krankheit haben, keineswegs unüblich und meist völlig | |
| berechtigt. | |
| ## Wesentliche Informationen fehlen | |
| Doch im Falle des hämorrhagischen Fiebers – um ein Beispiel zu nennen, bei | |
| dem die Quarantäne in Deutschland gesetzlich geregelt ist – kennen wir das | |
| verbundene Risiko für die infizierte Person und andere Menschen. Wir können | |
| hier also die Gefahrenlage einschätzen und entsprechend rationale | |
| Entscheidungen treffen. | |
| Was aber ist angemessen im Falle des Coronavirus, wo uns wesentliche | |
| Informationen fehlen? Aktuell wurde beispielsweise gegenüber vielen | |
| Mitbürgern sogenannte häusliche Quarantäne angeordnet. Bekannt wurde auch | |
| der Fall der Hotelgäste auf Teneriffa, die ihre Unterkunft nicht verlassen | |
| dürfen. Ist eine solche radikale Maßnahme angesichts des derzeitigen | |
| Informationsstands tatsächlich angemessen? | |
| Wie gesagt, Entscheidungen unter Unsicherheit sind schwierig und vielleicht | |
| nicht gerade die stärkste Disziplin der menschlichen Vernunft. Insofern | |
| mögen uns die Maßnahmen durchaus angemessen erscheinen. „Better safe than | |
| sorry“, wie der Brite sagt. Gleichwohl bleibt hier ein deutliches | |
| Unbehagen, insbesondere in den möglichen Auswirkungen auf den zukünftigen | |
| Umgang mit Risiken, die andere Bürger darstellen. | |
| Angesichts des derzeitigen Vorgehens könnte es beispielsweise angezeigt | |
| erscheinen, grippal infizierte Menschen zu isolieren, um vorerkrankte | |
| Mitbürger zu schützen. Bekanntlich führt das Grippevirus regelmäßig zu | |
| einigen Todesfällen. Wo wir dann einmal angefangen haben, sollten wir | |
| vielleicht nicht aufhören: Der schniefende und hustende Sitznachbar im Zug | |
| sollte sofort aus dem Zug verwiesen werden angesichts des Risikos, das er | |
| für meine Gesundheit darstellt; der hochbetagte Autofahrer sollte seinen | |
| Führerschein abgeben. | |
| ## Politische Folgen | |
| Wo soll das enden; wie groß darf das Risiko Mitbürger sein? Anscheinend | |
| sind wir gerade dabei, eine freiheitsminimierende Politik einzuüben, die im | |
| Falle des Coronavirus und der damit verbundenen Sicherheitsideologie | |
| verständlich erscheint, sich aber einprägen könnte. | |
| So könnte ein allzu menschlicher Makel – rationales Handeln unter | |
| Ungewissheit – gravierende politische Folgen zeitigen. Im Falle von | |
| HIV-Infektionen haben wir ein historisch nicht in allzu großer Ferne | |
| liegendes Beispiel, zu welch drastischen Ungerechtigkeiten und | |
| Diskriminierungen panikartige Reaktionen führen können. Es stünde uns gut | |
| an, aus der Geschichte zu lernen und unsere politischen Werte, insbesondere | |
| den Schutz der individuellen Freiheit, nicht von bloßen Ängsten | |
| unterminieren zu lassen. Entscheiden bei mangelndem Wissen mag schwieriger | |
| sein als in Situationen, in denen wir das Risiko kennen. Aber das darf | |
| nicht dazu führen, grundlegende normative Überzeugungen zu opfern. | |
| Woher beziehen wir aber unseren Werterahmen in einer solchen Situation? Wir | |
| haben hier eine ungewöhnliche Gemengelage von individuellen Rechten und | |
| Pflichten sowie gemeinschaftlichen Schutzaufgaben. Hinzu tritt, wie gesagt, | |
| unser eingeschränktes Wissen über Konsequenzen von Handlungsoptionen. Ein | |
| möglicher Bezugsrahmen könnte durch Überlegungen der Public-Health-Ethik | |
| entwickelt werden, also der Disziplin, die sich mit normativen Fragen der | |
| öffentlichen Gesundheitsfürsorge befasst. | |
| ## Ungesichertes Gebiet | |
| Quarantänemaßnahmen und der Umgang mit Infektionskrankheiten sind nun | |
| [4][keineswegs moralisches oder rechtliches Neuland.] Doch die | |
| grundsätzliche Justierung von Freiheits- und Gesundheitsschutz ist normativ | |
| weithin ungesichertes Gebiet. In welcher Weise politisch zu agieren sein | |
| sollte, ist zudem durch gesellschaftliche Verhältnisse geprägt. All dies | |
| gilt es in Zukunft näher zu untersuchen, insbesondere dann, wenn die | |
| derzeitige Panik verflogen ist, die unsere Vernunft verdunkelt. | |
| Immerhin wissen wir, dass Gesundheit ein zentrales Gut darstellt, das in | |
| seiner Bedeutung für Individuen und Gemeinschaften geschützt werden sollte. | |
| Gleichzeitig ist Gesundheit nicht das einzige und wohl auch nicht das | |
| höchste menschliche Gut. Viele Menschen sind bereit, ihre Gesundheit aufs | |
| Spiel zu setzen, um andere Ziele zu verwirklichen. | |
| Gleichwohl, im Falle von ansteckenden Krankheiten setzen wir bisweilen auch | |
| die Gesundheit anderer aufs Spiel. Sind wir nicht als Bürger dafür | |
| verantwortlich, andere in ihren grundlegenden Interessen zu schützen? Wie | |
| weit geht dieser Schutz? | |
| Das Leben anderer zu bedrohen, ist sicherlich nicht ohne Weiteres durch das | |
| Recht auf individuelle Selbstbestimmung gedeckt; hier sind selbst | |
| Schutzmaßnahmen wie die Isolation ansteckender Personen erlaubt. Aber die | |
| bloße Bedrohung der Gesundheit anderer Bürger rechtfertigt gewöhnlich keine | |
| gravierenden Eingriffe in die Freiheit, wie sie durch die Quarantäne | |
| besteht. Demnach sollte das Gemeinwesen einen an Influenza erkrankten | |
| Patienten wohl nicht in seiner Freiheit berauben. | |
| ## Gesundheit als individuelle Pflicht | |
| Interessant bei der Entwicklung der letzten Jahre ist nun die Art und | |
| Weise, wie der gesellschaftlich wahrgenommene Wert der Gesundheit | |
| zugenommen hat. Gesundheit ist heutzutage fast schon eine individuelle | |
| Pflicht geworden – nicht mehr einfach etwas, das es schön ist zu haben, | |
| aber letztlich unverfügbar und schicksalhaft bleibt. Hinzu treten | |
| Erkenntnisse der Sozialepidemiologie, die zeigen, wie stark der | |
| Gesundheitsstatus mit ökonomischem Erfolg interagiert. | |
| Das verändert auch die Wahrnehmung des Risikos Mitbürger. Diese stellen | |
| nicht mehr bloß eine mögliche Gefahr für die eigene Gesundheit dar, sondern | |
| sie sind Konkurrenten, die unsere Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen | |
| könnten. In einer solchen Situation des Wettkampfs um die beste Gesundheit | |
| werden Risiken durch andere sehr viel weniger akzeptiert werden. | |
| Man muss keine große Vorstellungskraft aufwenden, um zu sehen, wo das enden | |
| kann. Die Moralisierung des Rauchens und der Ernährung sind nur der Anfang. | |
| In einigen Jahren werden wir uns gegenseitig moralische Vorwürfe machen, | |
| wenn wir unsere Hände nicht regelmäßig waschen oder uns mit einem Schnupfen | |
| auf die Straße wagen. Das Gesundheitsrisiko für andere zu minimieren, wird | |
| dann zur individuellen Bürgerpflicht. Ob wir damit eine bessere und | |
| gerechtere Gesellschaft erreichen – also unser eigentliches politisches | |
| Ziel –, daran würde ich stark zweifeln. | |
| 4 Mar 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Thomas Schramme | |
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